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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

in der Literaturgeschichte, der Aesthetik, der Prosodie und der Lehre von den poetischen Gattungen einigermaßen heimisch würde. Allein die Frage läßt sich nicht abweisen, inwieweit die allgemeine Bildung neben der künstlerischen Unmittelbarkeit einhergehen kann, ohne sie zu schädigen. Das Wissen und das Können sind nicht selten Feinde; jenes führt nach innen, dieses nach außen. Das Genie vermag sie in sich zu versöhnen, aber das Genie ist spärlich gesäet. Und noch eine weitere Frage taucht auf. Ist es wünschenswerth, daß die Eigenart, die des Schauspielers kostbares Besitzthum ist, auf der Schulbank, wo der Lehrer unmöglich sein Augenmerk auf den einzelnen Zögling wenden kann, vernachlässigt und mit Dutzenden unselbstständiger geistiger Physiognomien sozusagen über den nämlichen Kamm geschoren werde?

Leider ist bis zu einem gewissen Grade auch das Umgekehrte wahr: die Eigenart des Lehrers, der seine Schüler einzeln sich gegenüber hat, erzeugt, wenn sie nachgeahmt wird, eine unwillkommene Einförmigkeit. Das streitet gegen den Vortragsmeister überhaupt und, wie Manche meinen, gegen den Vortragsmeister Strakosch insbesondere. Es giebt Leute, welche es sich nicht wegstreiten lassen, daß Katharina Frank genau so spreche, accentuire und die Worte setze, wie ihr Lehrer Strakosch. Aber kleiner ist das Uebel, daß der Vortragsmeister in so und so vielen Wandlungen über die Bühne schreite, als daß physiognomielose Gestalten, die in der Theaterschule ein Capitel aus der Dramaturgie sich angeeignet haben, die Bretter bevölkern. Der Vortragsmeister bildet, wenn er seines Berufes sich bewußt ist, einen Damm gegen die Ueberschwemmung der Bühne mit unberufenen und ungeeigneten Elementen; die Theaterschule ist im Gegentheil die Brücke, über die hinweg auch die erklärte Untauglichkeit zu den weltbedeutenden Brettern hindrängt. Gestalten wie Garrik und Talma, Ludwig Devrient und Seydelmann, Dawison und Döring haben freilich weder der Theaterschule noch des Vortragsmeisters bedurft, aber für ihres Gleichen ist auch der Vortragsmeister nicht ausgedacht. Er führt die Kleinen den steilen Pfad zur Kunst hinan, und wenn er es versteht, in ihnen eine reine Freude an dieser idealen Wanderung zu wecken so ist er der Vortragsmeister, wie ihn Lessing vorgeahnt hat, und seine Wirkungen sind nachhaltiger als alle Theorie und Unterweisung der Schauspielschule.




Aus vergessenen Acten.

Eine Criminalgeschichte von Hans Blum.

(Fortsetzung).


„Aber Herr Amtsrichter Kern – das nehmen Sie mir nicht übel,“ sagte eben der Bürgermeister. „Sie wollen ein liberaler Mann sein, und sind für die Todesstrafe?“

„Nun, an meiner liberalen Gesinnung ist wohl nicht zu zweifeln, Herr Bürgermeister,“ replicirte der Amtsrichter scharf. „Ich erinnere Sie an Anno Achtundvierzig – wenn auch Manche vom ‚tollen Jahr’ so wenig wissen wollen, als läge es um Jahrhunderte hinter uns, als schrieben wir nicht erst 185 . .“

Der Bürgermeister wurde ein Bischen verlegen, und man lächelte am Tische verstohlen auf Kosten des Gestrengen. Kern stand 1848 an der Spitze der liberalen „deutschen Partei“ in der Residenz. Er war einer der begabtesten jüngeren Richter, und man prophezeite ihm vor dem Revolutionsjahre eine glänzende Carrière. Statt dessen war er nach dem Jahre 1848 aus der Residenz in die kleine Stadt versetzt worden. Die Einen sagten, er habe sich geweigert, gegen einige politisch „Schwergravirte“ wegen Hochverraths einzuschreiten, – diese „Schwergravirten“ hatten das Verbrechen begangen, die Regierung zum Beitritt zur Reichsverfassung und später zum Dreikönigsbündniß Preußens aufzufordern. Andere meinten, seine Versetzung in das Sibirien des kleinen Landes sei die Auszeichnung für seine Thätigkeit in der „deutschen Partei“. Man hörte das Wort „deutsch“ in dem kleinen Staate nicht gern – natürlich nur damals, zu Anfang der fünfziger Jahre. Der Bürgermeister dagegen war durchaus mit der Regierung einverstanden. Er war im Jahre Achtundvierzig liberal, sogar sehr liberal gewesen, gerade wie die Regierung, auch deutschgesinnt, sehr deutsch, wie die Regierung. Gedacht hatte er sich freilich wenig dabei, am wenigsten an Preußen gedacht, gerade wie die Regierung. Er hatte in Anerkennung seiner richtigen Gesinnung die Bürgermeisterstelle erhalten, welche er jetzt verwaltete und welche seit seinem Amtsantritte erheblich günstiger dotirt war, als die Amtsrichterstelle. Der Bürgermeister war aber auch ein feiner Kopf und man prophezeite ihm eine große Carrière – nach dem Revolutionsjahre.

Er zeigte sich auch diesmal dem Amtsrichter im Gespräche überlegen. So meinte er wenigstens. Denn als er das Lächeln bemerkte, das die Anspielung auf seinen Liberalismus hervorrief, wandte er sich wieder zum Amtsrichter:

„Sie sind doch ein Anhänger der deutschen Grundrechte, Herr Amtsrichter?“ fuhr er fort. „Sie hielten noch an ihnen fest, als die Regierung –“

„Die Reichsverfassung brach und verletzte, ja wohl“ – bestätigte der Amtsrichter ruhig. Der Bürgermeister rückte etwas von ihm weg. „Aber ich habe die Grundrechte nicht gemacht, Herr Bürgermeister. Ich achtete und achte sie noch heute lediglich als einen Theil der Reichsverfassung, als ein Stück des gemeinsamen Staatsgesetzes deutscher Nation. Es stand viel Falsches in den Grundrechten; dazu gehörte meiner Ansicht nach auch die Aufhebung der Todesstrafe.“

„Hatten Sie die lebenslängliche Zuchthausstrafe nicht für härter, als die Todesstrafe?“

„Für Unsereinen für einen gebildeten Mann gewiß. Wir werden zehnmal lieber sterben, als uns auch nur ein Jahr in’s Zuchthaus sperren lassen. Aber der gemeine Mörder – für den ich die Todesstrafe erhalten wünsche – steht auf einer so tiefen Stufe der Gesittung, daß seine That mit keiner andern Strafe zu sühnen ist, als mit dem Tode. Wie häufig haben Mörder mit dem Zuchthause schon vorher Bekanntschaft gemacht und sich ganz wohl in demselben befunden! Soll ihnen dann, wenn sie morden, nur dieselbe Strafart wieder zu Theil werden, als wenn sie stehlen?“

„Gut! Aber die Gefahr von Justizmorden? Wie wollen Sie die Hinrichtung eines Unschuldigen wieder gut machen?“ warf der Bürgermeister ein.

„Das ist der einzige Grund, Herr Bürgermeister, den ich überhaupt gegen die Todesstrafe gelten lasse,“ erwiderte Kern. „Obwohl auch dabei viel Sentimentalität im Spiele ist. Denn auch die gegen den Unschuldigen erkannte Zuchthaus- oder Gefängnißstrafe ist ein Justizmord, ein unwiderruflicher, wie die Hinrichtung. Die widerrechtlich geraubten Freiheitstage, die Gemüthsqualen und körperlichen Leiben, die dieser Raub im Gefolge hat, kann Niemand wieder gut machen. Und irren ist menschlich. Es können Justizmorde vorkommen. Der gemeine Mann hält den Justizmord durch das Beil für schlimmer, als den durch die trockene Guillotine des Zuchthauses. So wird man wohl der Weichheit des Jahrhunderts die Todesstrafe opfern. Aber dann müßte ich einen Ersatz verlangen, den Sie schwerlich bewilligen werden, Herr Bürgermeister.“

„Und der wäre?“

„Unbedingt und unwiderruflich lebenslängliche Zuchthausstrafe gegen den Mörder. Die landesherrliche Gnade müßte bei diesem Verbrechen und dieser Strafe durch das Gesetz ein- für allemal ausgeschlossen sein.“

„Wo denken Sie hin, Herr Amtsrichter?“

„Ich will die menschliche Gesellschaft unbedingt sicher stellen gegen den Rückfall des Mörders.“

„Aber nach den bisherigen Erfahrungen hat noch niemals ein begnadigter Mörder von Neuem gemordet,“ erklärte der Bürgermeister.

„Nichts hindert uns, täglich diese Erfahrung zu machen, wenn es bisher daran gefehlt haben sollte.“

„Ein solcher Fall ist aber bis jetzt eben nur ein Erzeugniß Ihrer Phantasie, Herr Amtsrichter.“

„Malen Sie den Teufel nicht an die Wand, Herr Bürgermeister!

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 553. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_553.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)