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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

Wir haben doch dieses Jahr schwere Fälle genug erlebt. Die Minna Grule ist drüben bei Latzig mißhandelt und erwürgt aus dem Korn gezogen worden nach einer Tanznacht. Hier im Städtchen selbst haben wir fast zur nämlichen Zeit den frechen Raubanfall auf den Posthalter durch den vermummten Räuber zu verzeichnen. An seinen Wunden liegt der Arme noch heute darnieder. Wenn wir nun den Thäter ermittelt hätten – Mörder und Räuber wahrscheinlich in derselben Person – und ihn zum Tode verurtheilt hätten – meinen Sie, Serenissimus hätten ihn köpfen lassen?“

„Ich weiß nicht,“ sagte der Bürgermeister achselzuckend – „das sind Hypothesen –“

„Jawohl, Hypothesen, bis auf die beiden ungesühnten Schandthaten. Und der Thäter sagt sich, wenn er gefaßt wird, so wird er nach Landesbrauch nicht geköpft, auch wenn ihn die Geschworenen zehnmal für schuldig erachten und die Richter ihn zum Tode verurtheilen. Er riskirt nur sogenanntes lebenslängliches Zuchthaus – das in Wahrheit aber nur zehn bis fünfzehn Jahre dauert. Wenn er die überlebt – und das hofft Jeder – dann ist er ein freier Mann. Darin liegt eine kräftige Ermunterung zu solchen Verbrechen.“

„Nun, meine Herren, Sie werden gewiß wünschen, von etwas Anderem reden zu hören,“ wandte sich der Bürgermeister, nachdem er mit dem Ausdrucke tiefgekränkter Loyalität einen finstern Blick nach dem Amtsrichter geworfen, wieder zu den übrigen Genossen des Vorstandstisches.

„Verzeihen Sie, Herr Bürgermeister!“ sprach King hervortretend, – „es ist elf Uhr vorüber. Ich habe meinem Meister versprochen, um elf Uhr zu Hause zu sein. Und ich bin sehr müde. Ich wollte mir erlauben, den Herren des Vorstandes eine gute Nacht zu wünschen.“

.„Gute Nacht, Herr King, Herr Becker!“ rief es vom Tische wieder.

Die beiden jungen Männer gingen. Fritz Becker begleitete King in der Richtung nach dem Wolf’schen Hause, und die kühlere Nachtluft schien King’s Lebensgeister wieder etwas anzuregen.

„Hast Du mir die Liebe gethan, Fritz, und mit Natalie gesprochen?“ fragte er.

„Ja,“ meinte Fritz zögernd.

„Und was hat sie gesagt?“

In der Frage lag sehr viel Leben. Wenn King vorher verschlafen war, mußte er jetzt völlig wach, ja erregt sein.

„Sie war sehr kurz,“ erwiderte Fritz. „Sie meinte, sie habe Dir ja selbst schon gesagt, was sie denke.“

„So?“ meinte King gedehnt und gähnte wieder. Seine Lebensgeister schienen wieder schlafen zu gehen.

„Nun, was hat Dir denn eigentlich Nalchen gesagt, Josua?“ fragte Fritz neugierig.

„Was wird sie mir gesagt haben, Fritz! Sie macht es eben wie alle Mädchen. Sie will erobert sein, will mich ein bischen zappeln lassen. Sie erklärte mir auf meinen Antrag, sie sei noch zu jung. Das ist Alles, Bruderherz. Nun, der Fehler wird alle Tage kleiner. Aber sie hat allerdings Recht, wenn sie Dir sagt, sie habe mir ihre Meinung schon kund gegeben. Denn von Pfingsten bis Johannis kann sie mit dem besten Willen nicht viel älter geworden sein.“

Fritz lachte.

„Also Geduld, lieber Schwager in spe! Grüß’ mir die Kleine! Wenn Du nach Hause kommst, träume ich schon von ihr. Der Wein hat mich doch kannibalisch müde gemacht.“ Er gähnte wieder.

Sie waren vor dem Wolf’schen Hause angekommen und schieden, sich die Hände schüttelnd, nachdem Fritz dem Freunde noch mit einem Zündhölzchen an das Schlüsselloch der Hausthür geleuchtet hatte.

„Morgen um elf Uhr Frühschoppen im ‚Hecht!’“ rief Fritz hinein, wie King die Thür von innen geschlossen hatte.

„Ja,“ rief King leise zurück und stieg die Treppe hinauf.

„Schon halb zwölf,“ sprach Fritz für sich, als in diesem Augenblicke die Thurmuhr schlug. „Sonderbar, daß King heute so müde wurde. Er kann doch sonst viel mehr vertragen, als ich.“ Und eilig trat er den Heimweg an.




„Schon halb zwölf,“ sprach auch oben in der Mägdekammer Margret leise für sich, als sie die zwei Viertelsschläge von der Thurmuhr hörte und gleichzeitig der Männertritt King’s die Treppen herauf kam und dann in der Gesellenkammer verhallte. „Ach, auch heute wieder will mich der Schlaf nicht finden,“ seufzte sie leise. „Wenn man sich am Mutterherzen ausweinen könnte, würde es leichter zu tragen sein. Aber ihr Herz schlägt nicht mehr; ihr Mund spricht nicht mehr.“

Welches Leid mochte dem schönen, braven, jungen Mädchen am Herzen nagen, ihr den Schlaf vom Lager scheuchen?

Sie war heute mit Genehmigung der Herrschaft in ihrem Heimathdorfe, etwa anderthalb Stunden vom Städtchen, gewesen, um die Gräber der Mutter und des frühverstorbenen Vaters zu schmücken. Es war so wonnig gewesen, in der frischen Morgenluft zu wandern; denn zeitig war sie vom Städtchen aufgebrochen, um bald wieder zurück zu sein und Frühstück und Mittagbrod bereiten zu können.

Sie trug frische Rosen und Mooskränze in der Hand; die Bänder des Strohhutes, die Zipfel des Busentuches und einige rebellische Löckchen, die sich in die reichen, braunen Flechten nicht hatten einzwängen lassen, flatterten im frischen Morgenwinde und ihre Wangen rötheten sich von dem raschen Gange. Als sie die Höhe erreicht hatte, auf deren einer Seite das Städtchen zum letzten Mal und das heimathliche Dorf zum ersten Mal gesehen werden konnte, und sie nun dem Buchenwalde entgegenschritt, der sie mit seinem Schatten bis kurz vor das Dorf geleiten sollte, glitt ein Freudenstrahl über ihr ernstes Gesicht, und ihr Auge leuchtete so glücklich, als hätte sie nie Armuth und Entbehrungen gekannt, als hätte ihr nie der Tod eine Wunde geschlagen, niemals noch menschliche Lieblosigkeit oder Schlechtigkeit sich ihr offenbaret. – Gerade am Waldeingange, oben an der Wegböschung, wo man am weitesten ausspähen konnte, saß ein junger Mann, in der Kleidung der Landleute der Gegend, auf einem Feldstein.

„Gustav!“ rief Margret freudig erregt, als er in der nächsten Minute vor ihr stand. „Wie konntest Du wissen, daß ich kommen würde?“

„Margret,“ sprach er, indem er sie umschlang und küßte. „Ich müßte Dich schlecht kennen, wenn ich meinte, Du würdest am Johannismorgen nicht zum Grabe der Eltern gehen oder deshalb Dein Tagewerk versäumen.“

Sie schritten Hand in Hand durch den Wald nach dem Dorfe nieder, sprachen wenig und schauten sich dann und wann in’s Auge. Gustav blieb im Walde zurück, als Margret in’s Dorf ging; sie wußten, daß sie nicht zusammen gesehen werden durften, daß Gustav bei seinem Vater, dem reichen Bauern Stephan, dessen stattlicher Bauernsitz die Höhe jenseits des Dorfes krönte, wieder einmal schwere Tage haben würde, wenn der Vater von diesem ihrem Zusammentreffen erführe. Als Margret vom Kirchhofe zurückkehrte, gingen sie wiederum Hand in Hand durch den Wald aufwärts. An den steileren Stellen stützte er sie. Abermals sprachen sie nur wenig. Margret war ernster als beim Hinabsteigen. Sie kam ja vom Grabe der Eltern.

„Weiter nehme ich Deine Begleitung nicht an, Gustav,“ sagte sie, als sie jenseits der Höhe wieder das Städtchen mit dem Flusse vor Augen hatten. „Du mußt zurück. Was wird Dein Vater sagen, wenn Du so lange bleibst!“

„Ich war im Walde, im Dorfe, wenn ich zu Hause gefragt werde. Ich gehe noch bis zur nächsten Wegecke mit Dir, Margret. Ich ginge gern mit Dir bis in’s Städtchen und weiter, durch die ganze Welt. Ach Margret,“ rief er plötzlich weich, indem er sie an sich drückte, „ich kann noch nicht fassen, daß wir uns trennen sollen –“

„Trennen – wir – uns trennen sollen?“ preßte Margret heraus, indem sie erblaßte und einen Schritt zurücktrat.

„Margret,“ erklärte Gustav mit feuchten Augen, „ich soll fort von hier – auf Vaters Befehl. Ich soll meine Dienstjahre in der Residenz abdienen.“

„Du sollst Soldat werden, Gustav?“ rief sie leidenschaftlich erregt.

„Ich habe mich ausgeloost letzten Freitag.“

„Aber Deine andern Brüder hat Dein Vater losgekauft. Ist Deine Arbeit ihm weniger wert, als die ihre?“

„Das kaum. Er denkt wohl an unsere Liebe, wenn er mich in des Fürsten Rock zwingt.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 554. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_554.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)