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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

Das kam in erster Linie und – das ist der Punkt, um den sich Alles, Alles dreht,“ rief sie unter der niederschmetternden Wucht einer plötzlich tagenden Erkenntniß.

„Denke, was Du willst – ich gehe den Weg, den mir die Pflicht vorschreibt,“ sagte er eifrig. „Ich rathe Dir wohlmeinend, Therese, hüte Dich, mir zu widerstreben! Du ziehst den Kürzern sammt Deiner ganzen Komödiantensippe – darauf verlasse Dich!“

Er ging wieder nach dem Fenster, öffnete einen Flügel desselben und rief einem über den Hof schreitenden Knechte einen Befehl zu, so ruhig und gleichmütig in die Tagesgeschäfte einlenkend, als seien eben auch nur die alltäglichsten Dinge in der Eßstube verhandelt worden.

Die Majorin verließ das Zimmer und ging hinaus in ihre Giebelwohnung....

Von Einschüchterung konnte bei dieser Frau nicht die Rede sein; wo sie sich in ihrem guten Rechte wußte, da fürchtete sie alle Juristenkniffe der Welt nicht, und deshalb hätte sie die Anmaßung ihres Bruders, seine Drohungen verlacht, wäre ihr nicht der Schmerz der bittersten Enttäuschung im Hinblick auf eben diesen Bruder durch das Herz gegangen.... Also es war nicht brüderliche Selbstlosigkeit und Hingebung gewesen, daß er treu zu ihr gehalten. Er hatte sie bestärkt in ihrer unbeugsamen Härte; er hatte sie mit den Jahren geflissentlich abgedrängt von ihrem Kinde, nicht aus Brudertreue und in der Ueberzeugung, daß die Schwester völlig correct und gerecht handle und dabei gestützt werden müsse, sondern einzig und allein in wahnwitziger Vergötterung seines einzigen Sprossen, dem er auf diese Weise eine große Erbschaft zuwenden wollte.

Ihre Augen feuchteten sich, und das Gefühl einer tiefen Demüthigung trieb ihr das Blut in das Gesicht.... Wo waren die vermeintlich unerschütterlichen Stützen hin, auf denen ihr Selbstbewußtsein bisher gestanden? Es waren Stelzen gewesen, Stelzen des Eigendünkels, welche die ewige Vergeltung über Nacht umgeblasen.... Sie hatte sich selbst bestohlen in ihrer Rachgier, Herrschsucht und Verblendung, bestohlen um viele Jahre, in denen sie tausendfachen Segen hätte geben und empfangen können. Nun schien ihr die große Wegstrecke ihres Lebens, die sie einsam und verstockten Sinnes gewandert, eine sonnenlose Schlucht, ohne Blumen und lieblichen Vogelsang, in der sie, abgewendet vom heiteren Himmelslicht, gebückt, ohne Unterlaß Steine in die Schürze gesammelt – denn mehr als unfruchtbare Steine waren die gewaltigen Summen, die sich in ihrem Einnahmeregister aufspeicherten, für sie nicht. Und nun sollten sie auch noch zum Piedestal aufgethürmt werden unter den Füßen des verwahrlosten Jungen, den sie nicht ohne Abneigung, ohne Grauen, ansehen konnte – nie, niemals!

Noch durfte sie hoffen, ein Stück Leben vor sich zu haben; noch war sie sich einer bedeutenden inneren Kraft bewußt; es bedurfte nur weniger Schritte, um die nach einer andern, einer sonnigen Lebenslust dürstenden Lippen zu erquicken. Was hinderte sie, den Shawl umzuwerfen und hinüber zu gehen in das Nachbarhaus, wo sich Alles, Alles mit einem Schlage wenden mußte? – Nein! – so tief beugen konnte sie den steifgewordenen Nacken doch nicht! – Sie hatte bereits die ersten Schritte gethan, nun mußte er kommen und der Mutter die Versöhnung erleichtern – wo aber war er? – Das hatte sie schon oft grübelnd gefragt.

Sie hatte beim ersten Blicke, beim ersten in das Giebelzimmer heraufschallenden Stimmenklang gewußt, daß der schöne, spielende Knabe im Vorgarten des Schillingshofes sein Kind, ihr Enkel, sein müsse – so Zug für Zug, so in jedem Laut, jeder Eigenthümlichkeit des äußeren Gebahrens wiederholt sich die Natur nicht in zwei Menschenwesen, die das Blut nicht gemein haben; so macht sie auch nicht ein Herz, wie das ihre, halb entsetzt, halb in jubelnder Lust aufschreien beim ersten Begegnen, wenn kein verwandter Zug da ist. Es war völlig überflüssig gewesen, daß ihr die fremde Dame gesagt hatte, der Knabe führe den Namen Lucian.... Wo aber war sein Vater?

Es war eine schändliche Lüge, daß er sich von dem Erwerbe seiner Frau mit ernähre. Er hatte ein reiches Wissen; er war sehr fleißig gewesen und hatte sich zweifellos eine feste, ehrenhafte Lebensstellung errungen – wohl in fernen Landen, wie sie nach der schwarzen Bedienung schloß, welche die Kinder behütete.

Und – diese stille Hoffnung wurde immer lebendiger in ihrer Seele – er hatte wohl seine kleinen Lieblinge geschickt, damit sie sich allmählich in das Herz der Großmutter stehlen und Versöhnungsboten werden möchten.... Nun wohl, das war geglückt – die Mutter hatte verziehen. Sie hatte sich selbst seinem Knaben gegenüber die Großmama genannt und den neugeschlossenen Bund mit einer Gabe besiegelt, die ihr Sohn selbst als Kind oft gesehen, und von welcher er wußte, daß sie der Mutter stets ein hochwerthes Andenken gewesen war.... Nun mußte er kommen – und er kam gewiß, selbst wenn augenblicklich noch große Länderstrecken, oder das weite Meer zwischen ihnen liegen sollten – er kam.... Bis dahin hieß es, sich selbst und die Sehnsucht tapfer bezwingen, denn noch – hatte ein letzter Rest starrer Unbeugsamkeit Sitz und Stimme in diesem harten Frauenkopf.




32.

Seit Baron Schilling’s Rückkehr aus Berlin waren sechs Tage verstrichen. Die Parterrewohnung des Schillingshofes hatte sich gleichsam gelichtet, seit der tückische Dämon der Krankheit aus allen Ecken und Winkeln gefegt worden war. Der kleine José hatte schon zweimal stundenlang im Freien verweilen dürfen; zwar saß er auch im Salon noch auf seinem Fahrstühlchen, aber das Bett wurde tagesüber nicht mehr aufgesucht. Die Glieder des Knaben fingen an, sich kräftiger zu regen; er ließ seine Bleisoldaten wieder aufmarschiren und exerciren, und sein treuer Spielcamerad, Pirat, hatte auch bereits seine Aufwartung im Salon machen dürfen.

José trank pünktlich seine Milch aus dem Becher, den ihm „die Großmama“ geschenkt. Mit dem Erscheinen dieses kostbaren Andenkens im Schillingshofe war eine erwartungsvolle, fast feierliche Stimmung, eine unbeschreibliche Spannung über diejenigen gekommen, die um die geheimnißvolle Sendung der Kinder wußten.

Am vorgestrigen Nachmittage, gleich nach dem Besuche der Majorin, war Donna Mercedes vom Säulenhause hergekommen, um nach dem Knaben zu sehen. Sie hatte von der Allee aus, gleich Jack, noch bemerkt, daß eine dunkle Gestalt durch die Mauerthür hinausgeschlüpft war. Fast in demselben Augenblicke war auch Baron Schilling aus dem Atelier an den Fahrstuhl getreten – so hatten Beide die Erzählung des lebhaft erregten Kindes zugleich angehört.

Baron Schilling war ganz blaß geworden; er hatte sich tief über den Knaben gebückt und dann, sich aufrichtend, kühl, wenn auch leicht vibrirenden Tones, zu Donna Mercedes gesagt: „Der letzte Act steht nahe bevor – Sie werden rascher aus Ihrer aufopferungsvollen Situation erlöst werden, als wir denken und hoffen durften....“

Mit wenigen kurzen Worten war man dann übereingekommen, daß vom Schillingshofe aus vorläufig noch kein irgendwie auffallender, entgegenkommender Schritt geschehen dürfe, weil das geheimißvolle Thun der Majorin darauf hinweise, daß sie hinter dem Rücken ihres Bruders handele; sie dürfe durch ein zu frühes Vorgehen in ihren Plänen nicht gestört werden.

Seitdem hatte Donna Mercedes den Herrn des Schillingshofes nicht wieder gesprochen. Sie sah ihn wohl dann und wann in der Nähe des Ateliers durch den Garten schreiten, wenn auch sie das Haus verließ, um sich zu ergehen und frische Luft zu schöpfen, aber dann wandte sie sich auch sofort um und kehrte in ihr Zimmer zurück, gleichviel, ob er es bemerkte, daß sie ihm aus dem Wege ging, oder nicht. Es war ihr immer, als könnte sie nicht rasch genug aus seiner Gesichtsweite kommen, und wenn sie dachte, daß sein scharfer Blick sie verfolge, dann durchlief sie ein Schauer.... Es war daheim ihre Gewohnheit gewesen, mißliebigen Menschen ohne Weiteres den Rücken zu kehren, und die Schmeichlerzungen hatten ihr oft genug versichert, daß sie selbst diese vernichtende Ungnade mit unvergleichlich hoheitsvoller Grazie an den Tag lege. Hier nun wallte wohl auch das Gefühl der Indignation in ihr auf; allein noch mehr überwog die niederdrückende Ueberzeugung, daß sie mit all ihrem gerühmten Verstande, ihrer Tournüre und Energie dem Manne nicht gewachsen sei, der, einmal beleidigt, fortan mit souveräner Kühle auswich.

So war es zu ihrem eigenen Grimm ein namenloses, ein

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