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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

Auf den Hof gingen die Fenster des Schlafzimmers der Frau Wolf, wie King’s. Hier rief sie laut und leidenschaftlich, in rascher Wiederholung: „Zu Hülfe! Diebe, Mörder, Mörder, zu Hülfe!“

Aus den Schlafstuben der Frauen drang deren hülfloses Geschrei. In der Nachbarschaft wurden Fenster aufgerissen, wurde Hülfe zugesagt. Nur im Zimmer Wolf’s und in der Kammer King’s und der Lehrlinge blieb es still.

Margret war an die Kellerfenster geeilt, aber sie sah dort kein Licht, hörte keinen Laut mehr. Das Geheimniß, das sich dort abgespielt haben mußte, wurde immer unheimlicher, grausiger.

Wo war Herr Wolf hingekommen, daß man seine Stimme nun gar nicht mehr hörte? Wo der Mann oder die Männer, die mit ihm gekämpft hatten? Sie mußten noch im Hause sein. Denn das eigenthümliche klagende Knarren der Hausthür hatte Margret noch nicht gehört. Sie mußte wissen, wer diese Männer waren, gleichviel welche Folgen das für sie hatte. Sie hielt abermals die Lampe hoch über sich und wollte durch die Hinterthür, durch die sie in den Hof getreten, wieder in die Hausflur zurückkehren. Diese Hinterthür war jetzt von innen verriegelt. Margret schlug und drückte gegen dieselbe mit aller Kraft, aber ohne Erfolg.

In diesem Augenblicke ließ die Hausthür ihr klagendes Knarren vernehmen, indem sie geöffnet und dann wieder laut zugeschlagen wurde.

Der Thäter hatte offenbar jetzt das Freie gewonnen, ungesehen und unbehindert von den Nachbarn, die noch nicht auf der Straße zu hören waren. Das tapfere Mädchen dachte nur daran, dem Flüchtlinge nachzueilen, und bat die Damen drinnen, ihr sofort die Hinterthür aufzuriegeln, da die Hausthür gegangen, Jemand aus derselben entwichen sei. Die Damen entgegneten, sie hätten schon selbst vergebens versucht, auf den Vorsaal zu dringen. Ihre Thür sei von außen verschlossen.

Von Neuem ließ Margret laut ihre Stimme um Hülfe erschallen. Draußen auf dem Pflaster der Straße und von den Treppen des Hauses her hörte sie nach einigen weiteren Minuten fast gleichzeitig Männerschritte. Die Lehrlinge Barth und Hark kamen treppab mit dem Lichte und fragten sich ängstlich, warum denn gar Niemand im Hausflure des Erdgeschosses zu sehen sei, auch Margret nicht? Sie probirten die Hausthür zaghaft. Sie war unverschlossen. Es stak kein Schlüssel im Schloß.

Als sie öffneten, standen die zwei Nachbarn draußen, welche Margret’s Rufe herbeigezogen. Sie hatten vorsichtshalber gewartet, bis von innen geöffnet würde; denn die beiden Herren gehörten nicht gerade dem Wehrstande der Nation an. Der Eine, ein „Detaillist“, gab auch die Proben seines Muthes nicht im Großen ab. Der Andere, ein Schneider, war berühmt wegen des energischen Triebes der Selbsterhaltung, der ihn beseelte.

Aus dem Hofe bat Margret noch immer dringend, ihr die Hinterthür zu öffnen. Der kleine Hark that dies. Sie schloß, ohne ein Wort zu sagen, das Zimmer der Wittwe Wolf auf.

„Margret, was ist geschehen – wo ist mein Sohn?“ jammerte diese, auf einen Stuhl gesunken.

„Wir werden sehen, Madame,“ erwiderte Margret muthig. „Vielleicht schläft er noch. Auch Herr King schläft noch. Die Herren waren heute zum Gastmahl, wie Sie wissen. Ich werde gleich nachsehen lassen. Bleiben Sie ruhig hier! Frau Steuerrath Martin wird Ihnen Gesellschaft leisten.“

„Barth, Sie steigen sofort zu King hinauf und holen ihn herunter!“ befahl sie draußen. „Warum ist er nicht schon da?“

„Er war nicht zu erwecken, Jungfer. Er sprach nur confuses Zeug durch einander.“

„Nun, so wecken Sie ihn sofort! Sagen Sie ihm, es habe sich ein großes Unglück zugetragen!“

Barth ging.

„Und Sie, Meister Tromper, haben wohl die Güte, den nächsten Arzt und den Amtsrichter Kern herbeizuholen. Sagen Sie ihnen, es sei – ein Mord geschehen.“

Sie sagte das leise an seinem Ohr. Aber das feste Mädchen bebte doch, als es zum ersten Mal in Worten sagte, was seine ahnende Seele bewegte.

Der Schneider setzte sich in schleunigste Bewegung.

Also ein Mord – wirklich! Und er dazu ausersehen, die Nachricht zuerst herumzutragen, fern von jeder persönlichen Gefahr und Heimsuchung in dem unheimlichen Hause. Wer war denn ermordet? Gleichgültig wer. Er, Meister Tromper, lebte, und trug nun die Kunde von der furchtbaren That durch die stille, schlafende Stadt!

Sowie er fort war, nahm Margret wieder ihre Lampe hoch und bat den „Detaillisten“ und Hark ihr zu folgen. Auch Barth kam eben wieder herunter mit der Meldung, King werde gleich kommen, er sei auch jetzt noch kaum zu wecken gewesen. Margret schritt an der Spitze der Andern nach dem Keller. Die Thür leistete ihr keinen Widerstand mehr. Aber was man sah, als die Thür aufging, ließ schon das Schlimmste befürchten.

Unmittelbar am Kellereingang waren große Blutflecken wahrnehmbar – Blutspritzer an den Wänden, rechts und links von der Treppe. In der Mitte derselben traf Margret auf eine große Blutlache. Sie wies zitternd und schweigend darauf hin und schritt mit ihren Begleitern tiefer hinab. Am Fuße bog die Treppe plötzlich im rechten Winkel ab nach dem gewölbten, ziemlich niedrigen Vorkeller zur Linken.

Hier hemmte Margret plötzlich den Schritt, hielt die Lampe in der ausgestreckten Linken vor sich, reckte bebend den Kopf vor und rief gellend:

„Barmherziger Gott, da ist er!“

„Meister Wolf!“ riefen die Lehrlinge entsetzt. Der Detaillist hielt sich die Hand vor die Augen.

Auf dem sandigen Fußboden des Vorkellers, an der linken Wand, in halb sitzender Stellung, lag Meister Wolf in seinem Blute, nur mit Hemd, Unterbeinkleidern und Strümpfen bekleidet.

Lange Zeit stand die kleine Gruppe vor dem schrecklichen Anblick.

Da kamen schwanke, aber leichte Tritte, Tritte von Frauenfüßen die Treppe herab.

„Sie darf ihn nicht sehen,“ rief Margret ängstlich und drängte Alle zurück.

Es war zu spät. Schon war Frau Wolf bis in den Vorkeller gedrungen. Die Lampe Margret’s enthüllte ihr das ganze furchtbare Geheimniß auf einen Blick.

„O Gott, mein Sohn! Mein Sohn – todt!“ rief sie herzzerreißend und brach zusammen.

„Mein Gott, Madame Wolf, was ist Ihnen denn?“ ertönte in diesem Augenblicke die Stimme King’s, der eben die Treppe herabkam. Er fing die Sinkende auf und legte sie in die Arme der nachfolgenden Frau Martin.

„Was ihr ist?“ rief Margret erregt. „Sie haben einen gesegneten Schlaf. Sehen Sie einmal hierher! Ich will Ihnen zeigen, was in diesem Hause geschehen kann, während der einzige Mann im Hause schlief.“

Dabei leuchtete sie plötzlich in den Winkel, in dem der blutige Leichnam Wolf’s lag.

„O, das ist ja Herr Wolf – und todt!“ rief King, indem er die Hände rang und dann faltete.

Margret kam die Geste theatralisch vor; seine Worte erschienen ihr eisig kalt und geziert; den Anderen erschienen sie ganz natürlich. Margret zählte allerdings nicht zu den Verehrerinnen King’s. Der Mensch war ihr von jeher widerlich gewesen – sie wußte selbst nicht, warum.

Frau Martin und Hark hatten indeß die unglückliche Frau wieder zu sich gebracht und führten sie eben die Stufen der Treppe hinauf, fort von dem gräßlichen Anblick der Tiefe.

„Wir werden auch die Leiche hinaufschaffen müssen,“ meinte der Detaillist. Er griff dabei nach der Lampe Margret’s, um anzudeuten, daß er sich am Anfassen des Todten nicht zu betheiligen wünsche und das lieber Anderen überlasse.

„Ja, das könnten wir thun,“ bemerkte King ruhig. „Es ist besser für die arme Mutter, wenn der Todte oben liegt.“

Er that einen Schritt gegen die Leiche und rief Barth, beim Tragen zu helfen.

„Ich muß bitten, meinen armen Herrn nicht anzurühren, und genau an dem Platze liegen zu lassen, wo wir ihn todt gefunden,“ erklärte Margret bestimmt.

„Und warum das, Jungfer, wenn man fragen darf?“ wandte King etwas spöttisch ein.

„Weil das Sache des Gerichts ist,“ erwiderte Margret kurz. „Vielleicht gelingt es, aus der Lage und Stellung des Opfers auf die That und den Thäter zu schließen.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 574. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_574.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)