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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

„Meinetwegen! Aber dann wollen wir wenigstens den Keller durchsuchen,“ sagte King.

„Ja wohl,“ pflichtete der Detaillist bei.

„Auch das würde ich bitten, mir zu überlassen,“ sprach in diesem Augenblicke eine volltönende, männliche Stimme von der untersten Kellerstufe, und der Amtsrichter Kern trat in den engen Lichtkreis.

„Guten Abend, Herr Amtsrichter!“ rief King sich verbeugend, „wer hätte gedacht, daß wir uns so bald wieder treffen würden!“

„Und bei einer so traurigen Gelegenheit,“ ergänzte der Detaillist wehmütig. Denn auch er gehörte zur Aristokratie der Ressource. Der Amtsrichter verbeugte sich gleichfalls.

„Margret,“ sagte er dann, „geben Sie mir Ihre Hand. Ich kann noch nicht ganz ermessen, wie tapfer Sie sich gezeigt haben. Aber was ich bisher gehört, läßt mich annehmen, daß ein seltener Muth Sie beseelt, der auch für die vergeltende Gerechtigkeit die beste Leuchte sein wird bei dieser dunklen That. Nehmen Sie einstweilen meinen Dank, Margret!“ Er drückte die ihm dargebotene arbeitsharte Hand des Mädchens.

Ein Freudenstrahl flog über ihr tiefbekümmertes Gesicht.

„Und nun an’s Werk!“ setzte er hinzu, indem er sich umsah. „Aber wir müssen mehr Licht haben. Ihr Burschen, rasch! Laßt Euch oben Lichter geben!“

Wenige Minuten später war es leidlich hell im Keller. Man konnte jetzt viel weiter und deutlicher sehen, als vorher bei Margret’s Lampe. Zahlreiche weiße und farbige Flecken auf dem Boden, unfern der Leiche, weiter gegen das Innere des Kellers zu, zogen zunächst die Aufmerksamkeit des Amtsrichters auf sich. Es waren Stücke weißen und farbigen Papiers. Er gebot, sie sorgfältig zu sammeln und an ihn abzuliefern.

Schon die ersten dieser Bruchstücke, die in die Hände des Richters gelangten und bei Lichtschein von ihm gelesen wurden, zeigten ihm, was diese Papierfetzen bedeuteten. Er hatte die zerrissenen Liebesbriefe der Braut des Ermordeten in Händen; sie hatten wahrscheinlich in einem offenen Ledertäschchen gesteckt, das der Ermordete um den Hals auf der Brust getragen zu haben schien.

Das war jedenfalls schon ein höchst bedeutsamer Fingerzeig nach der Person des Thäters. Denn sicherlich nur er, nicht der Meister Wolf hatte diese Briefe zerrissen. Warum hätte auch Wolf sie zerreißen sollen? Sie athmeten das reinste Glück bräutlicher Liebe; sie jubelten der baldigen Gründung der eigenen Heimstätte mit freudiger Hoffnung entgegen.

Derjenige, der diese Briefe zerrissen, mußte im Innersten erregt, auf’s Höchste erbittert sein durch die Liebe und Hingebung an den Todten, die in diesen Briefen sich aussprach. Er hatte sicher keine Zeit gefunden, die Briefe nach seiner grauenvollen That zu lesen – kaum Zeit, sie zu zerreißen. Er mußte also, auch ohne sie zu lesen, gewußt haben, was darin stand. Im Städtchen gab es nur Einen, auf den alle diese Zeichen paßten, den der Richter der blutigen That zugleich fähig halten konnte: Karl Bahring.

Noch hatte der Amtsrichter diesen Namen nicht ausgesprochen, vielmehr nur schweigend und sinnend des Menschen gedacht, der diesen Namen trug, als er laut und anklagend neben ihm genannt wurde.

Margret nämlich hatte ein im äußersten Winkel des Vorkellers liegendes blutiges Taschentuch gefunden und aufgehoben. Der Mörder hatte offenbar seine blutigen Hände daran abgewischt. Deutlich war der Abdruck blutiger Finger an dem Tuch zu sehen, der Umriß großer blutiger Hände. Dieses Taschentuch war von weißer Leinwand und zeigte in der Ecke in rother Stickerei die Buchstaben K. B.

„K. B.!“ rief Margret laut und bestürzt, indem sie zum Amtsrichter trat, um ihm das Tuch zu übergeben „Sollte das Karl Bahring heißen, Herr Amtsrichter?“

„Karl Bahring! Ja, so – das könnte stimmen,“ meinte der Detaillist zuversichtlich.

„Karl Bahring ist der Mörder – kein Anderer!“ rief Schneider Tromper, der eben erst von seinem Lauf zurückgekehrt war; er setzte sich sofort wieder in Bewegung treppauf.

„Halt!“ rief ihm Kern nach. „Niemand verläßt das Haus ohne meine Genehmigung.“

Tromper mußte umkehren. Oben, innerhalb der Haus- und Hinterthür, hatten sich auf Befehl Kern’s inzwischen zwei Gerichtsdiener eingefunden, die ohne seine Erlaubniß Niemand aus- und einließen.

Als die zerrissenen Liebesbriefe gefunden waren, stand es bei dem Amtsrichter fest, daß Karl Bahring der Mörder sei. Ebenso war für Diejenigen, welche Bahring’s Charakter kannten, durch Auffindung der zerrissenen Briefe die Person des Thäters nahezu festgestellt. Aber für alle Anderen noch keineswegs. Und Andere, als die Mitbürger Bahring’s, die Geschworenen der benachbarten größern Stadt, hatten dereinst über die That und den Thäter zu richten. Wenn Bahring leugnete – die zerrissenen Liebesbriefe allein vermochten ihn vor fremden Richtern kaum zu überführen. Es gab ja dafür eine Erklärung, an die auch Kern schon gedacht hatte, welche auf einen ganz unbekannten Thäter, auf einen Raubmord hinwies. Der Mörder hatte – so konnte Bahring einwenden – vermutlich nach der Brusttasche des Erschlagenen gegriffen, um sich den Preis seiner blutigen That anzueignen. Er hatte nur Briefe und immer wieder Briefe gefunden, kein Geld. Draußen rief Margret nach Hülfe. Er mußte fliehen, um nicht entdeckt zu werden. Im blinden Zorn über die Erfolglosigkeit seines Mordes zerriß er die Briefe. Oder er that es, um den Verdacht auf Bahring zu lenken.

So konnte Bahring sich, wahrscheinlich mit Aussicht aus Erfolg, vertheidigen, meinte Kern. Die Anklage vor dem Schwurgericht stand auf schwachen Füßen, wenn sie nur dieses Judicium auszuführen hatte – so gewiß dem Amtsrichter selbst die Person des Mörders dadurch verrathen wurde.

Aber seitdem das Taschentuch gefunden war, gingen dem Richter auch erhebliche Zweifel darüber bei, daß Bahring überhaupt der Mörder sei, und zwar gerade dann, wenn festzustellen war – was ja jetzt lediglich auf Vermuthung beruhte – daß dieses Taschentuch Bahring gehörte.

Der Mörder hatte das Tuch sicherlich dazu benutzt, seine blutigen Finger, seine Hände von Blut zu reinigen. Damit verrieth er, daß die Stimme der Vernunft, der Drang der Selbsterhaltung bei ihm wieder erwacht sei; sollte er im nämlichen Augenblicke das blutbefleckte Tuch, auf dem sein Name stand, in einen Winkel des Vorkellers geschleudert haben, damit es ganz sicher ihm zum Verräther werde, weit sicherer als blutige Hände jemals es hätten werden können? Das erschien dem Amtsrichter ein unlösbarer Widerspruch. Das erschütterte seinen Verdacht gegen Bahring so sehr, daß er zauderte, den Verhaftsbefehl zu ertheilen, den er nach der Entdeckung der Briefe bereits ausfertigen wollte.

„Aber immerhin bietet seine Person bis jetzt den einzigen Anhalt zum Verdacht,“ wandte er sich selbst wieder ein. „Das Taschentuch führt die Erörterung der Verdachtsmomente weiter.“

Damit wandte er sich an Margret.

„Ist der Eingang zum Keller hier verschließbar?“ fragte er.

„Jawohl.“

„Gut. – Barth, holen Sie den Schlüssel! Lassen Sie den Diener, der an der Hofthür Wache hält, diese schließen und herunterkommen!“

Es geschah.

„Sie bleiben hier an der Leiche stehen und lassen Niemand dazu!“ befahl Kern dem Diener. „Margret und King, Sie folgen mir durch den Keller!“

Auch das geschah.

Der Keller hing voller Felle. Von den gestern angekommenen werthvollen Pelzen fehlte, nach King’s Versicherung, kein Stück. Es waren große Felle und an Trockengerüsten reihenweise aufgehangen. Des Tages hingen sie im Freien, im Hofe. Auf deren Entwendung konnte also die Absicht des Thäters kaum gerichtet gewesen sein.

Auch ein weiteres Resultat ergab die Nachforschung im Keller. Der Thäter konnte nicht vom Hofe her eingestiegen und dann etwa durch ein Fenster des Kellers in’s Innere des Hauses eingedrungen sein; denn diese Fenster waren alle gut verriegelt. Die Lehrlinge versicherten, daß der Meister selbst noch, bevor er sich schlafen legte, mit ihnen den Keller durchsucht und den Verschluß der Fensterriegel selbst geprüft habe. Dasselbe habe er in allen Geschäftslocalitäten des Erdgeschosses und des Bodenraumes gethan.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 575. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_575.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)