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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

willen.... War sie nicht selbst schuld gewesen, daß er sein junges, enthusiastisches, zur Entbehrung grausam verurtheiltes Herz schwärmerisch an das erste weich und liebend sich anschmiegende Wesen hingegeben hatte?...

Sie erhob sich von der Erde, auf welche die furchtbar züchtigende Hand der Vergeltung sie niedergestürzt, und blickte um sich wie verirrt, als habe sie alle Wegzeichen verloren, als sei sie nicht mehr sie selbst, nicht die Frau da, die sich mit kraftlosen Armen an dem Fichtenstamme emporhalf – es war ihr, als könne kein Blut mehr in ihren Adern rinnen, kein Herz mehr in ihrer Brust klopfen denn – wozu? Für was denn in der Welt weiter leben? – Und hatte sie sich nicht auch den Himmel verschlossen mit ihrem Frevelworte?

Donna Mercedes hob erschüttert die kleine Paula vom Boden auf. „Nimm die Großmama in Deine Arme, mein Kind!“

Die Kleine hatte vorhin beim Zusammenbrechen der großen, starken Gestalt erschrocken aufgeschrieen und sich an die Rockfalten der Tante geklammert. Sie sah noch mit ängstlichen, verschüchterten Augen in das schmerzverzogene Gesicht, dem sie nahe gebracht wurde, aber das Wort „Großmama“ mochte denselben Zauber für sie besitzen, wie für ihren Bruder; sie legte die kleinen nackten Arme fest um den Hals der Majorin und drückte ihr die jugendwarme Wange an das eiskalte Antlitz.

„Die Kinder sind sein Vermächtniß für Sie,“ sagte Donna Mercedes tiefbewegt, als die Majorin bei der Berührung plötzlich den Stamm losließ und das Kind ihr förmlich vom Arme riß, um es unter einem hervorstürzenden Thränenstrome in leidenschaftlicher Innigkeit an sich zu pressen. – „Ich soll Ihnen seine Lieblinge, die sein Glück, sein Stolz gewesen sind, überbringen und Sie bitten, den Waisen Schutz und Schirm, Vater und Mutter zu sein.“

Ein unbeschreiblicher Seelenkampf malte sich in den Zügen der Majorin, aber kein Laut kam über ihre Lippen.

„Kommen Sie mit mir!“ bat Donna Mercedes und ergriff ihre Hand. „Ich habe Ihnen viel zu sagen. Gehen wir in das Haus –“

„Ja – zu seinem Knaben,“ sagte die Majorin. Das kleine Mädchen auf dem Arme ging sie festen Schrittes dem Wege zu, der sich durch die Wiesen und Bosquets direct nach dem Säulenhause schlängelte; es war dies ein schmaler Pfad, welcher den Teich berührte und in nicht sehr weiter Entfernung mit dem Zaune des Klostergutes parallel lief. Die beiden Frauen gingen neben einander, und Deborah folgte mit dem Spielzeuge des „Goldkindes“. Keine Silbe wurde gesprochen; man hörte den Sand unter den Füßen der Dahinschreitenden knirschen und dann und wann ein schmerzvolles Aufstöhnen, das sich der Brust der Majorin entrang.

„Dort, dort! Siehst Du sie denn nicht, Papa? Dort geht ja die Tante Therese,“ kreischte Veit herüber. Er saß mit zappelnden Beinen auf seinem luftigen Platz, dem weit hervorragenden Aste des Birnbaumes, und zeigte mit dem Finger nach der wandernden Frauengruppe.

Und er rauschte und knackte in den Zweigen über der Gartenbank des Klostergutes, just in dem Moment, wo die Damen näher kamen, und Deborah bekreuzte sich heimlich vor dem wuthentstellten Mann, der sich durch das Haselgestrüpp wühlte, als wolle er sich kopfüber in den Nachbargarten hereinstürzen.

Er schlug ein grimmiges Gelächter auf.

„Du da drüben, Therese?“ rief er mit weithin schallender Stimme. „Hast Du denn alle Ehre verloren? Im Namen unserer braven Eltern – herüber zu mir! Schande über Dich und den Fluch der ganzen Familie, der Du entstammst, wenn Du nicht sofort auf das Klostergut zurückkehrst!“

„Fort!“ stieß die Majorin im unbeirrten Weiterschreiten hervor, und den freien rechten Arm weit ausstreckend, schnitt sie energisch mit der flachen Hand durch die Luft, als wolle sie tabula rasa machen für immer.

Sie hatte nicht einmal die Augen hinüber gewendet. Es kümmerte sie nicht, daß der Mann hinter dem Gebüsch mit der Geberde eines Rasenden verschwand und gleich darauf hastige Schritte auf das Hinterhaus zueilten; sie schien nicht zu hören, daß der Junge auf dem Baum ihr nachhöhnte, sie habe vorhin die Gartenthür nach der Straße „sperrangelweit“ offen gelassen und die bleichende Leinwand sei gestohlen – er hatte augenscheinlich ihr ganzes Thun und Treiben beobachtet und seinen Vater herbeigeholt. Unaufhaltsam ihren Weg verfolgend, preßte sie die kleine Enkelin an sich, als griffen gierige Hände nach dem Kinde, um es ihr zu entreißen.

Sie stieg die Freitreppe des Säulenhauses hinauf, dieselben Stufen, die sie vor vierunddreißig Jahren zum letzten Mal betreten, als sie in Kranz und Schleier, am Arme des ihr eben angetrauten Mannes durch die Gärten in den Schillingshof gegangen war, um sich von der alten siechen Dame des Hauses, der Mutter des Freiherrn Krafft, zu verabschieden. Wohl war es ihr, als schreite sie über glühendes Eisen, und als sich die Thür nach der Flurhalle mit dem wohlbekannten Dröhnen aufthat, die Karyatiden auf sie niedersahen und die weißen Götterbilder seitwärts auftauchten, da war es ihr, als wurzelte ihr Fuß fest, und sie stand selbst da, wie die an das Piedestal gefesselten Gestalten, entgeistert, als sei ihr die Seele entflohen und irre nun in weiten, weiten Fernen....

Ueber diese Marmorfließen hatte damals die bräutliche weiße Seidenschleppe gewogt – „ein hehres, himmlisch schönes Weib, eine reine, stolze Königslilie sei sein eigen“, hatte er ihr dort, just vor der Ariadne, stammelnd vor Aufregung und Glückseligkeit, zugeflüstert – und neben dieser kalten „Lilie“ war es ihm dann selbst kalt geworden, weil er andern Sinnes gewesen war, als sie, weil er gemeint hatte, ein Mann und Soldat, ein feuriger Geist dürfe nicht zum trivialen Philister in der Hand einer herrschsüchtigen Frau werden.

Dann war sie Mutter eines Knaben geworden – eine stolze Mutter, die aber zugleich beflissen war, den kostbaren Schatz der Kindesseele in das althergebrachte Wolfram’sche Charaktermodell zu pressen. Die usurpirenden Seelen waren ihr entschlüpft, und sie hatte ihnen am Scheidewege trotzig den Rücken gekehrt, unbeugsamen Sinnes in eine graue, todte Wüste hineinwandernd. Aber das Modell war unter ihren Augen allmählich zerbröckelt – ihr Bruder, der Irrstern, der böse Geist, dem sie blindlings gefolgt, er hatte schließlich selbst die Ferse darauf gestellt und es zertreten um eines völlig aus der Art geschlagenen, nichtsnutzigen Buben willen.

Mit tief auf die Brust gesenktem Haupte schritt sie nun durch den Corridor und trat über die Schwelle des Holzsalons, dessen Thür die vorauseilende Deborah weit zurückschlug.

Die mächtige Dogge, die neben José’s Fahrstühlchen auf dem Teppich hingestreckt lag, fuhr mit einem wüthenden Gebell auf die fremde Erscheinung los, José aber streckte ihr freudig die Arme entgegen, während Donna Mercedes mit einem strengen Zurufe den Hund beschwichtigte – er kroch demüthig auf seinen Platz zurück.

„Aber Du solltest Dich schämen, Pirat – so toll zu bellen! Es ist ja meine Großmama,“ sagte der Knabe lachend.

Das waren dieselben Laute, die einst so fremdartig, so edel lieblich in den Räumen des finsteren Klosterhauses geklungen und dem Ohr des rauhen verdüsterten Onkels mißfallen hatten. War sie es werth, daß ihr noch einmal solch ein köstliches Kleinod in die Hand gegeben wurde, um ihr auf Erden noch die Umkehr möglich zu machen, sodaß sie den Kindern ihres Sohnes in Fülle das gewähren durfte, was sie ihm zeitlebens versagt hatte? Nicht ein Augenblick der vergönnten Frist sollte verloren gehen. Sie wollte die kleinen Sendboten seiner unwandelbaren Sohnesliebe behüten; hegen und pflegen als ihr höchstes Gut, als ihren Augentrost; schon jetzt unter den strömenden Thränen, die ihm flossen, labte sie sich an ihrer Jugend und Lieblichkeit. Hier, zwischen ihnen war ihr Platz – auf das Klostergut kehrte sie nur noch einmal zurück, um ihr Eigenthum zu holen, aber nie mehr, um ferner dort zu leben.

Noch war keine Frage über ihre Lippen gekommen, aber nun stellte sie die kleine Paula auf den Teppich, und erschöpft, als sei der Weg vom Fichtenwäldchen bis zum Säulenhause ein unermeßlicher, über rauhes Geklüft, durch dornstarrende Schluchten führender gewesen, sank sie im nächsten Lehnstuhl zusammen – es war Donna Mercedes’ Fauteuil in der Fensterecke.

„Nun sprechen Sie!“ murmelte sie, die gefalteten Hände vor die Augen gedrückt.

Donna Mercedes war neben die Pflanzengruppe getreten, welche den Schreibtisch flankirte. So stand sie der Majorin schräg gegenüber, und das Herz schlug ihr heftig – wenn die Hände

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 579. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_579.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)