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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

seinem merkwürdigen Lebensgange und seiner wunderbaren Bildungsgeschichte. Aus der zurückgestoßenen und völlig abgeschlossen lebenden, seit länger als einem Jahrtausend unter einer unmenschlichen Behandlung schmachtenden und deshalb für verwahrlost gehaltenen Religions- und Stammesgemeinschaft, in der er geboren und erzogen war, hatte er auf die Bühne der großen und fremden Welt einen Charakter mitgebracht, dessen sittliche Hoheit und Reinheit, dessen ungekünstelte Würde und durchgebildete Humanität ein eigenthümlich verwirrendes und beschämendes Licht auf bis dahin sorgsam gehegte Lieblosigkeiten warfen. Schon Klopstock drückte dies in den Worten aus, die Bewunderung Mendelssohn’s sei anfänglich nicht frei von einer Verwunderung gewesen. Man schaute zu ihm auf, wie zu einem Phänomen und fühlte sich von Ehrfurcht ergriffen im Hinblick auf den langjährigen, ebenso schmerzensreichen wie heroischen Kampf, den er siegreich gegen die unerbittlich harten Schwierigkeiten bestanden hatte, welche unter den damaligen Umständen dem geistigen Aufstreben eines deutschen Juden, zumal eines so mittellosen, auf jedem seiner Schritte sich entgegenstellten. Gewiß, es war das eine unbeschreiblich herbe und traurige Jugend gewesen, und nicht wenige seiner unglücklichen Stammesgenossen mochten schon im Beginn eines ähnlichen Ringens an den unübersteiglichen Hindernissen gescheitert sein, ohne daß die Welt von ihnen erfahren hat. Der gebrechliche, körperlich überaus zartorganisirte Sohn des blutarmen dessauischen Thoraschreibers war jedoch von anderem Stoffe. Ihn hatte der feindselige Druck nicht brechen, nicht einmal beugen oder verbittern können. Mit gestählter Seelenkraft, mit dem sonnenklaren Geiste und der heiteren Gemüthsruhe des philosophischen Denkers war er aus demselben hervorgegangen, erfüllt und beschwingt von jenen hohen Gedanken vorurtheilsfreier Menschenliebe, jenen Grundsätzen der Humanität und des Menschenrechts, welche der Geist des Jahrhunderts als Programm auf seine Fahnen geschrieben und die er in seinen Schriften und nach den übereinstimmenden Zeugnissen vieler Zeitgenossen auch in seinem ganzen Wandel bekundet hat. Aus dem obscuren Talmudschüler, der aus einer elenden Dachkammer Berlins in unbelauschten Nachtstunden erst mühsam die deutsche Sprache erlernt hatte, war ein gefeierter Schriftsteller der deutschen Nation geworden.

Hier aber trat im Leben des Mannes ein für seinen Werth und seinen geschichtlichen Einfluß sehr bezeichnender Punkt hervor. Als die Liebe und vertrauensvolle Anerkennung der Besten und Gebildetsten ihn weit über den einschnürenden Bannkreis hinauszog, der das jüdische Leben umschloß, wandte er sich nicht fremd und vornehm von den Seinigen ab. Seine eigentliche Heimath blieb in ihrer Mitte, und in all seinem literarischen Glanze theilte er mit ihnen das schimpfliche Elend ihrer bürgerlichen Lage. Noch hatte kein Einziger von den neuen Humanitätsaposteln Zweifel gegen die Berechtigung dieser systematischen und in der That sehr raffinirten Niedertretung eines Bevölkerungstheiles zu äußern und eine Abstellung wenigstens ihrer empörendsten Maßregeln zu fordern gewagt. Was sie unterließen, das aus seiner Kenntniß heraus zu thun fühlte Mendelssohn sich verpflichtet und berufen. Er war es, der zuerst im Namen der ewigen Menschenrechte gegen jene Menschenentwürdigung Protest erhob, in Betreff derselben das Schamgefühl des öffentlichen Gewissens weckte und die Angelegenheit auf die Tagesordnung der großen Zeitfragen stellte. Und während er so mit eingreifendem Erfolg den Nachweis führte, daß die politische Befreiung seiner Leidensgenossen eine unabweisbare Aufgabe der fortschreitenden Gesittung sei, war ein sehr erheblicher Theil seines Wirkens dem methodischen Bestreben gewidmet, dieselben durch allmähliche Hebung ihres zurückgebliebenen Bildungszustandes für die Befreiung empfänglich und des Eintritts in die bürgerliche Gesellschaft würdig zu machen. Wenn die für Staat und Gesellschaft sicher nicht segensreich gewesene Scheidewand gefallen ist, welche die jüdischen Einwohner von der deutschen Cultur geschieden hatte, wenn sie den hemmenden Verschrobenheiten des mittelalterlichen Rabbinismus immer mehr sich entwunden haben und zum überwiegenden Theile Deutsche geworden sind, so war es Mendelssohn, der zu dieser culturgeschichtlich bedeutsamen Wendung den ersten und nachhaltigsten Anstoß gegeben hat.

Alles hier Bezeichnete läßt sich im Einzelnen deutlich nachweisen, wie sich überhaupt aus hundertfältigen Aeußerungen in Wort und That noch heute die wohlthuenden Züge der gefühlsinnigen Menschenfreundlichkeit, des schlichten, feinen und hohen Sinnes, jener milden, aller Gewöhnlichkeit und aller niedern und selbstischen Leidenschaft enthobenen Weisheit erkennen lassen, die sich in dem Freunde und Genossen Lessing’s mit unbeugsamer Entschiedenheit gewonnener Ueberzeugung und aller Schärfe und Mannhaftigkeit selbstständigen Urtheils vereinigt hatten. In einer Zeit, deren lebendige Ueberlieferungen noch von dem seltenen Zauber dieser entschwundenen Erscheinung zu erzählen wußten, hat daher auch Niemand bezweifelt, daß sie das Urbild des Lessing’schen „Nathan“ gewesen sei. Diese Annahme ist neuerdings von hervorragenden Seiten her bestritten worden, und zwar insofern mit Recht, als es sich um Beseitigung der trivialen Sage handelt, der Dichter habe in der Gestalt des „Nathan“ seinen Freund verherrlichen und ein Conterfei desselben auf die Bühne stellen wollen. So allerdings lag die Sache nicht. Um aber die Ueberzeugung zu gewinnen, daß Lessing dennoch bei der Gestaltung jenes erhabenen Charakters das Seelenbild und die Denkungsart des „Berlinischen Socrates“ bis auf die Weise seines Ausdruckes vorgeschwebt, braucht man nur die Schriften und Briefe Mendelssohn’s mit einiger Aufmerksamkeit gelesen zu haben.

Von diesen Schriften gehören die größeren Werke „Phädon“ und „Morgenstunden“ allerdings einem überholten Stadium philosophischer Beweisführung an, und sie üben nur noch eine sittlich erhebende Wirkung durch das Edle ihrer Form und Absicht. Unvergänglich wahr und frisch aber wird für alle Zukunft sein letztes Buch „Jerusalem“ bleiben, in dem er das jetzt noch so viel bestrittene Menschenrecht unbedingter Glaubens- und Gewissensfreiheit mit einer Gedankenschärfe und logischen Consequenz, einer Beweiskraft und Beredsamkeit vertheidigt hat, wie es vor und nach ihm von keinem Andern geschehen ist. Hätte er nichts vollführt als diese eine That, so würde sie schon seine Bedeutung zeigen für die Entwickelungsgeschichte des modernen Geistes.

Auf dem Postament des Friedrichs-Denkmals in Berlin sieht man eine sympathische Gruppe von Männern in bürgerlicher Tracht. Es sind dies die hervorragenden Denker und Dichter, welche dem Zeitalter des großen Königs sein geistiges Gepräge gaben. In ihrer Mitte jedoch vermißt der Kenner der Epoche mit Erstaunen einen der Besten dieser Zeit, die Gestalt des etwas verwachsenen Mannes mit der hohen Stirn, den leuchtenden Augen und dem orientalischen Gesichtstypus, aus dessen wohlbekannten Portraits uns noch gegenwärtig die bescheidene Anspruchslosigkeit und freundliche Sanftmuth eines durchgeistigten Wesens so anziehend entgegenblickt. Ein Vorurtheil, das er im achtzehnten Jahrhundert mit sichtlichem Erfolg als kleinlich und lieblos bekämpfte, hat ihm selber im neunzehnten Jahrhundert seinen Platz unter Denen verweigern können, die ihn einst mit Stolz zu den Ihrigen gezählt und ihm eine der ersten Stellen in ihren Reihen angewiesen hatten. Aus willkürlichem Belieben ist in dieser Ausschließung ein Unrecht begangen, das gegen die Wahrheit der Thatsachen verstößt und dem Urtheil der Geschichte widerspricht. Denn so lange es noch eine Geschichte deutscher Literatur und Gesittung giebt, wird sie Moses Mendelssohn einen der wirksamsten deutschen Männer im Zeitalter Friedrich’s nennen und ihm ein mehrseitig gewichtvolles Verdienst zuerkennen müssen um die fortschreitende Veredelung unseres nationalen Lebens, Denkens und Schaffens. Die Nation übt nur eine Pflicht gegen sich selbst, wenn sie sein Bild in den Kreis der deutschen Geisteshelden stellt, die der Jugend vorgeführt werden als Muster hochstrebender Idealität und willensstarken Gesinnungsadels.

Auf dem Namen Mendelssohn’s, der einst als ein armer Pariabursche in die Thore Berlins gewandert, ruht gegenwärtig auch in anderer Hinsicht noch ein besonderer Glanz. Seit lange gehören seine Nachkommen zu den durch Bildung und Wohlstand hervorragendsten Familien der Hauptstadt. Der Tondichter Felix Mendelssohn ist sein Enkel gewesen.

Albert Fränkel.



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