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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

beiden Bäckerskinder Johann van Beethoven selbst sagen: „Mein Sohn Ludwig, daran habe ich jetzt meine einzige Freude; er nimmt in der Musik so zu; er wird von Allen mit Bewunderung angesehen. Mein Ludwig, mein Ludwig, ich sehe ein, er wird mit der Zeit ein großer Mann in der Welt werden. Die hier versammelt sind und es noch erleben, gedenken sie an mein Wort!“ Und er konnte dies beurtheilen, denn er selbst war nach Beethoven’s eigenem Bericht ein „guter Musiker“. Leider aber sollte auch er selbst jetzt einstweilen ein großes Hemmniß in dieser künstlerischen oder vielmehr technischen Entwickelung des Sohnes werden, indem er ihm die Pflichten auflud, die er persönlich zu erfüllen gehabt hätte, und ihn so in der Ausbildung als Componist hinderte.

„Johann van Beethoven behauptete sein Amt pünktlich,“ heißt es noch in der Handschrift. Ein Jugendfreund Beethoven’s aber sah einmal, wie dieser seinen betrunkenen Vater zornig und gewaltsam aus den Händen eines Polizeibeamten befreite. Schon bei dem Tode der Mutter mußte ein College bei der Capelle die sehr bedürftige Familie auf jede Art thätig unterstützen, und der Vater selbst bittet kurz zuvor, da er sich mit seiner kranken Frau und vielen Kindern nicht mehr zu helfen wisse, bei dem Kurfürsten Max Franz um Unterstützung. Die Verwirrung steigt; der Vater versinkt stets mehr in seine traurige Schwäche; es bleibt dem Sohne, der ohnehin schon die Kosten des Haushaltes mit zu bestreiten hatte, nichts übrig, als mit einem kühnen männlichen Schritte sich selbst zum Haupte der Familie zu machen. Ich habe schon vor Jahren im ersten Bande von „Beethoven’s Leben“ das Schriftstück veröffentlicht, worin dem noch nicht Neunzehnjährigen vom Kurfürsten die Bitte gewährt wird, daß sein Vater von seinen Diensten gänzlich dispensirt und die Hälfte seines Gehaltes, das jetzt 600 Mark betrug, ihm selbst zur Erziehung seiner beiden Brüder und zur Tilgung der Schulden gereicht werde.

Die gute Absicht blieb leider trotz der Ausstellung dieses Decrets unerreicht. Der Vater hatte aus Schamgefühl innigst gebeten, jenes Decret doch nicht bei der Casse zu präsentiren, „um nicht öffentlich dafür angesehen zu werden, als sei er unfähig, seiner Familie selbst vorzustehen“. Nach seinem Tode, im December 1792 aber wurde der Sohn, wie er selbst in einem ebenfalls in meinem Leben Beethoven’s veröffentlichten Documente sagt, „mit Schröcken gewahr, daß sein Vater solches unterschlagen habe“.

Es ist ein schönes Zeugniß für den Charakter Beethoven’s, und wohl auch für den Geist der Familie im Allgemeinen, daß Beethoven trotz der Schwächen des Vaters ihm eine pietätvolle Erinnerung bewahrte. Sicherlich trug dazu bei, daß in seinem Gedächtniß die ehrwürdige Gestalt des Großvaters so befriedigend und versöhnend neben jenem stand. „Von seinen Eltern sprach er mit vieler Liebe und Achtung, besonders nannte er seinen Großvater einen Ehrenmann“, dieses Wort, dem unser Motto entstammt, ist aus den Jahren, wo Beethoven bereits auf seiner Höhe stand und Weltruhm genoß, aus der Zeit nach dem Wiener Congreß von 1814.

Im Geist des Großvaters die Ehre der Familie wieder unverdüstert, ja unvergleichlich glänzender herzustellen, verblieb jetzt das Ziel des von früher Jugend an hochstrebenden Enkels, und wie Welt weiß, wie ihm das gelungen ist. „Man konnte nicht sagen, daß Ludwig ehemals viel auf Cameraden oder Gesellschaft hielt. Nun gar, wenn er über Musik nachdenken oder sich allein beschäftigen mußte, nahm er eine ganz andere Fassung an, wurde sehr auf seinen Respect. Das waren ihm wie glücklichsten Stunden, wenn er von aller Gesellschaft befreit war, wenn die Seinigen alle heraus waren und er sich allein befand,“ so sagt unsere Quelle. Einmal sah ihn Cäcilia Fischer morgens früh im Fenster seines Schlafzimmers nach dem Hofe zu liegen, den Kopf in beide Hände gelegt und ganz ernsthaft aussehend. Sie ging über den Hof und rief ihn an, erhielt aber keine Antwort. Nachher sagte er auf ihre Frage: „Entschuldige mich, ich war da gerade in einem so schönen tiefen Gedanken beschäftigt, daß ich mich gar nicht stören lassen konnte.“ Diese Gedanken umfaßten schon damals, gleich Schiller’s „Seid umschlungen Millionen“, das ihm bereits zur Composition am Herzen lag, die Wonnen und Leiden der Menschheit. „Ich danke Ihnen für Ihren Rath, den Sie mir sehr oft bei dem Weiterkommen in meiner göttlichen Kunst ertheilten,“ schreibt er als Zweiundzwanzigjähriger an seinen Lehrer Christian Neefe. „Werde ich einst ein großer Mann, so haben auch Sie Theil daran.“




Die neue Justiz-Aera.[1]
Zur Orientirung über die am 1. October in’s Leben tretende Neugestaltung des deutschen Gerichtswesens.


Während sich in die Führung der deutschen Nation augenblicklich diejenigen Parteien theilen, die sich bisher dem Reiche und seiner Entfaltung entgegenstellten, steigt aus dem Schooße desselben wiederum eine seiner bedeutsamsten Schöpfungen, eine Institution, die sich bis in die entlegensten Winkel unseres Vaterlandes fühlbar machen wird; die Einheit deutscher Rechtspflege und deutschen Rechtsverfahrens, die große deutsche Justizorganisation. Ein Rückblick auf die Geschichte und das Wesen dieser tief eingreifenden Umgestaltung und die allgemeinen Grundsätze, welche bei dem am 1. October d. J. in Kraft tretenden Justizverfahren Geltung haben werden, dürfte daher nicht blos aufrichtend für die augenblicklich herabgedrückte Stimmung, sondern auch wichtig für das praktische Leben sein.

Unter den Forderungen, welche das in unserm Jahrhundert wieder mächtig erstarkte Nationalbewußtsein des deutschen Volkes mit gebieterischer Mahnung an die Leiter seiner Geschicke stellte, stand immer voran der Anspruch auf ein gleiches und einheitliches Recht und zugleich auf eine Heraushebung desselben aus den schweren Banden drückender Formen und dem lichtscheuen Verschluß der Gerichtsstuben. Es war nicht so leicht, dieser Forderung Gewähr zu verschaffen, denn das nationale deutsche Recht, dessen Wiege nicht zwischen Schranken und Schragen, sondern auf freier Wahlstatt stand, war durch das aus Wälschland herübergekommene römisch-canonische Recht in seiner eigenen Lebensentwickelung gehemmt und unterbrochen worden. Der starre Formalismus des letzteren hatte es immermehr dem Volksbewußtsein entfremdet und in die Arme des gelehrten Richters geführt. Die wachsende Zerstückelung des Reichs zerriß seine Einheit und stellte neben die gemeine die jene überbietende particulare Satzung. Der Gang der Rechtsverfolgung wurde ein immer langsamerer und schwerfälligerer, und mit der wachsenden politischen Selbstständigkeit des Volks erhob sich dessen Ruf nach Sprengung der erstarrenden Fesseln, nach Oeffentlichkeit und Mündlichkeit des Verfahrens nur immer mächtiger. Seltsamer Weise hatte gerade die Botmäßigkeit, unter welcher das linksrheinische deutsche Gebiet längere Zeit gestanden hatte, demselben das nach diesen Grundsätzen geregelte französische Verfahren gebracht, die größte Segnung aus der Hinterlassenschaft des großen Völkertyrannen.

Als in den achtundvierziger Jahren alle Volkswünsche auf den offenen Markt gebracht wurden, stand das auf Reform der Rechtspflege gerichtete Verlangen in erster Reihe. Durch die zunächst erreichte Einführung der Schwurgerichte war der Bann gebrochen, der Weg zum Ziele angetreten. Die Gesetzgebung der einzelnen Länder war nicht müßig. Besonders bahnbrechend ging Hannover vor. Mit frischem keckem Griffe warf es das alte System über den Haufen und schuf in seiner im Jahre 1852 veröffentlichten Civilproceßordnung die fast in allen Zügen getreue Mutter des am 1. October dieses Jahres in Kraft tretenden neuen Verfahrens. Im Jahre 1862 setzte dann auch der weiland deutsche Bundestag, jedoch unter Ausschluß Preußens, das damals schon seine eigenen Wege zu gehen anfing, in Hannover eine Commission zur Ausarbeitung einer Allgemeinen deutschen Proceßordnung nieder.

Da kam das Jahr 1866 und die Aufrichtung des Norddeutschen

  1. Von dem Verfasser obigen Artikels ist vor einiger Zeit eine lediglich für Laien bestimmte systematische Darstellung des Wissenswerthesten aus den neuen Justizgesetzen nebst einem Anhange, enthaltend Formulare für die gebräuchlichsten Anträge und Schriftstücke, unter dem Titel: „Deutsches Laienrechtsbuch“ (Erfurt, A. Stenger, Preis 1 Mark) erschienen, auf welche Veröffentlichung wir hiermit besonders aufmerksam machen.
    D. Red.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 616. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_616.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)