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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

Bundes. Seine gesetzgeberischen Organe nahmen die große nationale Arbeit sofort auf, und die erste ausgetragene Frucht, welche sie zeitigte, war die Herstellung eines allgemeinen deutschen Strafgesetzbuchs. Es war die leichtere Arbeit, denn auf diesem Gebiete war die nationale Entwickelung weniger von wälschen Einflüssen durchbrochen worden, es war aber auch die drängendere, denn da, wo es „an Hals und Hand ging“, um in der Sprache des altdeutschen Rechts zu reden, war die territoriale Verschiedenheit der Gesetze eine empfindlichere, als in den Fragen um Mein und Dein. So vollzog sich schon am 25. Mai 1870 die Geburt des Norddeutschen Strafgesetzbuchs, und die im nächsten Jahre zu dem Bunde hinzutretenden süddeutschen Staaten nahmen den norddeutschen Täufling ohne Weiteres an Kindesstatt an. Daneben war aber auch in Ausführung des Artikels 4 der Norddeutschen Bundesacte eine Commission zur Förderung der weiteren gesetzgeberischen Arbeiten auf dem Gebiete des Rechts zusammengetreten, zunächst zur Ausarbeitung eines Entwurfs zu einer deutschen Civil- und Strafproceßordnung. Schon war der neue norddeutsche Entwurf fertig und harrte der Sanction durch die gesetzgebenden Organe, als die großen Ereignisse des Jahres 1870 dazwischen traten und eine Erneuerung und Erweiterung der Commissionsarbeiten nöthig werden ließen. Nachdem die Vorlagen das Medium des Bundesraths und einer Reichstagscommission durchschritten, kamen sie in der Schlußsitzung des Reichstags am 21. December 1876, nicht ohne schwere Geburtswehen, hauptsächlich durch das Verhalten der nationalliberalen Partei zur Annahme. Auch kann nicht geleugnet werden, daß die starke Arbeitskraft des Justizministers Dr. Leonhardt sich erhebliche Verdienste um das Zustandekommen des Gesetzes erworben hat.

An diese Gesetze schloß sich dann im Jahre 1878 die Rechtsanwaltsordnung an, sowie die gesetzliche Fixirung der Gerichtskosten, der Gebühren für die Zeugen und Sachverständigen, die Gerichtsvollzieher und die Rechtsanwälte. Alle diese Gesetze treten zum 1. October 1879 im ganzen deutschen Reiche in Kraft. Von diesem Tage datirt somit ein ganz neuer geschichtlicher Abschnitt, eine neue Aera der deutschen Justiz. Die volle Krönung des Werkes wird indeß erst mit der Fertigstellung eines deutschen Civilgesetzbuches eintreten, mit dessen Ausarbeitung eine vom Reichstage ernannte Commission beschäftigt ist. Vor Jahren schon ist durch die Codification des Handels- und, noch vorher, des Wechselrechts hier eine wichtige Etappe geschaffen worden.

Die allgemeinen Grundsätze, welche durch das neue Verfahren hindurchgehn, sind, in Umrissen gezeichnet, folgende.

Gewissermaßen oberster Grundsatz, und als solcher auch in dem Gerichtsverfassungsgesetze vorangestellt, ist die völlige Unabhängigkeitsstellung der Gerichte. „Die richterliche Gewalt wird durch unabhängige, nur dem Gesetze unterworfene Gerichte ausgeübt.“ Auch der letzte Schein einer Cabinetsjustiz ist verflogen; alle Ausnahmegerichte sind ausdrücklich für unstatthaft erklärt. Die Loslösung der Rechtspflege von der Verwaltung ist, wo ja noch das Gegentheil bestand, nunmehr vollendete Thatsache.

Das Verfahren – im Strafrecht, Civilrecht und Concurse – ist innerhalb der Marken des deutschen Reiches jetzt ein völlig gleiches. Die richterliche Gewalt eines jeden deutschen Gerichtes erstreckt sich gleichmäßig über das ganze Reich, auf Jeden, der sich in den deutschen Grenzen aufhält. Der Betroffene hat einer an ihn ergangenen Weisung zu folgen, auch wenn das bestimmende Gericht nicht speciell dem Einzelstaate zugehört, in dem er sich befindet. Ebenso sind auch die Urtheile jedes deutschen Gerichts ohne Weiteres im ganzen deutschen Reiche vollstreckbar.

Jeder bei einem deutschen Gerichte zugelassene Anwalt ist befugt, vor jedem deutschen Gerichte als Vertheidiger und als Beistand einer Partei aufzutreten; nur die eigentliche Vertretung ist bei den vor den Landgerichten und den höhern Instanzen verhandelten Processen, welche dem Anwaltszwange unterliegen, an die besondere Zulassung zur Praxis vor dem Gericht des Processes geknüpft. Dagegen kann in den vor den Amtsgerichten abgewickelten Processen (Parteiprocessen), welche hauptsächlich Sachen behandeln, deren Werth die Summe von dreihundert Mark nicht übersteigt, jede proceßfähige Person vor jedem deutschen Amtsgerichte ihre Sache selbst führen oder mit deren Führung eine dritte Person, sei’s ein Rechtsanwalt oder eine andere rechtlich selbstständige Person, beauftragen.

Von großem Werthe, namentlich für die Geschäftswelt, ist die allgemeine Einführung des Mahnverfahrens. Bekanntlich findet der größte Procentsatz aller bei Gericht eingehenden Klagen seine Veranlassung in einer bloßen Zahlungsunlust des verklagten Schuldners und endet deshalb mit der ausdrücklichen oder stillschweigenden Unterwerfung des Schuldners unter das Gesuch des Klägers. Zu diesem Zweck genügt jetzt an Stelle der ein mündliches Verhör nöthig machenden Klage ein einfaches an das Amtsgericht des Wohnortes des Schuldners gerichtetes Gesuch um Erlaß eines Zahlungsgebots. Dieses Gebot enthält die Aufforderung an den Schuldner, binnen zwei Wochen den Gläubiger, bei Vermeidung sofortiger Zwangsvollstreckung, zu befriedigen oder beim Gericht Widerspruch zu erheben. Das Gebot kann sich auf die größten Summen erstecken.

Auch das Verhältniß zwischen Richter und Parteien ist ein freieres, selbstständiges, sozusagen reineres geworden. Der Bann des Bureaukratismus, in welchem die deutsche Beamtenwelt lange gefangen lag, ist hier durchbrochen. Die Parteien sind mündig geworden. Sie werden nicht mehr am Drahtseile amtlicher Bevormundung in der Form von an sie erlassenen Verfügungen geführt. Die Initiative ihrer Handlungen ist ihnen zurückgegeben. Frei und unbefangen erscheinen sie vor dem Stuhl des Richters in einem von diesem notirten Termine, zu dem sie sich gegenseitig selbst vorgeladen haben. Ebenso frei und unbefangen tritt ihnen der Richter gegenüber. Nicht erst vorbereitet durch ein mühsames Studium der Acten, nicht verwirrt durch die Spitzfindigkeiten, Unklarheiten und allerhand logischen Reserven eines vorhergehenden Schriftenwechsels der Parteien, läßt er die Anträge, Entgegnungen, Beschwerden und Vertheidigungen unmittelbar vor seinen Sinnen sich entwickeln. Losgelöst von der Last des technischen Dienstes, der sich in die Hände der Gerichtsschreiber gelegt findet, kann er seine Kraft allein dem Rechtfinden und Rechtsprechen widmen. Auch die Formel beherrscht ihn nicht mehr. Wie oft ist der deutsche Richter gezwungen gewesen, ihr seine bessere Ueberzeugung zu opfern! Er kann sich in unmittelbarem Verkehr mit den Parteien die Klarheit in der Sache verschaffen, welche die Parteischrift mitunter wohl geflissentlich verdeckte.

„Die Schrift,“ sagt ein neuerer juristischer Schriftsteller mit Recht, „hat zwar den Vortheil der schriftlichen Dauer, aber auch den Nachtheil des schwierigen Verständnisses und der Verdrehungen.“ Die bekannte sprüchwörtliche Redensart von der Geduld des Papieres verdankt ihren Ursprung dem volksthümlichen Mißtrauen gegen das Schreiberhandwerk.

Auch einer Schriftbarmachung der mündlichen Verhandlungen durch das gerichtliche Protokoll, soweit es sich dabei nicht um bestimmte Anträge oder den Proceß selbst aufhebende oder verändernde Erklärungen handelt, steht in strenger Verfolgung des Grundsatzes der Mündlichkeit das Verfahren entgegen. Die alte Actenherrlichkeit, von welcher der Humor des Liedes spricht, ist somit begraben. Hinter ihrem Sarge schreitet in grollender Trauer der in den Acten ergraute Beamte, der so oft bekannte, daß er ohne Acten nicht leben könne, und der an ihrem wahrhaft grausamen Wahrspruche. „Quod non est in actis, non est in mundo“ („Was nicht in den Acten steht, existirt in der Welt [des Juristen] nicht“), mit unentwegter Treue Zeit seines Lebens festhielt. Er vergißt, daß nach diesem Grundsatze der Sieg, den eine Partei erfocht, oft nur ein Sieg der Acten über die Wahrheit, der Form über den materiellen Inhalt war.

Erst im Eingangstexte des Urtheils, und allein da, wird der Thatbestand, das fachliche Verhältniß zwischen den Streitenden, festgestellt und kann dort Berichtigung finden.

Die seither bereits im Strafverfahren eingeführte Oeffentlichkeit der Verhandlung bildet eine weitere Schutzwehr gegen die schlimmen Geister des Verdrehens und Verdeutelns, der Verschleppung und Verklaubung. Sie wird ein Wecker für das Ehrgefühl, ein Mahner zur Klarheit und Bündigkeit.

Auch im Gange des Verfahrens selbst ist an die Stelle der vorgeschriebenen Form, von welcher oft kein Jota breit abgewichen werden konnte ohne die drohendsten Folgen für den Gewinn oder Verlust des Processes, eine freiere Bewegung getreten. Sonst bewegte sich das processuale Verfahren innerhalb festgezogener Schranken von einem Stadium zum anderen langsam und gemessen fort; es duldete keinen Grenzübergriff und warf hinter jeder verlassenen Station einen Wall auf, der den Rückschritt dahin, die Nachholung des darin Vergessenen oder Versäumten

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 617. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_617.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)