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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

Aus den Zeiten der schweren Noth.
„Westfälische“ Erinnerungen eines Kasselaners.


Als im Jahre 1806 zwischen König Friedrich Wilhelm dem Dritten von Preußen und Napoleon der Krieg ausbrach, welcher bald durch die Schlacht bei Jena eine für Preußen so verhängnißvolle Wendung nehmen sollte, neigte bekanntlich der Kurfürst Wilhelm der Erste von Hessen-Kassel zwar im Geheimen auf Preußens Seite, aber er wagte doch nicht offen für dasselbe Partei zu ergreifen. Trotz aller dringenden Mahnungen ließ er seine Truppen nicht zu den preußischen stoßen, sondern nahm eine abwartende Stellung ein, um erst zu sehen, nach welcher Seite sich das Kriegsglück wenden würde. Diese Zweideutigkeit seines Benehmens sollte sich bitter rächen. Napoleon, welcher wohl wußte, daß die Sympathien des Kurfürsten nicht ihm galten, schickte alsbald nach der Schlacht bei Jena den General Mortier mit einem französischen Armeecorps nach Kurhessen, um dieses Land zu besetzen und den Kurfürsten seines Thrones zu berauben.

Noch erinnert sich Schreiber dieser Zeilen deutlich des Abends – es war am 31. October 1806 – als man von Kassel aus am Saume des anderthalb Stunden entfernten Söhrer Waldes eine lange Reihe von Bivouacfeuern leuchten sah und sofort über die ganze Bevölkerung Kassels das bange Gefühl kam, daß die dort lagernden Franzosen, welche angeblich zur Besetzung Hannovers bestimmt waren, auch auf Kassel feindliche Absicht haben möchten. Diese Befürchtung wurde am nächsten Morgen zur Gewißheit, als der Kurfürst in größter Eile von Kassel nach seinem Sommerschloß Wilhelmshöhe flüchtete, von wo er dann über Arolsen und Hameln nach Schleswig, in das Gebiet seines Schwiegervaters, des Königs von Dänemark, gelangte. Kaum hatte der Kurfürst seine Hauptstadt verlassen, so rückten auch schon die Franzosen ein, entwaffneten die hessischen Truppen und nahmen alle Cassen in Beschlag. Napoleon erklärte die kurhessische Dynastie als der Herrschaft verlustig und übergab die Verwaltung des Landes einem französischen Generalgouverneur, dem Divisionsgeneral Lagrange.

Schon im Jahre 1806 herrschte im Hessenlande nach Auflösung der hessischen Regimenter eine große Gährung, welche hauptsächlich durch die heimgeschickten alten Soldaten genährt wurde. In Eschwege an der Werra kam es zum Aufruhr. An dessen Spitze befand sich der ehemalige hessische Unterofficier Schumann, welcher, nach rascher Unterdrückung des Aufstandes, in Kassel vor ein Kriegsgericht gestellt und in dem an der Fulda gelegenen Park, der sogenannten Au, erschossen wurde.

Im Jahre 1807 richtete Napoleon das Königreich Westfalen auf, dessen Hauptstadt Kassel und dessen Beherrscher der damals dreiundzwanzigjährige „Jérôme“ wurde.

Am 10. December 1807 hielt der neue König von Wilhelmshöhe aus einen prunkenden Einzug in seine künftige Residenz. Am Weichbilde der Stadt nächst dem Dorfe Wehlheiden empfing ihn der Magistrat von Kassel und überreichte ihm auf einem seidenen Kissen den goldenen Schlüssel der Stadt. Der König fuhr dann im offenen Wagen durch die Hauptstraßen nach dem alten Schlosse, welches auf der Stelle der späteren Kattenburg stand.

Kassel nahm unter der westfälischen Regierung einen ungeahnten Aufschwung, namentlich weil der lustige Hof Jérôme’s viel Geld unter die Leute brachte. Es läßt sich daher wohl begreifen, daß in der Gesinnung der meisten Kasselaner ein vollständiger Umschwung zu Gunsten der Franzosen vor sich ging. Hauptsächlich trugen hierzu auch die mancherlei neuen Einrichtungen im Staatswesen bei, durch welche die Standesvorrechte der früheren Zeit und alle Reste der alten feudalen Lasten beseitigt wurden. Für die Jugend zumal war es ein erhebender Gedanke, daß hinfort der Zutritt zu allen Aemtern nicht blos den Söhnen des Adels und der Beamten, sondern allen Ständen eröffnet war. Und so beseelte die jungen Leute bürgerlichen Standes damals vorzugsweise der Wunsch, durch die militärische Laufbahn zu Ruhm, Ehren und Würden zu gelangen. Das französische Wort, daß jeder Soldat den Marschallsstab im Tornister trage, hatte auch bei der Jugend Kassels gezündet, und daß das Ziel nur unter den französischen Adlern zu erreichen war, daraus machte sie sich nichts, da leider von einer deutsch-nationalen Gesinnung in jener Zeit weder bei den Fürsten noch bei den Völkern der Rheinbundstaaten viel zu finden war.

Aus diesen Umständen erklärt es sich, daß für den Aufstand der hessischen Bauern unter Oberst von Dörnberg (1809) in der Bevölkerung Kassels wenig Sympathieen vorhanden waren. Nachdem die schlecht bewaffneten und ungeordneten Schaaren Dörnberg’s von den westfälischen Truppen nach kurzem Gefechte bei der sogenannten Knallhütte, einem anderthalb Stunden von Kassel gelegenen Wirthshause, zersprengt worden waren (23. April 1809), füllte sich das Staatsgefängniß zu Kassel, das an der Fulda gelegene Castell, mit Gefangenen von allerlei Art, und das westfälische Kriegsgericht begann seine Blutarbeit.

Sein erstes Opfer war der ehemalige hessische Lieutenant von Hasserodt. Am Nachmittag des 2. Mai war ihm der Spruch des Kriegsgerichts, welcher ihn zum Tode durch Pulver und Blei verurtheilte, mitgetheilt worden, und schon am nächsten Morgen um neun Uhr wurde dieses Urtheil vollstreckt, und zwar auf dem sogenannten großen Forst, einer weiten Wiesenfläche unweit Kassels, welche schon damals dem Militär zu seinen Uebungen diente. Als von Hasserodt aus seiner Zelle zunächst in den Hof des Castells hinabgeführt und der Executionsmannschaft übergeben wurde, bat er den commandirenden Officier, einen ehemaligen Cameraden, um die Erlaubniß, daß nicht, wie gewöhnlich, sechs Mann auf ihn feuerten, sondern daß er sich drei zuverlässige Schützen aussuchen dürfe, welche ihm den letzten Dienst erweisen sollten. Da ihm diese Bitte gewährt wurde, wählte er sich drei Jäger aus und bat einen von diesen, ihm zwischen die Augen zu halten, während die beiden anderen ihm nach dem Herzen zielen sollten. Auf dem Forst angekommen und vor das bereits aufgeworfene Grab gestellt, ließ er sich die Augen nicht verbinden, und die drei wohlgezielten Kugeln machten seinem Leben augenblicklich ein Ende.

Glücklicher waren drei andere Gefangene, welchen es noch zu rechter Zeit gelang, durch kühne Flucht aus dem Castell dem Tode zu entrinnen. Es waren dies drei junge Officiere der westfälischen Armee, von Giesewald, Schmalhaus und Berner, welche, dem Beispiele des Obersten von Dörnberg folgend, sich an dem Aufstande betheiligt hatten. Ihre Zelle lag auf derjenigen Seite des Castells, deren gewaltige Grundmauer von der hier ziemlich tiefen und breiten Fulda bespült wird. Durch einen Freund in der Stadt hatten sie sich eine Feile und einen Strick zu verschaffen gewußt. In dunkler Nacht (10. Juni 1809) durchfeilten sie einen Eisenstab an dem Fenstergitter ihrer Zelle und bogen diesen mit vereinten Kräften so weit in die Höhe, daß man sich durch die entstandene Oeffnung durchzwängen konnte. An einem andern Eisenstabe ward dann der Strick befestigt, und an diesem ließ sich zuerst Lieutenant von Giesewald, welcher ein guter Schwimmer war, in den Fluß hinab. Es galt zunächst einen Kahn herbeizuschaffen, da von seinen beiden Cameraden Berner nur schlecht und Schmalhaus gar nicht schwimmen konnte.

Vorsichtig schwamm von Giesewald stromaufwärts unter der ganz in der Nähe befindlichen Fuldabrücke hindurch und fand nicht weit von derselben am Ufer einen Kahn, welchem aber leider das Ruder fehlte. Trotzdem band er ihn los und brachte ihn längs der Ufermauer glücklich stromab bis unter das Fenster des Castells, auf welchem sich dann auch seine beiden Schicksalsgenossen herabließen. In Ermangelung eines Ruders versuchten die drei jungen Männer mit den Händen den Kahn nach dem andern Ufer zu rudern, aber sie waren nicht im Stande, die Strömung zu überwinden, welche sie unaufhaltsam stromab trieb. Nicht weit unterhalb des Castells zieht sich quer durch die Fulda ein Wehr; diesem kam das Boot immer näher, und die Flüchtlinge schwebten in der augenscheinlichen Gefahr, mit dem Kahn über den brausenden Fall hinabgestürzt zu werden. Hier galt kein langes Besinnen: unverzagt sprangen alle drei aus dem Kahn in den Fluß; von Giesewald, wie schon bemerkt, ein trefflicher Schwimmer, zog mit dem linken Arm seinen Cameraden Schmalhans neben sich her und brachte ihn unter schweren Anstrengungen glücklich an’s Ufer. Auch Berner arbeitete sich mit Aufbietung seiner letzten Kraft durch das Wasser – und nach vielen Abenteuern schlugen sich die Flüchtlinge glücklich durch bis nach Sachsen, wo damals die Freischaar des Herzogs von Braunschweig-Oels stand; in diese traten sie sofort ein, um dann den kühnen Zug der „schwarzen Schaar“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 622. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_622.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)