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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

Die Russen hatten sich auf dem sogenannten kleinen Forst aufgestellt und beschossen von dort die Stadt. Die Westfalen hatten ihre Batterien vom Schloß an, Bellevue entlang, bis auf den Weinberg aufgestellt und erwiderten lebhaft das Feuer. Durch diese Beschießung der Stadt gerieth die Bürgerschaft in Aufruhr. Ein Schwarm Volkes, an der Spitze ein Bäcker, zog durch die Straßen und rief: „Bürger ’raus!“ Durch die drohende Haltung der Bürgerschaft wurde der General Alix genöthigt, am 30. September zu capituliren. Das Feuer wurde eingestellt und ein russischer Officier mit verbundenen Augen, voran ein blasender Trompeter, nach dem Rathhaus geleitet. In Folge der abgeschlossenen Capitulation verließen die westfälischen Truppen noch am Abend desselben Tages durch das Kölnische und Holländische Thor die Stadt mit Sack und Pack.

Am anderen Morgen (1. October 1813) hielt Tschernitscheff seinen Einzug in Kassel, und da das Volk ihn vielfach für den damals im preußischen Heere dienenden Kurprinzen hielt, so wurde er mit doppeltem Jubel empfangen und in das Bellevue-Schloß geleitet. Er erließ alsbald eine Proclamation, in welcher es hieß: „Das Königreich Westfalen welches aus Provinzen zusammengesetzt wurde, die ihren rechtmäßigen Oberherren mit Gewalt entrissen waren, hört von heute an auf, jedoch nicht, um als erobertes Land behandelt, sondern um von der französischen Herrschaft befreit zu werden.“

Diese Ankündigung kam noch um einige Wochen verfrüht; die Völkerschlacht bei Leipzig war noch nicht geschlagen. Tschernitscheff’s Kosakenschwarm (2300 Reiter mit 6 Kanonen) war weder im Stande, noch dazu angewiesen, den vorgeschobenen Posten in Kassel zu behaupten. Nur wenige Tage hielten sich die Russen in Kassel auf, wobei, wie ich mich sehr deutlich erinnere, alle Kinder die gutmüthigen Kosaken auf ihren kleinen Pferden, trotz ihrer langen Bärte und langen Lanzen, sehr lieb gewannen. Besonders seltsam nahmen sich einige darunter befindliche Baschkiren aus, welche nach ihrer heimischen Sitte noch mit Bogen und Pfeilen bewaffnet waren. Damals stand auf der Mitte des kreisrunden, durch sein siebenfaches Echo berühmten Königsplatzes ein Marmor-Standbild des Kaisers Napoleon. Nach diesem schossen die Baschkiren mit ihren Pfeilen und jubelten laut auf, als es endlich einem von ihnen gelungen war, der Statue die Nase abzuschießen.

Nach dem so rasch wieder erfolgten Rückzuge der Russen (3. October) war Kassel auf kurze Zeit herrenlos. Um die Stadt nicht der Anarchie verfallen zu lassen, traten vierzig der angesehensten Bürger zusammen und bildeten eine Art von provisorischer Regierung. Als zehn Tage nach seiner übereilten Flucht Jérôme mit französischen Truppen, welche er aus Mainz herangezogen hatte, noch einmal nach Kassel zurückkehrte, wurden jene vierzig Bürger in’s Castell geworfen und würden einem strengen Spruche des Kriegsgerichts sicher nicht entgangen sein, wenn nicht inzwischen die Schlacht bei Leipzig mit dem ganzen Königreiche Westfalen gründlich aufgeräumt hätte. Am 26. October verkündete eine Bekanntmachung der Minister: der König sehe sich durch den Drang der Zeitumstände veranlaßt, sich aus seinen Staaten zu entfernen. Mit zahlreichen Wagen, welche die Kostbarkeiten aus allen Schlössern fortführten, entfloh Jérôme zum zweiten Mal, und zwar diesmal gleich über den Rhein. Er hat seine Residenz Kassel nie wieder gesehen.




Blätter und Blüthen.


Weltliche Feste in den Kirchen Amerikas. Im Gegensatz zu dem geistig regeren Westen Nordamerikas weht in den östlich gelegenen Neu-Englandstaaten noch vielfach etwas von jener puritanischen Luft, welche die „Pilgerväter“ 1620 bei ihrer Landung am Plymouthfelsen (vergl. „Der Altvätertag der Union“ in Nr. 51, 1878) in’s Land trugen.

Nirgends spielt die Kirche wohl eine so große Rolle in der Gesellschaft, wie in den eben bezeichneten Gebieten von Amerika. In Springfield (in Massachusetts) z. B. existiren 36 Kirchen und 30 verschiedene Gemeinden, was für den geselligen und gesellschaftlichen Verkehr sehr lähmend ist, denn wie sich ist Europa Coterien aus dem Bürger-, dem Beamten-, dem Finanz- und Militärstand bilden, so bezeichnen in jenen Gegenden Amerikas diese Gemeinden ebenso viele Coterien, in die zu kommen es nur gelingt, wenn man dieselbe Kirche, ob aus Ueberzeugung, ob aus Politik, besucht. Jede Gemeinde sammelt und spendet für sich allein, und immer in der Kirche, weshalb auch die Einrichtung der Kirchen eine ganz andere ist, als bei uns in Europa.

Das erste Fest, dem ich in einer Springfielder Kirche beiwohnte, war ein Erdbeerfest, welches in den Zeitungen angekündigt war.

Ein Erdbeerfest! Eintritt fünfzehn Cents, Kinder zehn Cents, Erfrischungen und Unterhaltung in der Kirche! Das war mir neu, und ich beschloß, das Fest mir anzusehen.

Als ich hinkam, hatte es schon begonnen; in der hochgewölbten Kirche tummelten sich jauchzende Kinder, war es ihnen doch heute gestattet, frei überall herumzulaufen; selbst auf des Predigers Plattform wagten sie sich und stritten, wer zuerst reden solle.

In der schönen, einem Saale ähnlichen großen Sakristei waren Tische und Bänke an den Wänden aufgestellt; junge Damen bedienten die Kommenden mit Thee, Kaffee, Kuchen, Eis und vor Allem mit Erdbeeren, welche in Amerika auf Aeckern gezogen werden und den Hauptertrag mancher Farmen bilden. Die Preise waren mäßig, obwohl der Erlös für die Kirche bestimmt war.

Die Pfeiler der Sacristei hatte man reizend mit großen frischen Bouquets geschmückt, die gleich Medaillonbildern daran befestigt waren; in allen Nischen des Raumes standen Tische mit schönen Arbeiten, welche die Damen der Gemeinde gespendet hatten und die zu hohen Preisen verkauft wurden. An dem einen Ende der Sacristei, auf einer Bühne, welche im Winter zu Concerten und zum Theaterspiel verwendet wird, blühte ein förmlicher Garten von Blumen; es gab da Bouquets von allen Größen, zu allen Preisen. Die Maiglöckchen mit ihrem berauschenden Dufte, und die Rose, der Liebling der Amerikaner, hatten da ihr Lager aufgeschlagen; hier war das Gedränge der Kauflustigen am größten; die jungen Verkäuferinnen hatten vollauf zu thun.

Es war ein frisches, fröhliches Frühlingsfest, frei von äußerem Zwang und doch durch Ort und Zweck in gewisse Schranken gebannt. Eine Predigt wurde nicht gehalten; der Prediger selbst war gar nicht anwesend; es war einfach eine freiwillige Sammlung für die Kirche, von den Kirchenmitgliedern, die auch Erfrischungen besorgten, ausgehend.

Man bleibt aber nicht bei solch poetischen Erdbeerfesten stehen. Die Gemeinden geben ihre Concerte, Theatervorstellungen, Soiréen und Thees in der Kirche. Neben der Sacristei befindet sich eine Küche und Geschirrkammer, und statt des Weihrauchs strömt Abends gar oft der Duft eines gebratenen Truthahns durch die heiligen Räume.

Die Idee, die Gemeindemitglieder in dieser Weise mit einander bekannt zu machen ist gewiß eine ganz praktische, aber solche Feste nehmen der Kirche jede religiöse Weihe; denn wo ich Abends gespeist, getanzt und gelacht habe, kann ich den andern Tag nicht meine Gedanken zu Gott erheben, ohne unwillkürlich an die vergangene Unterhaltung zu denken, wenn sie auch nur in den Nebenräumen der Kirche stattfand.

Aber nicht nur zur Unterhaltung versammelt man sich in der Kirche, auch zu wohlthätigen Zwecken. Die Damen der Gemeinde kommen an bestimmten Abenden der Woche dort zusammen, um für arme Kinder Anzüge zuzuschneiden und zu arbeiten. Ueberhaupt sind die Amerikaner, wie bekannt, äußerst wohlthätig.

Die Unterhaltungen werden immer ist den Zeitungen angekündigt; so z. B. heißt es: heute Abend Austernschmaus in der Methodisten-Kirche, oder: heute Abendunterhaltung mit Tableaux in der Congregisten-Kirche. Sogar die Katholiken machen diese Mode mit. Sie geben ihre Feste und Unterhaltungen aber immer im Stadthause im großen Saal und erreichen dieselben Zwecke, denselben Ertrag. Im Sommer werden auch Ausflüge gemacht, und da heißt es: „Picnic der Baptisten-Kirche“, oder „Picnic der South (Süd)-Kirche“ und so fort; da wird in offenen Omnibuswagen welche zwanzig bis dreißig Personen fassen, auf’s Land gefahren, wobei die Erfrischungen mitgebracht werden. So ist die Kirche der Brennpunkt des gesellschaftlichen Lebens in jenen Gegenden Amerikas.




Eine neue Art von Särgen. Auf Anregung des Artikels „Zur Frage der Leichenbestattung“ von Karl Vogt (Nr. 14 d. J.) sucht ein Industrieller der Provinz Sachsen den Sanitätszwecken der Feuerbestattung und zugleich den Ansprüchen der Pietät in folgender Weise gerecht zu werden. Er verwendet für die Särge nicht mehr das leichtvergängliche Holz, sondern stellt sie aus gebranntem Thon oder Cement, Asphalt oder Gyps her. Da aus Mangel an Platz die Neubenutzung der Grabstätten vielfach schon nach acht bis zehn Jahren geschehen müßte, legt man zwischen zwei Gräberreihen einen Thonröhrenstrang, mit welchem jeder Sarg mittelst eines Thonrohrs engster Sorte verbunden wird; sämmtliche große Röhrenstränge des Friedhofs münden nun in einen Hauptstrang, an dessen Ende ein fortwährendes Coaksfeuer unterhalten wird. Der Cementsarg ist so porös, daß an die Stelle der abziehenden Gase atmosphärische Luft treten kann, und so geht die Oxydation der Körper rasch von Statten. Im Laufe von acht Jahren kann jeder Leichnam auf diese Weise in Asche verwandelt werden, die alsdann die Angehörigen der Todten in einer Urne aufbewahren, während die Grabstätte einen neuen Sarg aufnehmen kann. Herr A. Lesse in Bitterfeld giebt nähere Auskunft über diesen beachtenswerthen Gegenstand.



Nachträgliches zu dem Artikel „Die Bewohner des Mundes. (Nr. 30 dieses Jahrganges.) Der Vorstand des Centralvereins deutscher Zahnärzte theilt uns im Hinblick auf die im genannen Artikel erwähnten Mittel zum Ausspülen des Mundes und zum Putzen der Zähne freundlichst mit, daß die deutschen Zahnärzte auf Grund sorgfältiger Prüfung es gegenwärtig vorziehen, zum Mundausspülen Wasser mit reinem Spiritus gemischt, zum Zähneputzen fein geschlemmte Kreide, Beides mit unwesentlichen aromatischen Zusätzen, zu verwenden; die Mittheilung verweist im Uebrigen auf das Buch „Anleitung zur Pflege der Zähne und des Mundes“ von Dr. W. Süersen. Wir empfehlen diese Bemerkungen der Beachtung unserer Leser.

D. Red.



Verantwortlicher Redacteur: Dr. Ernst Ziel in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 624. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_624.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)