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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

sie wird dem Beobachter, der die Symptome der Zeit mit ärztlichem Forscherblick betrachtet, den Weg finden helfen, wie die allgemeine Krankheit zu erkennen, wie sie zu heilen sei.

David Lazzaretti wurde am 6. November 1834 in Arcidosso in Toscana geboren. Der Unterricht, den er in seiner Jugend genoß, war dürftig; früh genug mußte er als Fuhrmann seinem Vater Beistand leisten, dessen Geschäft es war, die hauptsächlichsten Erzeugnisse des Berges Amiata, Holz und Kohlen, auf die Märkte Toscanas zu führen. Hohen Wuchses, außerordentlich kräftig und gewaltthätig, fluchte er wie ein Heide oder, wie man eben so richtig sagen könnte, wie ein Toscaner und machte sich durch sein Auftreten einen gewissen Namen. Im Alter von 23 Jahren heirathete er gegen den Willen der Eltern des Mädchens; drei Jahre später (1860) kämpfte er als Freiwilliger in einem Reiterregiment gegen die Päpstlichen bei Castelfidardo. Seine Geschäfte als Fuhrmann gingen nach dem Kriege schlecht; er fand viele Zeit, zu lesen, und versuchte sich im Verseschreiben. Als er auf Anrathen von Freunden es aufgab, Lust- und Trauerspiele zu verfassen, warf sich sein unruhiger Geist auf das Studium der Theologie. Visionen und außerordentliche Offenbarungen blieben nicht aus; schließlich soll er wegen derselben dem Papste Pius dem Neunten vorgestellt worden sein, nachdem er vorher zwei- oder dreimal vergeblich versucht hatte, sich mit hohen Würdenträgern der Kirche in Verbindung zu setzen. Wichtig für sein späteres Auftreten wurde das zurückgezogene Leben, das er mehr als vier Monate lang in einer Einsiedelei führte, wo ihm Erscheinungen von Engeln und Heiligen seine künftige Größe enthüllten und ihm die Gabe der Weissagung verliehen. Welche Fortschritte er in der allgemeinen Bildung machte, ist schwer zu sagen. Mit der Rechtschreibung stand er noch am 18. September 1868 auf sehr gespanntem Fuße, als er von der Einsiedelei aus seine Frau aufforderte, sich zu beruhigen, die Kinder gut zu erziehen und ihm zu vertrauen. Classisch ist, wie er in jenem Briefe den Geldpunkt mit den Worten abthut: „Sieh, wie du durchkommst!“

Als der „Prophet“ – denn diesen Namen legte sich nun David Lazzaretti bei – am 8. Januar 1869 in feierlicher Abendstunde wieder nach Hause zurückkam, wurde ihm ein großer Empfang zu Theil. Er hatte einen gravitätischen Gang angenommen, erschien im unvermeidlichen langen und ungepflegten Prophetenbart und befleißigte sich einer langsamen Redeweise. Auf der Stirn trug er ein Zeichen, das ihm der heilige Petrus aufgedrückt haben sollte: zwei C, von denen eines auf den Kopf gestellt, mit dem Kreuze darüber in der Mitte. (Auch sonst war er tätowirt, was Irrenärzte und Polizeibeamte mit Interesse hören werden.)

Bauern und kleine Grundbesitzer kamen nun herbei, um von ihm Weissagungen und ascetische Reden zu vernehmen oder Rath in weltlichen Angelegenheiten einzuholen. Hauptsächlich spielt der Kampf gegen den Steuerdruck in seinen Reden eine große Rolle, und daß er hiermit sich viele Anhänger warb, erklärt sich aus den Verhältnissen der zur Provinz Grosseto im früheren Toscana gehörigen fünf Gemeinden des Berges Amiata, welche den vorzüglichsten Schauplatz der Thätigkeit des „heiligen David“ bildeten. Dieselben haben beiläufig eine Ausdehnung von 697 Quadratkilometern und zählen 28,000 Einwohner. Es herrscht dort das in Toscana übliche Halbscheidsystem, die sogenannte Mezzadria vor, wonach der Bauer die eine Hälfte des Ertrags für sich behält und die andere dem Eigenthümer abliefert. In vier Orten erhebt Provinz und Gemeinde einen mehr als doppelt so großen Zuschlag zu der hohen Gebäude- und Grundsteuer; in Arcidosso ist dieser Zuschlag zur Staatssteuer mehr als dreimal so groß. Mitte des Jahres 1869 genoß der „heilige David“ bereits des größten Ansehens bei einem ansehnlichen Theil der Bevölkerung von Arcidosso und den nächsten Dörfern. Auf dem Monte Labbro, einem sich 1194 Meter über den Meeresspiegel erhebenden Berge in der Nähe von Arcidosso, wurde auf seine Anstiftung zuerst ein kolossaler Thurm, dann eine Kirche mit Einsiedelei errichtet, ohne daß er dafür einen Pfennig ausgegeben hätte. Das exaltirte Volk arbeitete nicht nur umsonst, sondern schaffte auch das zum gottgefälligen Werke nöthige Material als freiwillige Gabe herbei, und der Bischof von Montalcino entsendete zwei Geistliche zur Verrichtung des Gottesdienstes. David verweilte ein volles Jahr unter seinen Gläubigen, welche ihm Geld- und Geldeswerth zu bringen anfingen; dann empfand er das Bedürfniß, sich „in fremden Ländern“ der Gnade, die Stimme Gottes zu vernehmen, würdig zu machen. Eines Tages aber fand er sich plötzlich, als wäre er vom Himmel gefallen, unter einer jubelnden Menge von 1500 Köpfen wieder ein und verlas, auf einem Felsen stehend, eine aufrührerische Rede. Nachdem man schon früher einen politischen Proceß gegen ihn angestrengt hatte, ohne eine Verurtheilung zu erlangen, wurde er wegen dieser Rede vor Gericht gestellt, indessen wiederum frei gesprochen. Als er hierauf Gesellschaften gründete, deren Hauptzweck nach der Ansicht den Behörden der war, ihm Geld und Ansehen ohne Mühe und Arbeit zu verschaffen, schritt man zu seiner Verhaftung. Aber nach sieben Monaten zwangsweisen Aufenthalts in Scansano, wo ihn ein hochangesehener Mann, Oberstaatsanwalt unter der Regierung des Großherzogs, in sein Haus aufnahm, wurde er abermals in Freiheit gesetzt.

Nunmehr dehnte er seine Wanderungen auf entferntere Bezirke aus, wo ihm die Erweckung des religiösen Fanatismus reiche Geschenke eintrug. Auf’s Neue verhaftet und wegen fortgesetzten Betrugs und Landstreicherei zu fünfzehn Monaten Gefängniß, zu einem Jahr polizeilicher Beaufsichtigung und zur Tragung der Kosten verurtheilt, kam er mit heiler Haut davon durch das freisprechende Erkenntniß des Appellationsgerichtes von Perugia vom 20. September 1874. Um die Kosten dieses Processes zu decken, wandte er sich an seine Freunde und Gönner und brachte eine hübsche Summe Geldes zusammen, hauptsächlich von Franzosen. Da ihm indessen die sechs Monate Untersuchungshaft seines letzten Processes Bedenken über seine Sicherheit einflößten, so begab er sich mit seiner Familie nach Frankreich, wo er seine Kinder, einen Knaben und ein Mädchen, in Erziehungsanstalten that. Erst am 6. März vorigen Jahres tauchte der Apostel wieder in Monte Labbro auf; in der Zwischenzeit hatte er die Oberleitung seiner Gemeinde von der Fremde aus gehandhabt und Einiges an seiner Lehre modificirt.

Das religiöse Gesetzbuch des Propheten besteht aus nur zehn Capiteln, von denen das erste die Oberherrlichkeit des Papstes über alle Fürsten der Erde ausspricht; er wird Schiedsrichter zwischen den Völkern sein. Die Einnahmen des Staates stehen ebenso gut wie die Güter und Capitalien der Kirche zur Verfügung Seiner Heiligkeit, und die geistlichen Güter werden den alten Besitzern für Cultuszwecke zurückgegeben. Auch das politische Gesetzbuch zeichnet sich durch Kürze aus; dasselbe umfaßt dreizehn Artikel und bespricht die neue Regierungsform, die Wahl der zweiundsiebenzig Fürsten, die dem Papste, dem einzigen König von Italien, zur Seite stehen sollen, den Kriegsdienst etc.. Das Steuersystem ist prächtig ausgedacht. Mit Ausnahme der Priester, der Mönche und Nonnen, der Kinder unter zwanzig und der Greise über siebenzig Jahre sollen alle Bürger eine Personalclassensteuer von fünfzig Centesimi bis zu sechs Lire (vierzig Pfennig bis etwas weniger als fünf Mark), die Frauen galanter Weise nur die Hälfte bezahlen.

Das moralische Gesetzbuch handelt von der Erziehung der Jugend, welche den Orden anvertraut werden soll. Zu diesem Zwecke würde in jeder Gemeinde von 5000 Einwohnern ein Kloster existiren. Wenn man erwägt, daß Anno 1873 Rom allein 221 Klöster gehabt hat, so wundert man sich über die Mäßigung des clericalen Reformators. In zwölf Hauptstädten sollen unter der Aufsicht der geistlichen Obrigkeit Universitäten bestehen. Die Preßfreiheit ist selbstverständlich abgeschafft. Das bürgerliche Gesetzbuch erschöpft seine Aufgabe in zwölf Artikeln; die Wiedereinführung der amtlichen Preise der nothwendigsten Lebensbedürfnisse fehlt in diesem Zukunftsprogramm nicht.

Man glaubt gern, daß die Abfassung dieser vier Gesetzbücher nicht einmal zwei Monate in Anspruch genommen habe. 1871 forderte Lazzaretti in einer „Ein unbekannter Prophet“ benannten Weissagung den Papst, alle Monarchen und Staaten auf, seine künftige Größe anzuerkennen. Er nennt sich in dieser Schrift einen bisher noch unbekannten Fürsten, der die Fahne der Erlösung der Völker entrollen werde. Ganz genau beschreibt er die Kleidung, an welcher man den vom italienischen Apennin Herabsteigenden werde erkennen können. Dem König Victor Emanuel sagt er höchst anzügliche Dinge über seine Minister; er würde ihn um seiner Ahnen willen retten können, wenn er an seiner Seite wäre. Frankreich – von den andern Ländern wußte der gute Mann sehr wenig – solle die gottlose Bildsäule Voltaire’s zerbrechen und seine Werke in’s Feuer werfen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 633. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_633.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)