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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

Lazzaretti’s peinlich war, glaubten wenigstens an seine göttliche Inspiration als Religionsmann. Daß derselbe mit der clericalen Partei in Verbindung stand, wurde schon vor sieben Jahren durch in Beschlag genommene Briefe erwiesen. Einiges in dieser Beziehung ließ auch der Prophet selber dem obenerwähnten Sicherheitsbeamten gegenüber durchblicken, mit dem er gelegentlich einmal unter Aufgebung der mystischen Redeweise rein geschäftlich verkehrte. Auf den Rath einer höheren Intelligenz, gab er an, habe er in seinen Broschüren neben vielen Wahrheiten Einiges zu Gunsten der bestehenden Ordnung sagen müssen, um nicht in Ungelegenheiten zu gerathen. Er erzählte von seiner indirecten Verbindung mit Don Carlos, dessen Photographie er in einem Strohsacke verborgen hielt.

Das erste Auftreten Lazzaretti’s fällt in die Zeit nach dem unglücklichen Gefecht bei Mentana. Wie amtlich festgestellt ist, wurde 1872 der gewesene Fuhrmann von vier Franzosen, drei Geistlichen und einem Laien, und bald darauf von einer Fremden besucht, die als Abgesandte einer hohen Persönlichkeit, des Hauptes der legitimistischen Partei, galt. Dieselbe erschien als Bäuerin verkleidet mit einem Empfehlungsschreiben bei einem Domherrn in Roccalbegna, welcher Ort südöstlich von Arcidosso liegt, und ließ sich von demselben zum Propheten begleiten, der darauf bestand, den Dolmetscher zu entlassen und das Gespräch ohne Zeugen mit der Dame weiter zu führen. Die Kosten seines Aufenthalts in Frankreich bestritt, abgesehen von der Gemeinschaft in Arcidosso, die reactionäre Partei.

Die Leiter der dem Königreich Italien feindlichen Partei mögen die Leistungsfähigkeit und Bedeutung des Mannes überschätzt haben, der das ihnen angenehme Geschäft der Hetzerei gegen die bestehenden Zustände betrieb; sie mögen auch der Ansicht gewesen sein, daß er auf alle Fälle ein brauchbares Werkzeug für die Zwecke der Reaction sein könne. Das Wunderbare bleibt immer, daß Leute von Stand und Bildung, bei denen schwerlich politische Beweggründe maßgebend waren, hohe Stücke auf ihn gehalten haben. Wir denken beispielsweise an den angeführten Exoberstaatsanwalt. Daß der „heilige David“ den religiösen Fanatismus als Deckmantel vorgenommen und mit kalter Berechnung auf die Verführung der Landleute hingearbeitet habe, wird aus von ihm gemachten Aeußerungen behauptet, wonach er reich zu werden wünschte.

Die Phantasie des gewesenen Fuhrmanns war ungemein rege; in seinen Büchern ist viel die Rede von Rache, Blut und Opfer. Ueber die Größe der Aufgabe, die er sich gestellt hatte, ist er sich niemals klar gewesen; denn die Kenntniß der Welt und ihrer realen Verhältnisse ging ihm ab. Blind rannte er in sein Verderben; er kehrte in der ausgesprochenen Absicht vom Ausland zurück, die Expedition zu beginnen, die keinen guten Ausgang haben konnte. Eitelkeit, in der von ihm eingeschlagenen Richtung fortzufahren und die ihm zu Theil gewordene Verehrung durch Heldenthaten zu vermehren, mag ihn mitbestimmt haben. Die partielle Narrheit des Mannes liegt zu Tage, und seine Pfiffigkeit in einzelnen Dingen scheint uns nicht damit in Widerspruch zu stehen; der Prophet war hierin ein rechter Bauer, und das Vertrauen der Landleute zu ihm wird durch seine Beschränktheit erst recht verständlich. Wer von einem toscanischen Dorfe aus die ganze Welt reformiren und speciell den Communismus einführen will, bei dem kann es im Oberstübchen nicht geheuer sein. Das Geheimnißvolle des Propheten und der Ereignisse von Arcidosso, mitten in einer civilisirten Provinz – denn die Eisenbahn befindet sich in der Nähe des Ortes – ist indessen durch kein Raisonnement wegzuschaffen, ob wir den Mann mehr von der socialen, religiösen oder politischen Seite aus betrachten.

Die sich in dem „heiligen David“ darstellende merkwürdige Verquickung der socialen und religiösen Frage wird außerhalb Italiens mehr als ein Gegenstand psychologischer Betrachtung aufgefaßt werden; in Italien, wo bekanntlich die sociale Frage bis jetzt kaum in den Städten, wohl aber auf dem Lande besteht, wird man ohne Zweifel nicht die Mahnung verkennen, welche in dem gewaltsamen Tode des Propheten, sowie in dessen ganzem Lebensgange liegt.

J. Schuhmann.




Genesung.


Wer hat es trostlos nicht empfunden,
War er im tiefsten Innern krank,
Daß er zur Heilung seiner Wunden
Umsonst am Quell der Freude trank?

Der Born, der Andre labend netzte,
Versiecht’ an seiner Lippe Rand.
Nur noch ein Becher blieb – der letzte
Zu löschen seiner Seele Brand –

Da sendet ihm der Gottheit Gnade
Die Retterin in höchster Noth;
Gebrochen folgt er ihrem Pfade
Und ihrem ernsten Pflichtgebot.

Die Arbeit ist’s – unmerklich leise
Führt sie zum Leben ihn zurück,
Bannt ihn in ihre Zauberkreise,
Weckt ihm Genesung, neues Glück.

Die Arbeit ist’s – ob für die Seinen,
Ob für sein Volk, ob für die Welt,
Ob im Gewalt’gen, ob im Kleinen –
Die ihm das Herz mit Hoffnung schwellt.

Und wie er auch, von Gram bezwungen,
In Todessehnsucht einst gebebt,
er hat den Frieden sich errungen:
Nur wer für Andre schafft, der lebt!

Ernst Scherenberg.




Ein Wochenmarkt in St. Petersburg.


Petersburg liegt, wie jedes Schulkind weiß, an dem schönen Newastrom, der die Stadt nicht nur in zwei von einander sehr verschiedene Hälften theilt, sondern auch diese mit zahllosen Seitenarmen und Canälen durchschneidet. So kommt es, daß z. B. die Schiffe, die vom waldigen Norden, vom Ladogasee her, ihre aus Brennmaterial bestehenden Ladungen auf der Newa nach der Riesenstadt bringen, wenn nicht direct vor dem Hause des Bestellers, so doch in nächster Nähe seiner Wohnung abladen können.

Der bedeutendere Theil Petersburgs liegt an der linken Seite des Stromes, denn hier stehen in ihrer wuchtigen Größe die Isaaks-Kirche, der Winterpalast; hier breiten sich die enormen Gebäulichkeiten des Senats, der Admiralität aus; dahinter liegen die bekannten, von Menschen und Gespannen wimmelnden Straßen der Marskoi, der Newski etc.. Minder bekannt ist der Theil der Stadt, der sich auf dem rechten Ufer der Newa ausbreitet, und obwohl auch hier ein reges Treiben herrscht, so hat diese Seite doch ein weit ländlicheres Gepräge als die jenseitige.

Wasilij-Ostrow (Basilius-Insel) heißt dieser ganze Stadttheil, der, von Peter dem Großen (1703) angelegt, in schnurgeraden Linien erbaut wurde. Diese Linien führen von der Hauptnewa bis an die kleine Newa und sind der Quere nach gleichfalls von geraden, sehr breiten Straßen durchzogen, die mit ihren Gärten vor den Häusern, mit ihren schattigen breiten Fußwegen einen sehr angenehmen Eindruck machen. Man erzählt, der Erbauer dieser Quadratbauten habe beabsichtigt, all diese Straßen in Canäle zu verwandeln und so im hohen Norden ein zweites Venedig entstehen zu lassen, und allerdings liegt dieser Gedanke nahe, wenn man aus der Vogelperspective einen Blick auf die enorme Wassermasse wirft, die hier eine weite Strecke Landes zu Inseln macht.

Erwähnten wir vorhin den ländlichen Anstrich von Wasilij-Ostrow, so schließt dies jedoch nicht aus, daß auch hier, namentlich am Newaquai, großartige Gebäude stehen: die Universität mit ihren reichhaltigen Sammlungen, Bibliotheken etc., die Börse, der

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 635. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_635.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)