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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)


No. 39. 1879.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 1 ½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig· – In Heften à 50 Pfennig.


Im Schillingshof.
Von E. Marlitt.
(Schluß.)
Nachdruck verboten und
Uebersetzungsrecht vorbehalten.


Es war ein herrlicher Junimorgen. Man hatte die kranke Lucile auf die völlig zugfreie zweite Terrasse getragen – denn die Füßchen, die unter den Beifallsstürmen der Zuschauer seit drei Jahren schmetterlingshaft über die Bühne gegaukelt, waren „merkwürdiger Weise“ immer noch zu schwach, um die federleichte, kinderkleine Gestalt auch nur zwei Schritte weit zu tragen. Ein Zeltdach schützte die Kranke vor dem blendenden, belästigenden Sonnenlicht. Sie verharrte fröstelnd auf ihrem Ruhebett, in wärmende Decken gehüllt; nur der in blaue Atlasfalten und reiche Spitzengarnirungen vergrabene Oberkörper lag frei und auch jetzt in seiner hülflosen Zusammengesunkenheit noch kokett graziös auf dem Polster. Schön war dieses todtenbleiche Gesicht immer noch; die Lieblichkeit der Züge war selbst dem grausam verzerrenden Tod unerreichbar.

Mißmuthig rührte sie mit dem Löffel in der Frühstückschocolade.

„Ich weiß nicht – der Koch muß ein besonderes Vergnügen darin finden, mir meine Chocolade immer homöopathischer zu mischen; ich kann das elende Gebräu nicht trinken und bitte mir für künftig Kaffee aus,“ sagte sie, die Tasse wegschiebend, kurz und herb zu der Majorin, die eben kam, um nach ihr zu sehen.

„Der Kaffee ist Ihnen streng verboten,“ antwortete sie ruhig.

„Ja, ja – verboten!“ wiederholte die kleine Frau, den Ton ihrer Schwiegermutter nachahmend – man sah den alten, unbezwinglichen Haß in ihren Augen auffunkeln. „Hier in dieser trostlosen Villa wird das Wort mit unvergleichlicher Consequenz von Jung und Alt, Hoch und Niedrig mir gegenüber gehandhabt. Ich habe diese Plagerei satt, aber so satt – bis zum Ekel! Und diese Herren Aerzte – daß sich Gott erbarm’! - es ist Einer immer dümmer als der Andere. Können nicht einmal mit einem armseligen Katarrh fertig werden, und um solch eine Kleinigkeit schlagen sie einen Lärm, als ginge es an’s Leben, an mein junges, herrliches, vielbeneidetes Leben – bah, Blödsinn!“ fügte sie mit schwacher Stimme und fieberisch glänzenden Augen hinzu, während die Majorin sich anschickte, das Zelt zu verlassen.

„Ich bitte Sie, thun Sie mir den einzigen Gefallen und schließen Sie dort die Terrassenthür in Mercedes’ Salon – meinetwegen auch die seidenen Vorhänge!“ rief sie ihrer Schwiegermutter nach, die sofort zurückkam.

Man blickte vom Zelt aus durch eine weitoffene Glasthür in ein schönes Parterrezimmer hinauf, von dessen tiefer Wand sich die Gestalten eines Bildes ergreifend lebensvoll abhoben.

„Ich habe mich schon in Baron Schilling’s Atelier mehr als genug vor dieser gräulichen, hugenottischen Frauengruppe entsetzt,“ fuhr die kleine Frau nervös ärgerlich fort, „und nun tritt sie mir auch hier, wie das aufdringliche Fatum, immer wieder vor die Augen. Mercedes ist nicht recht klug, daß sie solch schauderhafte Bilder kauft und ihren sonst ganz passable hübschen Salon damit verdirbt.“

Sie griff grollend in die dicken Büschel aufgeblühter weißer Rankrosen, die seitwärts über das Bronzegitter der Terrasse herüberschaukelten, und zerpflückte sie, die Blätter in gedankenlosem Spiel über die seidene Decke hinstreuend. Dann richtete sie sich auf und warf sich eine Handvoll der weißen Kelchblätter über die dünnen, sorgfältig geordneten Locken – sie sah aus, wie von Schneeflocken überrieselt.

Die Majorin wandte sich weg und sah über das weite, herrliche Blumen- und Rasenparterre hin, das sich zu Füßen der Terrasse ausbreitete. Die Indignation über das bodenlos kindische Gebahren der jungen Frau schnürte ihr fast die Kehle zu, und doch verrieth kein Zug ihres ernsten Gesichtes, daß sie diese Sterbende hasse und verachte bis in den Tod hinein – sie dachte an die Kinder, denen sie das Leben gegeben, und bezwang sich.

„Ich möchte Paula haben,“ sagte hinter ihr die heisere, schwache, eigensinnige Stimme.

„Die Kleine macht mit Deborah ihren Morgenspaziergang; sie wird im Augenblick nicht herbeizuschaffen sein,“ versetzte die Majorin gelassen „Aber José höre ich eben zurückkommen.“

Gleich darauf sah man drei Reiter in den breiten Durchhau einlenken, der den Waldpark angesichts der Villa-Façade in seiner ganzen Tiefe durchschnitt und einen herrlichen Ausblick auf die fern sich hinstreckende Stadt gewährte.

Ruhig, gleichsam noch in den Genuß des Morgenrittes versunken, kamen die Reitenden näher und näher – es war Donna Mercedes mit José und dessen Hauslehrer. Dem Knaben sah man nicht mehr an, daß er vor drei Jahren schon halb und halb eine Beute des Todes gewesen war. Schlank und blühend, ein Bild der Kraft und Schönheit, saß er auf seinem kleinen Pferd – der Majorin schwoll das Herz vor Stolz und Freude, als er ihr von ferne mit seinem Hütchen grüßend zuwinkte.

„Der dumme Bub’ spielt wirklich schon den großen Herrn,“ grollte die ärgerliche Frauenstimme unter dem Zeltdach, während die Majorin am Terrassengeländer stand und mit der Hand die Näherkommenden begrüßte. „Aber Sie sind selber schuld, Madame; ein achtjähriger Junge gehört noch nicht auf’s Pferd –“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 641. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_641.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)