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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

und zu erziehen. Dafür aber fiel den Schülern die Pflicht zu, für den Unterhalt ihres Bacchanten zu sorgen und ihm allezeit willig zu dienen.

Aber gerade in diesem Punkte lag das Verhängniß des ganzen Verhältnisses, welches dasselbe seiner Entartung unabwendbar entgegentrieb. Der Mutter- oder Pathenpfennig des kleinen Schützen, den er gewissenhaft dem Bacchanten übergab, war nur zu bald verzehrt, der Bacchant aber verlangte gebieterisch seinen Zoll. Da blieb dem Schüler kaum etwas Weiteres übrig, als, wie es in der Zunftsprache hieß, „zu heischen“ und das Erbettelte oder sonst Gewonnene dem Bacchanten zu „präsentiren“. Mit der Zeit wurde nun für die Bacchanten, welche einen Stolz drein setzten, recht viele Schützen zu haben, das Unterrichten Nebensache und das Sichnährenlassen Hauptsache. Sie führten ein wahres Lotterleben, nahmen von der Beute des Tages immer den Löwenantheil, wo nicht das Ganze, und ließen die armen Schützen hungern und darben oder warfen ihnen von dem verzehrten Brode höchstens die verschimmelte Rinde hin. Wenn die Schützen ihnen nichts brachten, so erhielten sie Schläge, und wenn sie gar merkten, daß ein schlauer Schüler heimlich die erbettelten Bissen selber verzehrte, schlichen sie ihm nach und hießen ihn „sich den Mund mit Wasser ausspülen und dasselbe in eine Schüssel ausspucken, um darin die Spuren des Genossenen zu entdecken“.

So lebten die Schützen in beständiger Furcht und litten lieber so argen Hunger, daß sie wohl gar den Hunden die Knochen abjagten oder die Brosamen auflasen, welche in der Schule in die Ritzen der Dielen gefallen waren. Das Heischen selbst war ein geduldetes Privileg, ähnlich dem Heischen des Geschenks bei den Handwerksgesellen. Die Schützen zogen frank und frei mit ihren gestrickten Netzen auf dem Rücken, wohinein sie das Erbettelte steckten, in den Straßen umher. Um den Anschein einer Gegengabe zu gewinnen, sang ein Theil von ihnen vor den Thüren geistliche und weltliche Lieder ab.

Zu der ursprünglichen Harmlosigkeit trat freilich bald ein bedenkliches Raffinement. So lesen wir in Pauli’s „Schimpf und Ernst“, wie ein solcher Schüler die Dummheit und den Aberglauben einer mit einem Augenleiden behafteten Frau sich zu Nutze macht, indem er ihr gegen einen Goldgulden ein Brieflein aufschwatzt, bei dessen Tragen ihr kein Auge mehr weh thäte. Oft trägt die Sache auch einen Beigeschmack von Humor. So schildert uns die Selbstbiographie des weiland Schulrectors Thomas Platter in Basel, die derselbe hochbetagt im Jahre 1573 niederschrieb und welche zugleich die vornehmste Quelle für das geschilderte Treiben bildet, wie ein junger Schüler beim Weggange aus dem väterlichen Hause ein Stück Tuch mit bekommt, um sich daraus ein Röcklein machen zu lassen, und nun der fürsorgliche Bacchant dieses Tuch an sich nimmt und dazu benutzt, in jeder Stadt, die er mit seinen Schützen passirt, für dasselbe Haus für Haus das Macherlohn heischen zu lassen. Zuerst geschieht es in Ulm. Nach Ablauf eines Jahres kommen sie auf ihrer Rundreise wieder dahin zurück. Noch immer führen sie das Tuch bei sich, ohne daß dasselbe seine Wandlung zum Rocke inzwischen angetreten hätte. Nun macht es von Neuem um des Macherlohns willen die Runde in der Stadt, bis zuletzt doch ein etwas gedächtnißstarker Bürgersmann zu dem heischenden Schützen meint:

„Potz Marder, ist der Rock noch immer nicht gemacht? Ich glaube, Du gehst mit Bubenwerk um.“

„Zogen dann,“ erzählt der Biograph, „weiter; ich weiß aber nicht, wo das Tuch hingekommen und ob der Rock gemacht worden ist oder nicht.“

Wenn in den Städten die geheischte Nahrung oft eine so reichliche war, daß die Schüler sich, wie Platter einmal in Breslau erlebte, sogar überaßen, so war sie auf der Wanderschaft um so dürftiger, denn der Bauer war zähe im Geben und jagte die jugendlichen Bettler wohl gar mit Hunden vom Hofe. Dann sah sich die wandernde Schaar lange Zeit beschränkt auf den Genuß roher Zwiebeln, die nur mit etwas Salz bestreut wurden, auf gebratene Eicheln, Holzäpfel, Birnen und die Rüben, welche das Feld trug. Doch vervollkommnete sich der einfache Speisezettel oft noch durch einen ganz besonderen Leckerbissen: das war eine von der Heerde wegstibitzte Gans. Dieses Gänsestehlen war so allgemein im Brauche unter Bacchanten und Schützen, daß man von dem „Schießen“ oder Werfen der Gänse den Namen Schütze herleiten zu müssen glaubt. Denn die Bacchanten nahmen an dem Raube nur als die Verzehrenden Theil; sie sandten die Schützen zum Raube aus, von denen der eine nach der Gans warf, die anderen sie an sich nahmen und forttrugen.

In Meißen und Schlesien, so ging die Rede unter den Schülern, sei es erlaubter Brauch, Gänse und Enten und andere solche Speise zu nehmen, und geschähe dem, der glücklich entronnen und nicht auf frischer That ertappt sei, nichts. Den Bauern im Lande schien jedoch diese Sitte nicht zu Sinne zu sein, denn als Platter in einem Dorfe bei Meißen denselben Brauch in Ausübung bringen will und eine Gans im Haufen mit einem Steine todt wirft, sie dann aufnimmt und unter den Rock steckt, der freilich so kurz ist, daß Kopf und Füße des geflügelten Opfers darunter hervorsehen, kommt der Gänsehirt und schreit im Dorfe aus: „Der Bub’ hat mir eine Gans geraubt.“ Da kommen die Bauern mit Hellebarden aus den Häusern und verfolgen die flüchtigen Schützen, sodaß diese in der Angst die Gans wieder fahren lassen. Inzwischen saßen die Bacchanten gemüthlich im Wirtshause.

Gewöhnlich schlug die Schaar ihr Lager im Freien vor dem Orte auf, und die Schützen gingen allein hinein zum Requiriren und Fouragiren. So vergegenwärtigt auch das diesem Artikel beigefügte Bild von H. Heim ein solches Lager von fahrenden Schülern im grünenden Hag. Besonders drastisch ist darin der Gegensatz ausgeprägt zwischen dem süßen Nichtsthun der spielenden Herren Bacchanten und dem geschäftigen Treiben ihrer gnomenhaften Diener, deren Fehdezug in’s Reich der gefiederten Gelbschnäbel diesmal von günstigem Erfolge begleitet ist und darum mit einem bacchantischen Halleluja begrüßt wird. Nur der eine der Schützen, den seine noch gut erhaltene Schülerkleidung als einen erst vor Kurzem zur Schaar gekommenen Neuling kennzeichnet, vermag seine Furcht vor einem lauernden Hirten oder Dorfbüttel nicht zu bemeistern.

Eine Stelle in Platter’s genannter Selbstbiographie liefert zu der ganzen Scene einen so treffenden Commentar, daß wir es uns nicht versagen können, sie in Uebertragung hier anzufügen.

„Von da,“ erzählt der weiland fahrende Schüler, „zogen wir unser acht wieder hinweg auf Dresden zu. Da wir indessen unterwegs großen Hunger litten, beschlossen wir, uns einen Tag zu theilen. Etliche sollten nach Gänsen gehn, Etliche nach Rüben und Zwiebeln, Einer nach einem Hafen (Topfe), wir kleineren aber in die Stadt zum Neumarkt, der nicht weit von der Straße lag, und sollten da nach Brod und Salz auslugen. Auf den Abend wollten wir vor der Stadt wieder zusammenkommen, außer derselben das Lager aufschlagen und kochen, was wir dazu hätten. Da war ein Büchsenschuß von der Stadt ein Brunnen; dort wollten wir die Nacht bleiben, aber wie man in der Stadt das Feuer sah, schoß man zu uns heraus, traf uns jedoch nicht. Da wichen wir hinter einen Rain zu einem Wässerlein und Wäldlein. Die großen Gesellen hieben Stangen ab und machten eine Hütte. Ein Theil rupfte die Gänse, deren wir zwei hatten; Andere rösteten die Rüben in dem Hafen und thaten den Kopf, die Füße und die Gedärme hinein. Wieder Andere machten hölzerne Spieße und fingen an zu braten. Und als das Fleisch ein wenig roth war, hieben wir’s am Spieße ab und aßen’s, ebenso auch die Rüben. In der Nacht hörten wir etwas schnältern. Da war neben uns ein Weiher, den man am Tage abgelassen, und sprangen die Fische herum auf dem Moore. Da nahmen wir von den Fischen, so viel wir in einem Hemde an einem Stecken zu tragen vermochten, und zogen davon bis in ein Dorf. Dort gaben wir einem Bauern etliche Fische, daß er uns die andern in Bier kochte.“

Auch die Kleidung der kleinen Schützen war in den meisten Fällen eine so dürftige, wie sie unser Bild wiedergiebt. Als z. B. der junge Platter von Hause fortging, hatte er keine Hosen und nur sehr „böse“ Schuhe. Dies benutzt sein Bacchant Paulus Summerwetter, ihn, wenn er nicht laufen will, mit einer Gerte an die bloßen Beine zu schlagen. Und später noch klagt er, daß ihm die Schuhe gänzlich fehlten und ebenso ein Barett, ferner daß sein Wams zu kurz und ohne Falten sei.

Auch sonst macht sich die Uebermacht der Bacchanten über ihre jüngeren Pflegebefohlenen allenthalben geltend. Wenn die Schaar in ein Wirthshaus kommt, eine Wohlthat, die ihr nur nach einer guten Ernte zu Theil wird, so nehmen die Bacchanten die Betten im Voraus in Beschlag und ihre kleinen Zuträger müssen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 646. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_646.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)