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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

arbeiten, und manches nachbarliche Gefühl wird unter den Frauen erweckt, wenn sie zusammen auf einer Bank sitzen, einander Nadel oder Faden leihen, von derselben Hand bedient werden, von derselben Person Leitung erwarten. Auch einen Spielplatz – einen ummauerten Raum – habe ich für die Kinder einrichten lassen. Bisher haben Balltreiben, Schlagball, Schaukeln, Springen und das Singen einiger Kindergartenlieder mit übereinstimmenden Bewegungen die Hauptunterhaltung geliefert. Vor Kurzem aber habe ich für die Knaben das Exerciren eingeführt mit einer Trommel- und Pfeifenbande. Leider nahm die Sorge für die Häuser soviel Zeit in Anspruch, daß der Spielplatz etwas vernachlässigt wurde, und doch ist er ein höchst wichtiger Theil des Werkes. Die Uebel der Straßen und Gassen sind zu offenbar, um der Auseinandersetzung zu bedürfen. Der moralische Einfluß des Spielplatzes hängt indeß davon ab, daß sich Damen finden, die hinkommen, Spiele angeben, als Schiedsrichter auftreten, die Kinder kennen lernen und sich ihrer annehmen. Solcher hoffe ich immer zu finden.“

Mit sehr viel Tact und Feingefühl hat Miß Hill es verstanden, durch Anrufung des Schönheitssinnes ihrer Schutzbefohlenen zu deren sittlicher Erziehung beizutragen Das Leben der Armen ist eintönig; sie suchen gemeine Vergnügungsorte auf; sie stürzen sich in den Strudel wilder Belustigungen. Nun lud aber Miß Hill sie zu edleren, von Schönheit verklärten Vergnügungen als ihre Gäste ein; ein angeborenes Ehrgefühl erhielt den guten Ton in der ganzen Gesellschaft. „Sicherlich,“ ruft sie aus, „es kann keinen erhebenderen, dankbareren Augenblick geben, als wenn wir eine große Anzahl dieser Menschenkinder, denen das Leben dumpf und sorgenvoll verfließt, zu einem fröhlichen heiligen Christfest um uns versammelt sehen, oder wenn wir sie in der schönen Sommerzeit nach einem heiteren, stillen Orte führen, wo sie, durch ein Gefühl der Zusammengehörigkeit unter einander verbunden, durch die Gegenwart derer, die sie lieben und von ihnen geliebt werden, unbewußter Weise vor Unrecht bewahrt werden.

Alle diese Gelegenheiten des Zusammenkommens sind für unser Verhältniß zu den Armen unschätzbar, und doch würden sie wenig nützen ohne die geschäftliche Beziehung, die uns mit ihnen verbindet, ohne die Fürsorge, die jedem einzelnen Mitgliede des kleinen Kreises zu Theil wird. Allwöchentlich beim Einziehen der Miethe findet sich die Gelegenheit, jede Familie allein zu sehen. Da giebt es eine Menge Dinge zu verhandeln. Erstens, die rein äußerlichen Geschäftssachen: Erhebung der Miethe, Wünsche der Miethsleute in Bezug auf Reparaturen; zuweilen Entscheidungen bezüglich des Verhältnisses zu anderen Miethern, dann wieder Verweise wegen vorgekommener Unordnungen. Eine wesentliche Rolle spielen die traurigen oder erfreulichen Mittheilungen über Gesundheit, Verdienst, über die kleinen Ereignisse der Woche. Zuweilen erheben sich schwere Fragen über wichtige Wendepunkte im Leben der Familie – soll die Tochter in Dienst gehen? soll man das kranke Kind in das Spital bringen? etc.“

Im Laufe der Zeit trugen denn diese mancherlei Methode ihre Früchte in dem kleinen Reiche der Miß Hill.

„Das Gefühl, einer ruhigen Ueberlegenheit und einem herzlichen Mitgefühl zu begegnen,“ sagte sie, „machte sich geltend, und immer weniger kamen Ausbrüche von Wildheit und Rohheit uns gegenüber vor. Noch ehe der erste Winter vorüber war, geschah es öfter, daß Jemand sich beeilte, uns die Treppe hinauf zu leuchten, und anstatt daß mir, wie früher, das Miethbuch nebst Geld durch die halboffene Thür zugestoßen wurde und ein fest dawider gestemmter Fuß mir den Eingang verwehrte, war nun mein Empfang: „O Fräulein, können Sie nicht auf einen Augenblick hereinkommen und sich setzen?“

Anfangs gehe ich zu regelmäßigen Zeiten in die Häuser, dann reinigen sie Alles zu meinem Empfang; sie haben das Vergnügen, für mich Vorbereitungen zu treffen und meine Befriedigung zu sehen; später komme ich zu unerwarteten Zeiten, um sie zu der Kraft zu erheben, immer die nöthige Reinlichkeit walten zu lassen. Ich habe die Erfahrung gemacht, daß die Leute sich schämen, einen Ort, für den Sorge getragen wird, zu verwahrlosen. Dieses ihr Gefühl, verbunden mit der Thatsache, daß sie nicht gern diejenigen, die sie zu lieben gelernt und deren Gesichtspunkt höher ist als ihr eigener, Dinge sehen lassen, welche sie betrüben würden, hat es uns möglich gemacht, beinahe jede Reform in äußeren Dingen durchzuführen; der sicherste Weg, die Reinhaltung eines Ortes zu bewirken, war, ihn oft selbst zu besehen. Blickt man auf die Jahre zurück, wie sie vorübergehen, so sieht man einen Erfolg, der nicht klein ist; aber Tag für Tag hat man mit solchen Kleinigkeiten zu thun, daß sie die Geduld auf eine harte Probe stellen, wenn man nicht über sie hinaus und durch sie hindurch sieht – Schlösser zu repariren, Anzeigen zu machen, den fehlenden Schilling der Wochenmiethe drei- und viermal einzufordern, kleinliche Streitigkeiten zu schlichten, Verweise zu geben, die nämlichen Vorstellungen wieder und wieder zu machen.

Aber von diesen Dingen und ihrer gewissenhaften Ausführung hängt das Leben der ganzen Sache ab, durch sie wird ein stetiges Fortschreiten gesichert. Es sind die kleinen Dinge dieser Welt, welche dem Leben unserer Mitmenschen die Färbung geben, und auf den ausdauernden Anstrengungen zu ihrer Verbesserung beruht der Fortschritt.

Man sagt mir vielleicht: ‚Das ist recht gut, soweit es dich und deinen kleinen Kreis von Miethsleuten angeht, aber wie hilft uns das, mit den ungeheuren Massen von Armen in unseren großen Städten fertig zu werden?’ Ich antworte: ‚Bestehen die großen Massen von Armen nicht aus vielen kleinen Kreisen? Sind die großen Städte nicht in kleine Bezirke theilbar? Giebt es darin nicht Leute, die freudig bereit wären, die regelmäßige Leitung eines oder mehrerer Häuser zu unternehmen, wenn sie von dem Besitzer dazu autorisirt würden? Und warum sollte man nicht diese Leitung registriren können, sodaß mit der Zeit, wenn sich mehr und mehr Freiwillige fänden, die ganze Stadt eingetheilt würde und alle einzelnen Stücke der Arbeit wie Steinchen eines Mosaiks sich ist einander fügten, um ein verbundenes Ganzes zu bilden?’“

Ich möchte diesen Mittheilungen aus Miß Hill’s kleiner Schrift noch hinzufügen: Wenn in einer Grube hundert Bergleute verschüttet sind und wir mit aller Kraft daran gehen, sie dem gewissen Tode zu entreißen, so kommt uns ja auch der natürliche Gedanke, daß nicht alle gerettet werden dürften. Allein das hindert unsere Anstrengungen nicht; wir preisen uns glücklich um Jeden, der zu neuem Leben erweckt wurde; wir halten uns für belohnt, wenn wir auch nur für einen gearbeitet haben. So sei es auch hier, und darum an’s Werk! Ist den größten Städten Deutschlands kann man Häuser mit 10 bis 12 Arbeiterwohnungen mit einer Anzahlung von 6000 bis 9000 Mark kaufen, und der übrige Theil des Geldes wird von Corporationen, Stiftungen und von Capitalisten dargeliehen werden, die so leicht – wenn es ein solches Unternehmen gilt – nicht kündigen würden. Und über ein Capital von 9000 Mark verfügt so manches ältere Mädchen, oder Menschenfreunde geben die Summe her, wenn das Haus unter eine richtige Leitung kommt. Auch können ja Eltern anstatt der Mitgift, welche sie ihrer Tochter im Falle der Verheirathung bestimmt haben, ein solches Grundstück für sie kaufen. Wie anders wird das Mädchen alsdann die Wohlthaten empfinden, welche ihr sicheres, edles Dasein ihr bietet; wie viel Gegenstände der Besprechung und Berathung wird es mit den theuern Eltern geben, nun jeder dieser drei in Liebe verbundenen Menschen einen Wirkungskreis nach seinen Kräften gefunden! Und wie viel Wärme wird das Mädchen aus dem schönen Familienkreise zu ihren Armen tragen, welche sie zu erziehen hat, ein Beruf, für den dem Weibe so wunderbare Begabung verliehen ist!

Vor meiner Seele steht ein Ideal: Wenn jedes Haus, das Wohnungen für Arme bietet, unter der Verwaltung von edlen Frauen gleich Miß Hill stünde, wenn Siechenhäuser aller Orten die unheilbar kranken Bedürftigen aufnähmen, wenn Alters- und Krankencassen für alle die schwer ringenden, arbeitenden Männer gegründet wären, dann hätten wir den Socialismus und seine Irrlehren nicht zu fürchten. Wir wären alsdann im schönsten, wahrhaft göttlichen Sinne „ein einzig Volk von Brüdern“.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 650. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_650.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)