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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

und die Hinterthür nach dem Hof zu schließen und zu verriegeln, behufs Sicherung seines Rückzugs. Um noch einmal den Verdacht der Hausbewohner auf eine falsche Spur zu leiten, habe er die Hausthür geöffnet und laut zugeschlagen. Dann sei er lautlos zu seiner Kammer zurückgeeilt – von Niemandem erkannt, für Niemand verdächtig, wie er meinte. Aber das blutgetränkte Taschentuch in seinen Händen habe im Dunkel der Nacht, ohne daß er selbst es ahnte, seine Spur verrathen. Margret habe ihn vor der That hinabschleichen hören, der eine der Lehrlinge ihn bei seiner Rückkehr durch die Kammer hasten sehen. Dazu kämen nun die Beweise, welche die noch in der nämlichen Nacht unternommenen Erörterungen, die später aufgefundenen Zeugnisse wider King ergaben: die Fasern der Unterbeinkleider King’s an den Fingernägeln des Ermordeten, das versteckte blutige Taschentuch, die dem Angeklagten gehörende Mordwaffe, der fehlgeschlagene, wenn auch heroische Versuch desselben, durch die Wunde, die er sich nach seiner Verhaftung freiwillig beigebracht, das furchtbare Zeugniß der Blutspur zu entkräften. Das Motiv zu der mit beispielloser Ruhe, Hinterlist und Tücke und mit ungewöhnlicher Ueberlegung ausgeführten That sei das Streben King’s gewesen, von der Wittwe Wolf als Geschäftsführer und später als Geschäftseigner angenommen zu werden und Natalie Becker zu heirathen.

Die Vertheidigung hatte dieser klaren, scharfen Beweisführung der Anklage gegenüber einen schweren Stand.

Sie versuchte den Nachweis, daß kein Anderer als Karl Bahring der Thäter sei. Auf ihn wiesen die zerrissenen Briefe, das Taschentuch im Keller. Sein Motiv zur That, Liebeseifersucht, sei klar und greifbar, das Motiv, welches die Staatsanwaltschaft King unterlege, verworren unpsychologisch, eine Kette von unglaubhaften Hypothesen. Daß King Bahring’s Taschentuch entwendet, sei in keiner Weise erwiesen. Er wäre thöricht gewesen, wenn er es gethan und sich der Ueberführung dieser Entwendung ausgesetzt hätte. Bahring habe gemordet mit dem festen Vorsatze, sich dann selbst zu tödten. Deshalb habe er alle die Beweise seiner That zurückgelassen, auf dem Mordschauplatz verstreut. Nur sein Haus habe er unverfolgt gewinnen wollen, um hier seine That selbst zu sühnen, und das ihm lästige Leben hinzugeben. Bahring’s Schuld an der Ermordung Wolf’s sprächen auch die letzten Zeilen offen aus, die Bahring angesichts des Todes geschrieben und die darum gewiß die volle Wahrheit sagten. Margret, welche King offenbar hasse und die darum als Zeugin verdächtig sei, habe die weitere Verfolgung der Spur, welche auf Bahring als Thäter hinwies, nun ganz von diesem abgelenkt. Deshalb sei Alles unerörtert geblieben, was Bahring’s Thäterschaft noch zweifelloser hätte beweisen können. Man habe nicht untersucht, ob Bahring denn nicht Beinkleider vom nämlichen Stoff getragen habe, wie er an Wolf’s Nägeln gefunden worden sei. Man habe nicht erörtert, wo Bahring sich gerade in der Stunde der Ermordung Wolf’s aufgehalten habe. Sicher sei er damals nicht mehr in der Ressource und noch nicht zu Hause gewesen. Erst die Vertheidigung habe erörtert und bewiesen, daß Bahring einen großen scharfen Dolch getragen.

King sei, nach dem Zeugnisse Aller in einem solchen Zustande der Erschlaffung in jener Nacht nach Hause gekommen, sei seiner Müdigkeit und Verschlafenheit, nachdem er seine Dienste geleistet, so rasch wieder erlegen, daß man ihm unmöglich eine solche That zutrauen könne. Auch die Blutspur sei einfach aus der Handwunde erklärlich, die von dem Arzt und Richter bei der Hast der ersten Untersuchung nicht bemerkt worden sei. King habe diese Wunde eben so wenig wie den Besitz eines blutigen Dolches und Taschentuches verrathen wollen, als ihm einmal gesagt worden war, daß der Verdacht der Thäterschaft auf ihm ruhe. Zum Schlusse betonte die Vertheidigung noch einmal, wie wenig gerade ein Mann von der Tüchtigkeit, dem Fleiß, den geselligen Talenten King’s vom gewöhnlichen Wege seiner Laufbahn habe abzuweichen brauchen, wie sicher er nach seinen bisherigen Erfolgen in der kleinen Stadt dort für alle Zeit sein gedeihliches Fortkommen habe erwarten dürfen. Am wenigsten habe es ihm der Natalie Becker halber geeilt. Denn von dieser habe er sich, wie die Zeugin selbst bekunde, seit Pfingsten mehr und mehr zurückgezogen.

Beide Parteien hatten ihre Pflicht nach Kräften gethan.

Ruhig und fest betheuerte in seinem Schlußwort der Angeklagte seine Unschuld, und die Geschworenen zogen sich zur Schöpfung des Wahrspruchs zurück. –

Unter der lautlosen Stille der gedrängten Zuhörerschaft erschienen sie nach kaum einer Stunde wieder, und der Obmann las mit bewegter Stimme den Spruch des Volksgerichtes:

„Auf meine Ehre und mein Gewissen der Wahrspruch der Geschworenen ist folgender:

‚Ist erwiesen, daß Josua King den Kürschnermeister Wolf in … in der Nacht vom 24. zum 25. Juni 185. vorsätzlich und mit Vorbedacht getödtet und dadurch eines Mordes sich schuldig gemacht habe?’

Ja! Mit mehr als sieben Stimmen.“

Der Gerichtshof sprach nun das Todesurtheil über Josua King aus. Er hörte es ruhig und kopfschüttelnd an; nur eine tiefe Blässe bekundete seine innere Erregung.

Er wurde abgeführt.

Draußen, vor dem Saal, am entgegengesetzten Ende der Ausgänge für das Publicum befand sich ein langer halb dunkler Gang nach den Gefängnißzellen, und rechts von diesem Gang war das Zeugenzimmer. Margret war als die Erste der Zeugen nach Schluß der Verhandlung in tiefster Bewegung hierher geeilt. Sie stand noch in der geöffneten Thür, als sie hörte, daß King von den beiden Wächtern vor und hinter ihm zu schleunigem Schritt ermuntert wurde. Klirrend rasselten die Ketten, die man ihm nach Verkündigung des Todesurtheils angelegt hatte, und ehe Margret sich in das Zimmer zurückziehen konnte, war der Gefangene bei ihr angelangt.

Er faßte die Gestalt des Mädchens, die nach seiner Ansicht mehr als irgend ein anderer Zeuge zu seiner Verurtheilung beigetragen hatte, mit einem raschen, durchbohrenden Blick in’s Auge und zischte, dicht vor ihr stehend, durch die Lippen:

„Warte, Margret, wenn ich wieder herauskomme!“

„Vorwärts da!“ gebot streng der Wachtmeister und stieß den schweren Säbel hart auf den Boden.

„Aermster Mann, Du gehst einen Gang, von dem Niemand zurückkehrt!“ sprach Margret vor sich hin, während King am Ende des Corridors verschwand.




Aber Margret sollte nicht ganz Recht behalten; denn das Todesurtheil wurde an King nicht vollstreckt. Er wurde zu lebenslänglichem Zuchthaus begnadigt.

Es war Frühling geworden, bis dieses Schicksal für ihn feststand und er von der Residenz aus die Fahrt antrat, die ihm zum letzten Mal in seinem Leben den Anblick grünender Auen und Wälder, jubelnder Lerchen und fröhlicher freier Menschen bieten sollte. Er wurde an das Zuchthaus abgeliefert; in einem Alter, in dem die jungen Männer seiner Heimath noch nicht einmal für volljährig galten, hatte er mit dem Leben abgeschlossen. Menschlicher Berechnung nach hatte er in der That nun den Gang gethan, von dem es keine Rückkehr gab. Die engen vier Kerkerwände, in denen er jetzt hauste, bei harter zwölfstündiger Tagesarbeit, bei grober, reizloser Kost, abgeschieden von aller menschlichen Gesellschaft, waren bestimmt, einst Zeugen seines Sterbens zu sein. Wie lang dauerte es noch bis dahin? Niemand konnte das sagen.

Gras und Blumen schüttete der milde Frühling aus über die Gräber des ermordeten Wolf, des Fleischers Karl Bahring. Noch viel enger und stiller waren die vier Wände, in denen sie lagen, als die Zelle Josua King’s. Es gab nur wenige Menschen im Städtchen, welche nun an der Schuld King’s noch zweifelten, nur wenige, welche nicht gegrollt und gemurrt hatten, als die Kunde durchs Land ging, Josua King werde nicht hingerichtet, er sei zu lebenslänglicher Freiheitsstrafe begnadigt.

Die allgemeine Aufregung über diese Kunde ging im Städtchen um so tiefer, als gleichzeitig das Gerücht sich verbreitete, daß der Bürgermeister des Städtchens Alles aufgeboten habe, um in der Residenz die Begnadigung des Mörders durchzusetzen, und daß die Verwandelung der Todesstrafe in Zuchthaus hauptsächlich ihm zuzuschreiben sei. In einer schwachen Stunde beim Wein sollte der Bürgermeister sich dieses Erfolges selbst gerühmt haben, theils um das Gewicht seiner Beziehungen zu den höchsten Kreisen der Residenz zu erweisen, theils um den Amtsrichter zu demüthigen; denn der Bürgermeister behauptete, Kern habe auf Erfordern des Justizministers sein Gutachten für Vollstreckung des Todesurtheils abgegeben. Man habe in der Residenz gelächelt über diesen Beweis human-liberaler Gesinnung des liberalen Herrn Amtsrichters.

Sehr bitter hatte sich Kern in seinem Kreise geäußert, als diese Gerüchte ihm glaubhaft zugetragen wurden.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 655. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_655.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)