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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

„Ich erlebe selten mehr etwas Neues,“ antwortete Pranten. „Heute Klinik, morgen Klinik, Mittags und Abends in Gesellschaft von Collegen und Bekannten, nicht einmal zum Geburtstage – er war vorgestern – einen Brief! Ob sich für mich überhaupt noch etwas ereignen kann? Und doch, ist es nicht ein Ereigniß, daß ich hier sitze?“

„Haben Sie denn keinen Freund, nirgends einen Verwandten mehr, daß selbst Ihr Geburtstag – so ohne Sang und Klang vorübergehen muß?“ fragte Josephine.

„Ich stehe ganz allein,“ entgegnete Pranten rauh. „Meine Eltern sind todt; Geschwister hatte ich nicht, und eigentlich auch keine Freunde. Für diesen Artikel war ich ein zu häßlicher Junge und prügelte immer die Gespielen, wenn sie mich neckten; selbst später – gnädige Frau, haben Sie Fräulein Harder noch keine Beschreibung von mir gemacht?“

Als Frau Ballingen verneinte, fuhr er lebhaft fort:

„O, wollten Sie das nicht in meiner Gegenwart thun? Das wäre einmal etwas Apartes, wieder ein Ereigniß! Und ich könnte corrigiren, was nicht dunkel genug, oder vielmehr zu nachsichtig aufgefaßt würde.“

„Warum nachsichtig?“ fragte Josephine betreten. „Muß ich Sie auf die glückliche Verschiedenheit des Geschmackes aufmerksam machen?“

„Ich stehe jenseits alles Geschmackes,“ entgegnete Pranten etwas heftig. „Aber es ist ja wohl tactlos, so viel von sich zu sprechen, und ich bin außerdem zum Lesen, nicht zum Plaudern engagirt. Würde Ihnen das Buch genehm sein, welches ich mitgebracht habe: Freytag’s ,Ahnen’?“

„Gewiß!“ erwiderte Josephine mit einem Gefühl der Erleichterung, „und welcher Zufall! ‚Ingo’ war das letzte Buch, das ich selbst gelesen.“

„Ja, der Zufall webt die Fäden wunderlich hin und her,“ sagte Pranten langsam. „Wenn man überhaupt von Zufall sprechen darf, wo sich doch Alles so gefügig eins aus dem andern herausarbeitet, Jeder selbst Kette und zugleich Glied einer endlosen Kette ist.“ Er warf den Kopf, wie über sich unzufrieden, empor und fuhr, in dem Buche blätternd, fort: „So beginnen wir also mit ‚Ingraban’?“

„Nein, nein, mit ‚Ingo’!“ bat Josephine. „Ich höre ihn mit tausend Freuden noch einmal. Ich bin gerade neugierig, ob ich auch im Anfange wieder das Gefühl von etwas Seltsamem haben werde. So ging es mir damals, doch schon nach einigen Seiten nahm mich der große Zug der Gestaltung voll hin und ich weiß, daß ich den Theil mit Spannung und hohem Genuß zu Ende las. Du kennst auch ‚Ingo’, nicht?“

Frau Ballingen, deren Gedanken sich noch immer mit dem Duell beschäftigt hatten und eine Möglichkeit aufzufinden suchten, von Pranten mehr darüber zu erfahren, weil sich damals selbst Willy’s Mutter in Schweigen gehüllt, schrak bei Josephinens Frage zusammen, antwortete jedoch tapfer mit einem gedehnten: „Nein.“ Glücklicher Weise erwartete man dieses Nein; es erfuhr also keinen Widerspruch, und nach einigem höflichen Hin und Wider über etwa noch vorhandene Wünsche Pranten’s begann dieser der „Ahnen“ Noth und Freud’.




5.

Aehnlich dieser ersten Vorlesestunde gingen nach und nach viele hin. Anfangs immer ein leichtes Geplauder über kleine Erlebnisse oder Stadtneuigkeiten; dann las Pranten, und schließlich brachte der Kaffee, dem wohl noch ein Gang durch den Garten folgte, neues Plaudern, das, in der Regel durch das Gelesene angeregt, einen Zug nach dem Tiefern hatte. Manche Einkehr in die Vergangenheit, allerlei stille Zukunftwünsche oder Blicke in die verschiedenen Charaktere thaten sich von selbst auf. Man gewöhnte sich rasch an einander, und selbst die Frau Assessorin erwartete die Vorlesetage bereits mit dem angenehmen Gefühl, etwas Freundliches in Aussicht zu haben.

Die Anklagen der Räthin hatten sich nämlich eine nach der andern als offenbar böswillige Uebertreibungen herausgestellt, deren Urheberschaft stets auf Willy Schussenried zurückzuführen war. Außerdem hörte Frau Ballingen von competenter Seite, daß jenes Duell wegen eines armen, von Willy in rücksichtslosester Weise verlassenen Mädchens entstanden. Diese Thatsache brach vollends den Bann, welcher dem Baron gegenüber noch immer auf der Frau Assessorin gelegen hatte, und sie war jetzt auf dem besten Wege, sich ihm auf Gnade oder Ungnade zu ergeben, weil sie, nach Art aller gutmüthigen Naturen, sich nun gleichsam schuldig vorkam, und weil es ihr jetzt wie nothwendig erschien, dem so lange durch Mißtrauen gekränkten Manne fortan in doppelter Herzlichkeit entgegenzukommen.

Josephine hatte sich nichts vorzuwerfen, hatte immer gleich nachsichtig und voller Dankbarkeit sowohl zu Andern wie im eigenen Innern über Pranten geurtheilt; so brauchte sich in ihrem Wesen ihm gegenüber nichts zu ändern. Heute wie gestern war sie harmlos zufrieden erschienen und hatte ihm unbefangen gezeigt, daß sie die Stunden seines Kommens mit Vergnügen erwartete und daß es sie oft überraschte, wie schnell dieselben vergingen.

In dem Grade ihrer Blindheit war noch keine wesentliche Veränderung eingetreten; noch immer unterschied das linke Auge die Umrisse der Dinge zwar wie in Nebel zerrinnend, ohne jeden bestimmten Eindruck, aber noch durchaus mit dem vollen Empfinden ihres Daseins. Und bis nicht Alles um sie her in gleichmäßiger Dämmerung unterging, war ja keine Operation statthaft.

Auch Pranten’s Wesen, sein Thun und Treiben seiner nächsten Umgebung gegenüber, würde dem oberflächlichen Beobachter als völlig unverändert erschienen sein. Er konnte sich noch ebenso lebhaft wie früher mit Jedermann über jedes Unrecht ereifern, das gegen irgend Jemand zu irgend welcher Zeit begangen worden; er war am Tische des „Grafenbräu“ immer gleich offenherzig und ohne Rückhalt mit seiner oft wenig überlegten Meinung bei der Hand, und selbst für sein tägliches Nachhausekommen blieb die Geisterstunde die bevorzugte. Einmal in jüngster Zeit war er allerdings aus Ueberdruß oder Widerwillen, nachdem zufällig während einer Abendsitzung kein ernstes Gespräch durchgedrungen, zwei Abende hinter einander bei seinen Studien zu Hause geblieben, den dritten jedoch, als die Schwarzwälderin ihre sieben Schläge besonders laut – gleichsam mahnend – geschlagen, folgte er dem unwiderstehlichen Zuge, machte sich auf nach dem „Grafenbräu“ und bildete in alter Weise ein Stück Mittelpunkt der gewohnten Tafelrunde.

Nur eine Person hatte sich über ihn zu beklagen und that es auch, erst mit Worten und Schmollen, dann mit Geberden, welche die geringe Schätzung des Verlustes ausdrücken sollten, aber natürlich eher das Gegentheil bewiesen; dieser Jemand war die Oberkellnerin Hulda. Der Herr Baron hatte nämlich seit Wochen kaum noch einen Blick für sie übrig. Doch es war nun einmal leider nicht anders und blieb dabei; selbst der auffällige Mangel an Zwiebeln auf den Beefsteaks, Hulda’s ultima ratio, änderte Pranten’s Betragen nicht. Er hatte augenscheinlich keine Ahnung, daß Jemand eine Handlung oder Redensart von ihm vermisse.

Für den tiefer Blickenden mußte es längst zweifellos sein, daß etwas mit ihm vorging. Und seit wenigen Tagen war das auch für ihn selbst kein Geheimniß mehr.

Er hielt nicht viel davon, sich eingehend mit seinen Gefühlen zu beschäftigen, und war stets am liebsten irgend einem halb unbewußten Drange gefolgt, ohne weiter nach rechts und links auszuschauen. Er meinte plötzlich, in diesem oder jenem Hause müßte es behaglich zugehen; dorthin ging er, bis sich Hindernisse oder Ueberdruß einstellten; so hatte er es immer gehalten, und da er niemals Außergewöhnliches begehrt, war ihm auch meistens geworden, was ihm wünschenswerth erschienen.

In ähnlichem Sinne suchte er damals auch das Haus in der Frauengasse auf und hatte sich bisher nie eigentlich Rechenschaft darüber gegeben, was ihm die Stunden dort gleich Weihestunden aus der ganzen übrigen Woche heraushob. Wahrscheinlich wäre das auch noch längere Zeit so fortgegangen, wenn ihn bei dem letzten Zusammensein nicht ein Wort Josephinens aufgeschreckt hätte. Sie sprach nämlich von einem Besuche bei auswärtigen Verwandten und dem dadurch bedingten längeren Ausfall der Vorlesestunden. Der Plan war vor der Hand nur angeregt, noch keinerlei Entscheidung getroffen worden; dennoch beschäftigten sich Pranten’s Gedanken während der jüngsten Tage fortdauernd damit und fanden schließlich, daß schon die bloße Möglichkeit wahrhaft unerträglich wäre. Als er aber einmal so weit gekommen, hatte er natürlich auch den letzten Schritt vorwärts gethan; er wußte plötzlich, was ihn von Beginn an zu Josephine gezogen, und daß dieses Etwas während der Zeit gemeinsamen Verkehrs ganz in

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 678. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_678.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)