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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

der Stille eine Macht geworden war, über welche ihm bereits alle Gewalt abhanden gekommen. Und nicht mit Erschrecken empfand er das, nein, mit einem stürmischen Gefühl von Freude. Das war ja endlich die Liebe, nach der sich sein Herz so lange gesehnt; das konnte nicht bloße momentane Wallung wie alles Frühere sein.

Und so stark machte diese Liebe! Es kam ihm leicht, gleichsam selbstverständlich vor, daß er nun auch zu Josephine von ihr spräche; theilte sie nicht sein Fühlen? Wie leuchtend erschien ihre Freude, wenn er eintrat! Wie erblich ihr Antlitz, sobald die Scheidenszeit wieder herangekommen! O, Josephine konnte ihm ja gerecht werden, weil sie blind war und weil ihr Herz nicht durch das Auge zu ewigem Widerspruche gereizt wurde. Stimme zu Stimme, nicht Auge in Auge, war hier die Losung. Und steht im Grunde die Stimme dem Herzen nicht näher, als der vom Dienste der Sinne befangene Blick? Ist ihre Wahrheit nicht die tiefere Wahrheit?

Unter diesen Gedanken war wieder die dritte Nachmittagsstunde eines October-Mittwochs herangekommen, und Pranten beendigte eben eilfertig seine Toilette. Ehe aber Hut und Buch genommen wurden, ging er in sein Gärtchen und brach sich eine der beiden halberblühten Knospen, die ein Theerosenstock wie Schätze unter den großen dunkeln Blättern verborgen hielt. Die Knospe duftete noch so stark und würzig, als wäre sie ein Erstling, keine Letztgeborene.

Pranten war das aufgefallen, und als er zehn Minuten später Josephine die Knospe darbot, lieh sie eben derselben Empfindung Worte; er machte über diese Gleichartigkeit ihres Empfindens einen Scherz und war schon im Begriffe, neue Scherze, nur ernster gemeint, daran zu knüpfen, als es über die Züge Josephinens wie Schatten flog.

Mit dem scharfen Auge der Liebe erkannte Pranten, daß irgend etwas vorgefallen sein mußte, was ihre Unbefangenheit getrübt hatte; augenscheinlich würde eine Abschweifung in’s Gefühlsgebiet, wo sie sonst lächelnd Scherz mit Scherz zu erwidern pflegte, heute nicht zu wagen sein. Das gab ihm zu denken. Sollte er sich doch getäuscht haben, sollte Josephinens Fühlen nicht über ein gewisses einfach freundschaftliches Wohlwollen hinausgehen? Selbst die Assessorin schien heute etwas Zurückhaltendes zu haben.

Pranten’s Energie war wie verflogen. Nur schüchtern, jedenfalls viel wortkarger als gewöhnlich, führte er die Unterhaltung und athmete fröhlich auf, als die Zeit zum Fortgehen kam. Doch bevor er sich erhob, schlug Josephine einen Gang durch den Garten vor. Frau Ballingen hatte noch einen Brief zu schließen, und so ging das junge Paar voraus, Josephine, wie gewöhnlich, an Pranten’s Arm.

Sie schritten stumm die Treppe hinab und schwiegen noch, als sie schon den Haupttheil der alten Lindenallee gekreuzt hatten. Beiden erschien die gleichsam nächtige Stille, welche kaum von dem Rascheln der trockenen Blätter unterbrochen wurde, die Josephinens Kleid streifte, tief wohlthätig und voll so wehmüthigen Reizes, daß sie selbst vor dem Klange der eigenen Stimme wie vor etwas Störendem Scheu empfanden.

Endlich aber sagte Josephine: „Ihnen ist heute schwer zu Muthe. Sie sind fast so nachdenklich und einsilbig, wie damals, als Ihre erste große Operation bevorstand. Haben Sie wieder Patienten, die Ihnen Sorge machen?“

Sie fühlte, daß Pranten zitterte, und zog unwillkürlich ihre Hand so weit zurück, daß dieselbe lose, kaum bemerkbar auf seinem Arme lag. Er achtete dessen nicht; er sah nur unverwandt und ernst auf Josephine. Sein fortdauerndes Schweigen machte diese verlegen. Sie zog die Hand ganz von seinem Arme, und seitwärts an ein Gebüsch tretend, tastete sie an den Zweigen hin, als ob sie Blüthen suchte.

„Da blüht nichts mehr; es ist Herbst geworden!“ sagte Pranten. „Ueberall Herbst!“

Für Josephine war der eigenthümlich zitternde Ton, mit dem diese Worte gesprochen worden, etwas so Fremdes an ihrem Begleiter, daß sie sich jäh nach ihm umwandte, als könnte sie auf seinem Gesichte lesen, was ihn heute so anders als gewöhnlich stimmte. In demselben Augenblicke jedoch über ihre Hast erröthend, strich sie mit der Hand über die Stirn und fragte beklommen:

„Warum sagen Sie das mit so schmerzlichem Ausdruck?“

„Mich stimmt dieses Herbstgefühl,“ erwiderte Pranten, „sobald es erst ganz zum Bewußtsein gekommen, immer traurig, bis der Winter einzieht. Und in diesem Jahr vielleicht doppelt traurig, da sich nun doch Allerlei ändern muß – wenn es nicht gar endet.“

Er hatte versucht, die letzten Worte leicht hinzusprechen, für Josephinens erregtes Ohr klang aber noch deutlich derselbe wehe Ton durch.

Und dennoch vermochte sie es nicht, sofort auf etwas Anderes überzugehen: die Art, in der sich Pranten gab, übte einen wundersamen Reiz auf sie aus. So weich konnte dieser heitere, selten um irgend etwas ernstlich besorgte Mann werden! Sollte die Cousine mit ihren Anspielungen wirklich Recht behalten? Jemand könnte sie, die Blinde, die vielleicht für immer Blinde, lieb haben? Und nicht wie die Cousine sie lieb hatte: ganz anders, wie der Mann ein Weib liebt, der Geliebte – die Geliebte! Doch nein, nein! Der Gedanke war so thöricht!

Josephine strich wieder an den Zweigen des Gebüsches hin; welke Blätter rieselten nieder und mit denselben ein Schmetterling, die weißen Fittige kaum entfaltend.

Pranten sprach von dem Schmetterlinge, und als sie ein Wort des Bedauerns für den Verspäteten hatte, setzte er ihn auf ihre Hand.

„Dieses Symbol der Seele ist sehr müde,“ sagte Pranten leise, „wohl lebensmüde. Ob die Seelen wenn das Körperliche von ihnen gefallen, auch noch müde werden können? Lebensmüde, wie ihr Symbol hier? Wär’ etwa solche Müdigkeit, eine dann ewige, die ganze angedrohte Hölle? Was meinen Sie? Oder scheint auch Ihnen, wie meinem bös materialistischen Freunde Krüger, die Seele als ein vom Körper zu trennendes, für sich daseinsfähiges Geschöpf überhaupt nicht denkbar?“

„Darüber habe ich noch nie nachgedacht,“ erwiderte Josephine. „Mein Vater starb früher, als wir mit unseren Studien an irgend etwas Philosophisches herankamen; er wollte mich erst reifer werden lassen. So bin ich also nichts, als eine einfache evangelische Christin; ich habe dabei auch nie etwas entbehrt.“

Sie sagte das so schlicht und doch mit einem gleichsam besorgten Tone, einer schüchternen Art von Abwehr.

Ihn rührte diese Weise, und er versetzte rasch:

„Ich werde dergleichen nie mehr berühren – vergeben Sie! Man begegnet jetzt eben überall dieser sogenannten Aufklärung; Schüler wie Pensionsmädchen sind in der Regel schon über den Urgrund aller Dinge im Klaren; so hatte ich einen Augenblick vergessen, daß es auch noch lobenswerthe Ausnahmen giebt.“

„Sind diese Ausnahmen wirklich lobenswerth? Sprechen Sie im Ernst?“

„In vollem Ernst.“

„O, das freut mich.“

„Mein Fräulein, die praktischen Grundmaximen des Christenthums von der Nächstenliebe, der Geduld und Selbstlosigkeit werden durch keinen, von wem immer gebotenen Ersatz übertroffen werden. Wo Mensch mit Mensch zu verkehren, der Einzelne sich einer Allgemeinheit zu unterwerfen hat, da muß ewig Gesetz bleiben, was Christus zum Gesetz machte. Christus, nicht etwa seine Pfaffen! Etwas anders steht es wohl um denjenigen Theil seiner Lehren, der sich über unsere Mutter Erde emporschwingt; mit dem mag Jeder nach seiner Vernunft fertig oder nicht fertig werden – das bedeutet wenig, so lang er nur jenem Hauptcredo treu bleibt, dessen A und O die Liebe in ihren weitesten Beziehungen ist: von der Liebe zur Geliebten, zu den Eltern, Kindern, Nächsten – o durch alle Naturreiche bis zu solch undankbarem Schmetterling hinab, der eben seine Flügel regt – davonfliegt. Hörten Sie? er seufzte wenigstens dabei.“

„Leider sind meine Sinne weniger entwickelt, als die Ihrigen,“ antwortete Josephine lächelnd, „ich habe nichts gehört. Solch ein Schmetterlingsseufzer muß übrigens ganz etwas Apartes sein.“

„Nichts sonderlich Anderes als ein Menschenseufzer, das heißt ein gedachter oder geträumter.“

„Was man von Ihnen Alles lernt! Kann man Seufzer auch träumen?“

„Mindestens kann man davon träumen –“

„Träumen geträumt zu haben,“ ergänzte Josephine scherzend, „und das mag sogar träumerischer als ein Traum sein. Was sollte es aber eigentlich mit diesem Schmetterlingsseufzer auf sich haben? Muß ich wirklich fürchten –“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 679. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_679.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)