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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

schlecht, welcher Umstand, in Verbindung mit der Unterstützung durch die gesammte arme Bevölkerung, besonders aber mit der großen Schlauheit des Räubers, Liberi bisher stets den Verfolgungen der Behörden hatte entgehen lassen.

Einmal war Liberi doch nach vielen vergeblichen Versuchen, seiner habhaft zu werden, im Rausche überrascht und im Triumph nach Bolsena eingebracht worden. Die glücklichen Häscher erhielten sofort die von den Behörden sowie einzelnen reichen Corporationen und Privaten ausgesetzte hohe Belohnung; der ganze Bezirk athmete auf, und die erfreute Justiz traf Anstalten, dem gefährlichen Brigantenchef schnell den Proceß zu machen und an ihm ein Exempel zu statuiren. Liberi ward mit Ketten belastet, in dem festesten Kerker verwahrt und unausgesetzt von Wächtern aller Art beaufsichtigt. Am achten Tage aber, als der Instructionsrichter nach ihm verlangte, war Liberi verschwunden – seine eigenen Wächter hatten ihm die Gefängnißthüren geöffnet.

Die schnell aus ihren Träumen von Ruhe und Sicherheit gerissene Gegend merkte bald, daß Liberi wieder an der Spitze seiner Bande stand. Denn die Raubanfälle und Erpressungen häuften sich, als ob er sich hätte für die acht Tage gezwungener Muße entschädigen wollen. Vollführten doch die durch ihren Erfolg dreist gemachten Banditen selbst in größeren Ortschaften ihre Geschäftsoperationen am hellen Tage.

Allein endlich war Liberi der Boden seiner Heldenthaten doch zu heiß unter den Füßen geworden, und als er von unserem Anzuge vernommen, hatte er sich mit seiner Bande über die nahe Grenze gezogen und ließ die ersten vier oder fünf Wochen unserer Anwesenheit in Bagnarea nichts von sich hören. Es hieß, er treibe im Italienischen sein Unwesen, ja eine Nachricht ließ ihn von der italienischen Polizei gefangen und seine Gesellschaft zersprengt sein. Da geschah Folgendes.

Der Prior des Augustinerklosters San Archangelo zu Bagnarea war in Begleitung zweier gut bewaffneter Klosterknechte nach dem etwa fünf Stunden entfernten Dorfe San Michele gereist, um die dortigen Besitzungen seines Klosters zu inspiciren und die fälligen Pachtgelder und andere Einkünfte einzuziehen. Der die Besitzung leitende Mönch aber, der die Gelder veruntreut und deshalb den Besuch seines Oberen zu fürchten hatte, rief die von der italienischen Polizei wieder über die Grenze getriebene und in der Nähe versteckte Bande Liberi’s zu einer Plünderung auf gemeinsamen Nutzen herbei, durch die zugleich jede Verantwortlichkeit für ihn beseitigt wurde. Natürlich ließen sich die Briganten nicht vergeblich rufen, besorgten das Geschäft so gründlich wie möglich und ermordeten dabei den eben dazu kommenden und sich verteidigenden Prior, während sie dem einen seinem Herrn treu beistehende Knecht die Ohren abschnitten, ihm seine sämmtlichen Kleider nahmen und ihn in diesem Zustande nach Bagnarea jagten, das hierdurch von dem Ueberfall San Micheles Nachricht erhielt.

Als wir, das heißt eine kleine Abtheilung unter meinem Commando, bei der sich ein mit Einleitung der Untersuchung beauftragter Regierungsbeamter befand, auf dem Schauplatze der Räuberei anlangten, waren die Briganten, die sich nach vollendeter Plünderung nebst den mit ihnen sympathisirenden Dorfbewohnern an den Weinvorräthen des Klosters gütlich gethan, vor ganz Kurzem erst abgezogen. Wohin sie sich gewandt, darüber konnte kaum ein Zweifel bestehen. Die zwischen San Michele und Bagnarea sich hinziehende Gebirgspartie, welche wir auf der Straße umgangen hatten, war zwar nicht von bedeutender Erhebung, enthielt aber in den Klüften ihres vulcanischen Gesteins zahllose sichere Schlupfwinkel. Den Räubern dahin zu folgen, davon konnte bei unserer Localunkenntniß, namentlich aber angesichts unserer geringen Anzahl, keine Rede sein, und so mußten wir uns denn diesmal, abgerechnet die Aufnahme der Zeugenaussage und die Fürsorge für das Begräbniß der Ermordeten, mit einer allgemeinen Recognoscirung des Terrains begnügen.

(Fortsetzung folgt.)




Aus vergessenen Acten.

Eine Criminalgeschichte von Hans Blum.

(Fortsetzung.)

Das Auge des Unbekannten traf beim ersten Aufschlagen das Mädchen, welches betroffen stehen geblieben war. Fest und starr blickte er mit seinen großen, stechenden grauen Augen auf Margret, während er, auf sein linkes Knie und den Feldstein gestützt, mit dem Husten rang.

Als dieser überwunden war, erhob er sich rasch und stieg wie Wegböschung hinab, der Stelle der Straße zu, wo Margret stand. Eine hitzige Röthe war ihm in die Wangen gestiegen, und sein Auge flackerte unruhig, fast irre, als er jetzt nahe vor Margret die Lippen öffnete und zu deren größtem Erstaunen die Worte hervorpreßte:

„Margret! – Margret, bist Du’s?“

„Um Gotteswillen!“ rief sie – „ich kenne Sie nicht. Woher wollen Sie mich kennen?“

„Nein,“ sagte er, ruhiger geworden, zu sich selbst, „die Stimme ist es nicht. Aber das Gesicht, die Figur – –“ Er hob nun die Stimme: „Kennen Sie Margret Winkelmann?“

„So hieß meine Mutter als Mädchen,“ erwiderte Margret noch erstaunter, „aber Sie, wer sind Sie?“

„Ach, ich – ein armer, alter Mensch – aber, mein Fräulein, lebt Ihre Mutter noch?“ Seine Blicke ruhten auf den Kränzen, die sie in der Hand hielt.

„Gewiß lebt sie,“ entgegnete Margret ängstlich, „aber –“

„Sie lebt, Gott sei Dank, sie lebt!“ rief der Unbekannte, und im nächsten Augenblicke hatte er seinen Hut und seine Decke am Rande der Wegböschung aufgenommen und schritt querfeldein durch Gras und Feld, nicht der Stadt und nicht dem Dorfe, sondern der Wildniß der Natur zu.

„Der arme Mensch ist geisteskrank,“ flüsterte Margret ängstlich vor sich hin, als sie ihn hinter einem nickenden grünen Aehrenfeld an einer Welle des Bodens verschwinden sah. „Aber woher mag er meine Mutter kennen? Wer mag er sein?“

Damit schritt sie dem Walde entgegen, der sie zum Heimathsdorfe ihrer Eltern geleitete, und war bald unter dem Dache des Laubes verschwunden. – –

Ungefähr um dieselbe Stunde des Morgens trat der Amtsrichter Kern in die Gaststube der Hirschwirthin, wo nur wenige Gäste versammelt waren. Er war ein ganz ungewöhnlicher Besuch zu dieser Tageszeit. Niemand konnte sich erinnern, den Herrn Amtsrichter jemals beim Frühschoppen gesehen zu haben; und nun gar zu einer Stunde, wo das Städtchen kaum den Kaffee genossen hatte!

Außergewöhnlich war aber auch sein Aussehen.

Kern hatte ja Momente, wo er ein bischen lebhaft werden konnte, aber heute war er geradezu aufgeregt. Kaum hatte er der Wirtin einen guten Morgen geboten und eine Tasse Bouillon mit Ei bestellt, als er ihr zur Thür hinaus nacheilte und ihr draußen im Gang rasch zuflüsterte, daß er sie sofort allein sprechen müsse.

Frau Margret blickte in das ernste, ängstliche Auge des Mannes, dem sie keine Furcht zutraute, und gewann den Eindruck, etwas Dringliches, Gefährliches müsse Kern ihr mitzuteilen haben. Sie öffnete sofort das „gute Zimmer“ zur Rechten des Ganges und blieb hier mit Kern allein.

Zehn Minuten darauf trug Meister Tromper, der Schneider, vom Wirthstische aus die Kunde durch die ahnungslose Stadt, daß soeben der Amtsrichter sich mit der Hirschwirthin verlobt habe. Das Gespräch aber, dessen eigenthümliche Einleitung zu diesem Gerüchte den Anlaß gegeben, entwickelte sich etwa folgendermaßen:

Der Amtsrichter blickte Margret ernst an, nachdem Beide Platz genommen, und sagte kurz und dringend:

„Lesen Sie, Frau Margret, lesen Sie!“

Dabei reichte er ihr die neueste Nummer des Regierungsblattes der Residenz hin und wies mit dem Finger auf eine Stelle unter den amtlichen Nachrichten der ersten Seite.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 690. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_690.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)