Seite:Die Gartenlaube (1879) 693.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

Director und Pastor fügten einen Zehrpfennig, eine warme Decke hinzu. Selbst Thränen hatte King zur Verfügung, als er von den Beiden Abschied nahm und gelobte, sich allezeit brav zu halten und sofort, der ihm vorgeschriebenen Marschroute entsprechend, auf dem kürzesten Wege in die Heimath zu reisen. Er erfüllte das letztere Versprechen vor den Augen des am Schalter der Bahnhofscasse wachthabenden Polizeibeamten, indem er ein Billet bis zur Residenz nahm. Vorschriftsmäßig wurde die Entlassung des Begnadigten, sein Eintreffen mit dem nächsten Bahnzuge der Residenzpolizei telegraphisch angezeigt.

Aber King fuhr keineswegs nach der Residenz. An einer Zwischenstation, wo sich eine Seitenbahn in der Richtung nach dem Bergstädtchen bis zu dessen Nachbarstadt abzweigte, machte er Halt und erwartete den letzten Zug der Zweigbahn. Er benutzte den Aufenthalt zu einem Einkaufe in dem an der Station gelegenen Städtchen: er kaufte ein langes, scharfes Dolchmesser, das aufsprang und in der Feder stand, wenn man den Drücker berührte.

Nach Mitternacht erst war King in der Nachbarstadt angekommen, an der die Zweigbahn endete, und von dem Bergstädtchen, in dem Margret noch immer wohnen sollte, trennte ihn jetzt nur noch eine mehrstündige Wanderung. Schon der kurze Weg von Schloß Zwingburg nach dem Bahnhofe, dann in das Städtchen der Zwischenstation und zurück an den Bahnhof, hatte ihn erheblich angegriffen. Er zögerte gleichwohl keinen Augenblick, den Weg nach dem Gebirgsstädtchen noch in der Nacht bei Mondschein anzutreten und zurückzulegen. Aber das Unternehmen ging über seine Kräfte. Eben als die Sonne aufging, brach er übermüdet an dem Grenzstein der Höhe zusammen, an dem ihn jung Margret getroffen.

(Schluß folgt.)


Die verrufensten Spinnen Europas.
Naturwissenschaftliche Erläuterungen zum Tarantismus. Von Dr. Cubasch.


I.
Die geistigen Seuchen des Mittelalters. – Physiognomie des Tarantismus. – Die Musikheilungen als Volksfeste. – Il carnevaletto delle donne. – Noten zum Text. – Naturgeschichte der großen Giftspinnen: Taranteln, Malmignatte.


Das Mittelalter, welches an merkwürdige Erscheinungen im Seelenleben der Völker so reich ist, war auch die Zeit, in der sich die sonderbare Krankheit des Tarantismus in epidemischer Verbreitung entfaltete. Heimgesucht durch fürchterliche Seuchen, welche den Herd der Familie von Grund aus erschütterten und zerstörten und welche als directe Aeußerung des Zornes Gottes gegenüber der sündigen Menschheit betrachtet wurden, eingezwängt in den Vorstellungskreis der römische Kirche, verfiel der menschlische Geist einer kindischen und abergläubischen Furcht vor höheren Gewalten in Verbindung mit einem krampfhaften Buß- und Frömmigkeitswesen, wodurch der gesammte Volksgeist allmählich von einer tiefen Nervenstimmung, einer dumpfen Melancholie ergriffen und in wahrhaft unheimlicher Weise zu phantastisch-schwärmerischen Ausbrüchen von oft ganz ungeheuerlicher Art disponirt wurde. Auffallend ist dabei noch, wie sehr der Nachahmungstrieb, der ja ohnedies den Menschen stark beherrscht, zu jener Zeit, da Angst und Schrecken jede Selbstständigkeit lähmten und die Gemüther in einer überreizten, krankhaften Spannung erhielten, eine unnatürliche Machtsteigerung erfuhr. So begreift sich das Auftreten der Geißler und Flagellanten, die Tanzwuth unter den Deutschen des dreizehnten Jahrhunderts, die Hexenverfolgung, selbst manche Seite der Kreuzzüge. So erklärt sich auch der Hauptsache nach der vielbesprochene Tarantismus Apuliens, so genannt nach der Tarantel-Spinne, deren giftiger Biß den äußern Anlaß zu der ganzen Bewegung bildete.

Schon den Alten waren die Leiden, welche nach dem Bisse giftiger Spinnen auftraten, bekannt, und wir finden in dieser Beziehung bei verschiedenen älteren Schriftstellern wohl beobachtete und übereinstimmende Berichte, die aber nirgends von einem epidemischen Auftreten solcher Krankheit reden, wie sie sich im dreizehnten Jahrhundert als wahre Landplage über Italien verbreitete.

„Der Biß einer giftigen Spinne, oder vielmehr die krankhafte Furcht vor seinen Folgen" – um mit Hecker („Volkskrankheiten des Mittelalters“) zu reden – „erregte jetzt, was er früher nicht vermochte, eine gewaltige Nervenkrankheit, die sich, wie in Deutschland der Veitstanz, durch Sympathie verbreitete und durch das Fortschreiten an Heftigkeit, durch ihre lange Dauer an Umfang gewann.“

Die überreizte Phantasie malte sich die Folgen eines solchen Bisses sofort mit den Farben der Todesfurcht aus: man glaubte sicher sterben zu müssen; zugleich gerieth man durch irgend eine Veranlassung auf die Musik als ein Rettungsmittel. Vom Klange der Cither oder der Flöte angeregt, schlugen die Kranken, welche in halb bewußtlosem Zustande dalagen, plötzlich die Augen auf; sie richteten sich auf ihrem Lager empor, verließen dasselbe und begannen nun nach dem Tacte der Melodie ihre Glieder in immer rascher werdendem Tempo zu bewegen. Selbst rohe, der Musik und alles Tanzes unkundige Leute benahmen sich dabei mit viel Anstand und Grazie. Unermüdlich tanzten die Kranken, und wenn die Musikanten ermüdet eine Pause machten, verfielen jene augenblicklich wieder in ihren lethargischen, schlafsüchtigen Zustand, aus welchem sie nur der Klang der Instrumente auf’s Neue erwecken konnte. Durch den Tanz sollte das Gift der Tarantel in dem ganzen Körper vertheilt und zuletzt ausgeschwitzt werden; doch die kleinste Spur, die noch zurückgeblieben wäre, könnte auf’s Neue Krankheit erzeugen, und deshalb wurde die Heilung der „Tarantati“ mit jedem Jahre erneuert. Jeder, der nur gebissen zu sein glaubte, oder welchen irgend ein anderes unschuldiges Insect gestochen hatte, nahm am Tanze Theil, und Viele, welche zu ihrem Ergötzen als Zuschauer erschienen waren, wurden von dem geistigen Gifte, das sie mit den Augen begierig einsogen, angesteckt und vermehrten die Zahl der Tänzer.

So entstand bald eine „geistige Seuche“, bei welcher einer wilden, zügellosen Leidenschaftlichkeit freies Spiel gelassen wurde. Von Apulien ausgehend, erstreckte sich dieselbe auch über andere Theile Italiens und ergriff Leute jeden Standes, Alters und Geschlechts in gleichem Maße.

Die Krankheit, welche bei den einzelnen Individuen verschiedene Erscheinungen hervortreten ließ, zeigte außer der Zuneigung zur Musik noch zweierlei überall gemeinsam: ein Behagen an glänzenden Gegenständen – z. B. an dem Schwingen blanker Waffen – und eine gewisse Vorliebe für bestimmte Farben. Man sah die Kranken rothe Tücher in der Hand schwenken, sich in deren Anblick mit innigster Sehnsucht, oft mit Thränen in den Augen, wie berauscht vertiefen, ja sie leidenschaftlich küssen und an’s Herz drücken. Widerwärtige Farben dagegen, besonders das Schwarze, versetzten sie in erhöhte Wuth, und sie suchten mit aller Kraft so gefärbte Kleider und Sachen zu zerreißen und zu zerstören. Ebenso zeigten Alle eine Sehnsucht nach dem Wasser; sie vertieften sich in den Anblick des Meeres, sie stürzten sich in die Wellen, oder aber sie schwenkten beim Tanze Gläser mit Wasser und begossen sich oftmals Kopf und Arme.

So sehr nahm diese Tanzwuth überhand, daß zuletzt die Musikheilungen ein allgemeines sommerliches Volksfest wurden, dessen Erscheinen man mit Ungeduld erwartete. Es durchwanderten ganze Schaaren von Musikanten Italien; sie ließen sich in Dörfern und Städten nieder und unternahmen im Großen die Heilung der Kranken. Und so wurden die Volksfeste beinahe drei Jahrhunderte lang jahraus, jahrein gefeiert. Zuletzt waren es hauptsächlich die Frauen, welche sich der Sache annahmen, wovon das Fest auch den Namen „il carnevaletto delle donne“ erhielt. Sie vernachlässigten ihre Haushaltungen und sparten ihr Taschengeld auf, um es bei diesen Gelegenheiten verbrauchen zu können. So kam es zuletzt, daß alle möglichen nervösen Verstimmungen sich im Tarantismus Luft machten; besonders war es die Hysterie, jene eigenthümliche, bizarre und vielgestaltige Krankheit, welche die Frauen auf die Tanzplätze trieb, wo sie sich, nachdem das einsame

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 693. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_693.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)