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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

Beweis für die geistige Rührigkeit der Nation, denn es ist, im Grunde genommen, eine nationale Schwäche, welche diese Tagesliteratur in’s Leben ruft und unterhält, nämlich die Neigung zu politischem Gezänk, zu Klatsch, Phrasenmacherei und Selbstberäucherung. Würde es der brasilianischen Presse verwehrt sein, dieser nationalen Schwäche zu fröhnen, so würde kein Mensch mehr die Zeitung lesen. Die numerische Fruchtbarkeit der Tagesliteratur im Gegensatze zu dem unglaublichen Mangel an wissenschaftlich-literarischen Erzeugnissen liefert hierfür den besten Beweis.

Auf dem Gebiete der Geschichte, der Geographie und der Statistik ihres Landes waren es nicht die Brasilianer, welche Hervorragendes leisteten, sondern Deutsche oder wenigstens Abkömmlinge von Deutschen. Die in der Landessprache geschriebene „Allgemeine Geschichte Brasiliens“, ein sehr brauchbares, wahrhaft wissenschaftliches Werk, das seltsamer Weise in Lissabon gedruckt worden ist, wurde von Franz Adolf von Varnhagen, dem Sohne eines in Brasilien eingewanderten deutschen Edelmannes, geschrieben; mit dem berühmten Handbuche der Geographie und Statistik Brasiliens von Professor Wappaeus in Göttingen kann kein brasilianisches Werk auf diesem Gebiete rivalisiren, und so hat man denn dasselbe in das Portugiesische übersetzt; ja selbst die Geschichte des angeblich glorreichen Krieges, welchen Brasilien und Argentinien gegen Paraguay geführt haben und zu dessen unsterblichem Andenken in den größeren Städten des Landes prunkvolle Siegessäulen errichtet wurden, fand unter den Brasilianern zunächst keinen Darsteller – sondern das Werk des kürzlich in Potsdam verstorbenen Hofrathes Schneider über den Krieg in Paraguay mußte übersetzt und damit dem Mangel abgeholfen werden.

Tobias Barreto de Meneses.
Nach einer Photographie auf Holz gezeichnet von Adolf Neumann.

Philosophen haben die Brasilianer nicht aufzuweisen; eine oberflächliche Kenntniß der Systeme französischer Philosophie und ein geistloses Nachbeten derselben ist Alles, was man auf diesem Felde von den Brasilianern erwarten kann. Eine wahre Antipathie scheinen sie gegen Alles zu haben, was Naturwissenschaft heißt, und die Kenntniß der reichen Fauna und Flora ihres Landes verdanken wir ausschließlich europäischen Gelehrten. So hat sich bis jetzt keine Wissenschaft selbstständig in Brasilien entwickelt, am allerwenigsten eine Kritik, die ihr schneidiges Schwert über die jammervollen Gebilde der dortigen Literatur zu schwingen wüßte.

Um nicht ungerecht zu sein, müssen wir aber hervorheben, daß die Brasilianer für die Lyrik ein ausgesprochenes Talent besitzen. In Brasilien ist mindestens jeder dritte Mensch, wenn auch gerade kein Dichter, so doch ein Dichterling, und die Erzeugnisse der brasilianischen Lyrik, so sentimental und in ihrem Ideenkreise beschränkt sie uns auch erscheinen mögen, enthalten doch Perlen wahrer Dichtkunst. Anders mit dem Drama und dem Roman. Diese werden ganz vernachlässigt, und die brasilianischen Theater nähren sich von den Brosamen, die ihnen in schlechten Uebersetzungen französischer Romane und Spectakelstücke zugeworfen werden. Für Musik haben die Brasilianer einiges Talent, aber nur ein musikalisches Genie dürfen sie das ihre nennen, nämlich den kleinen Dengremont, welcher jetzt die Musikfreunde deutscher Großstädte mit seinen Leistungen entzückt, und dieser ist eigentlich auch nur ein halber Brasilianer, da er, obwohl in Brasilien geboren, von französischen Eltern abstammt; Gomes mit seiner gar nicht einmal originellen Oper „O Guarany“ kann unmöglich ein Genie genannt werden, obgleich ihm die Brasilianer selbst den hochtönenden Namen „der brasilianische Mozart“ beigelegt haben; in der Malerei hat sich bisher nur Americo mit seinem Bilde „die Schlacht von Riachuelo“ hervorgethan; brasilianische Bildhauer giebt es meines Wissens nicht, und architektonischer Geschmack geht der ganzen Nation vollständig ab.

In dieser geistesarmen Welt ist die deutsche Colonie in Brasilien wie eine Oase in der Wüste zu betrachten. Die 130,000 Deutschen, die in den südlichen Provinzen Rio Grande do Sul, St. Catharina und Paraná leben und ebenso jene, welche sich in den Provinzen Rio de Janeiro und Sao Paulo – allerdings in weit geringerer Anzahl – niedergelassen haben und durchschnittlich pecuniär sehr wohl situirt sind, führen ein frisches geistiges Leben. Die Thatsache, daß sie nicht allein sechs deutsche Zeitungen, sondern auch Volkskalender, gute Lesebücher und Fibeln, landwirthschaftliche Werke u. dergl. in ihren Druckereien erscheinen lassen und einen bedeutenden buchhändlerischen Verkehr mit ihrem Stammlande unterhalten, zeugt genügend dafür. Es konnte dies nicht ohne Einfluß auf die mit ihnen verkehrenden Brasilianer bleiben, besonders da viele gebildete und talentvolle Deutsche sich dem Lehrerberufe an brasilianischen Schulen widmeten und ihren Zöglingen die Schätze deutscher Literatur erschlossen. Der seit Jahren an den höheren Schulen von Rio Grande eingeführte obligatorische Unterricht im Deutschen, an den im übrigen Brasilien, zumal in Rio de Janeiro, gar nicht zu denken ist, kann als gezeitigte Frucht der Arbeit jener wackeren Pioniere deutscher Cultur betrachtet werden. Auf Rechnung eben dieser Arbeit ist auch das Merkwürdige zu setzen, daß ein Vollblutbrasilianer, Bernardo Taveiras in Pelotas, vor etwa fünf Jahren einen Band wahrhaft classischer Uebersetzungen der herrlichsten Balladen von Goethe, Schiller und Uhland sowie der Heine’schen Lieder herausgab.

Finden wir für diese erfreuliche Erscheinung eine hinlängliche Erklärung in den Verhältnissen von Rio Grande, so standen wir wie vor einem Räthsel, als im Jahre 1875 in Pernambuco, wo verhältnißmäßig sehr wenige Deutsche leben, ein Buch erschien, das den Titel „Ensaios e estudos de philosophia e critica“ führte und von einem bis dahin völlig unbekannten Autor, der sich Tobias Barreto de Meneses nannte, verfaßt war.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 701. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_701.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)