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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

Das ist doch was. Aber eine feine Nase hat der Amtsrichter. So was ‘rauszukriegen, von welchem Unsereiner nicht einen Schimmer hat. – Soll ich dem Schubjack auf Kopf, Brust oder Gesäß zielen, Herr Amtsrichter?“ fragte er dann laut.

Sie waren etwa bis zur Mitte des Waldes gelangt.

„Pst doch!“ gab der Amtsrichter zornig zurück. „Nicht so schreien! Sind Sie Ihres Schusses sicher, dann suchen Sie den Kerl nur unschädlich zu machen, nicht zu tödten.“

„Also auf die Beine,“ murmelte Steffke.

„Pst, hörten Sie nichts, Steffke?“

„Mir ist nichts bewußt, Herr Amtsrichter.“

„Mir schien, als hustete Jemand da unten am Hohlweg, wo die Stufen in den Felsen gehauen sind. Es schien aus dem Gebüsch zu kommen.“

„Mir ist nichts bewußt, Herr Amtsrichter. Und mit Verlaub – von da unten bis hier herauf kann man kaum Jemanden husten hören.“

Alles war so still wie zuvor, als die Männer lauschten.

„Lassen Sie uns hinab eilen, Steffke! Ich glaubte es bestimmt zu hören. Treten Sie auf den Moosrand am Wege, wie ich, und nun vorwärts!“

Sie hatten kaum einige Schritte gethan und den Hohlweg eben erst zu Gesicht bekommen, als eine menschliche Gestalt, in raschem Aufstieg um die Ecke biegend, vor ihnen auftauchte; aber es war nicht die Gestalt des ruchlosen Gesellen, den Kern suchte, sondern das liebliche Mädchen, zu dessen Schutz der Richter hierher geeilt war. In der Hand hielt sie Epheuranken und Rosen vom Grabe des Vaters.

„Ist das der Mörder?“ murmelte Steffke unwillig. „Am Ende doch blos als Brautführer mitgeschleppt!“

„Margret! Komm so rasch wie möglich zu uns!“ rief Kern, indem er selbst noch eiliger hinabstieg.

„Da haben wir’s!“ brummte Steffke und wollte die Büchse wieder überwerfen.

„Zu Hülfe, Onkel Kern, zu Hülfe!“ rief die Stimme des Mädchens plötzlich angstvoll flehend aus der Tiefe.

King hatte sich, von Margret unbemerkt, mit einem Satze, wie ein Luchs, hinter den Büschen hervor in den Hohlweg geschwungen und das zum Tod erschrockene Mädchen mit der Linken von rückwärts im Nacken erfaßt.

„Feuer!“ commandirte der Amtsrichter. Aber Steffke konnte nicht schießen, ohne das Mädchen zu gefährden; denn King deckte sich gegen den Gensd’armen vollständig durch Margret.

Mit einem Male blitzte es in der rechten Faust des Menschen, und ein furchtbarer gellender Schrei entrang sich den Lippen des Mädchens. Dann brach sie lautlos zusammen, wie der Mohn, den die Sense des Schnitters geknickt hat.

Nun krachte Steffke’s Büchse. Der Verbrecher taumelte nach rückwärts und stürzte wenige Schritte von seinem unglücklichen Opfer mit gellem Fluche zusammen.

Kern war an der Unglücksstätte angekommen. Er legte das bleiche Haupt des Mädchens, das er wie ein Kind geliebt und gehütet, in seinen Schooß und faßte nach der lieben kleinen Hand. Ein mattes Lächeln glitt über Margret’s Züge; dann bewegte ein schwacher Hauch die bleichen Lippen, und das schöne Auge schloß sich.

„Margret, süßes, liebes Kind!“ flehte der Amtsrichter. „Du darfst nicht von uns scheiden.“

Und heiße Tropfen aus seinen Augen überströmten die Wangen der Leblosen, vermischten sich mit den rothen Tropfen, welche ihrer Brust entströmten und die Rosen in ihrer Hand mit blutigem Thau benetzten. Kaum fühlbar ging noch ihr Puls. Ihr Athem stockte.

Mit furchtbarem Ingrimme entriß der Amtsrichter dem Gensd’armen, der schweigend an seine Seite getreten war, das Gewehr und stürzte auf den Mörder zu, der sich stöhnend und jammernd am Boden wälzte. Schon hatte er den zweiten geladenen Lauf an dessen Schläfe gesetzt, als er die Waffe wieder sinken ließ.

„Nein, das ist nicht meines Amtes,“ seufzte er. „Wir müssen ihn der Gerechtigkeit überlassen.“

„Nehmen Sie ihm die Mordwaffe ab, Steffke, und untersuchen Sie seine Wunde!“ setzte er dann hinzu.

„O, ich habe ihn laut Ordre, bestimmt nur in den rechten Schenkel geschossen,“ versicherte der Gensd’arm treuherzig und zuversichtlich, indem er das Messer an sich nahm.

Kern kniete wieder neben jung Margret. Noch schlug ihr Puls, matt und unregelmäßig wie der einer Sterbenden, noch ging ihr Athem, aber kaum merkbar.

Leute aus dem Dorfe kamen herbei, durch den Schuß, durch die Rufe Margret’s herbeigerufen. Bahren wurden dann gebracht, auf deren eine der verwundete Mörder mit nothdürftigem Verband gelegt wurde. Auch ein Arzt, der auf seinem Berufswege gerade im Dorfe gewesen, eilte nach wenigen Minuten herbei. Er untersuchte Margret’s Wunde, legte einen Nothverband an und hieß die Bewußtlose in’s Städtchen tragen. Auf die ängstliche Frage Kern’s nach Margret’s Befinden zuckte der Arzt die Achseln.

„So weit ich bis jetzt erkennen kann“ – sagte er – „liegt keine absolut tödtliche Verwundung vor. Die Mordwaffe, die auf das Herz gezückt war, ist an der Rippe ausgeglitten. Aber bedenklich bleibt die Verwundung immerhin.“ –

Wie ein Lauffeuer durcheilte die furchtbare Kunde das Städtchen. Nur mit genauer Noth entging der Verbrecher dem drohend erhobenen Arme der Volksjustiz. Selbst in den Festjubel der Residenz warf der elektrische Funke die finsteren Schatten dieser Trauerbotschaft. Den herzzerreißenden Jammer der armen Mutter aber, der die heißgeliebte einzige Tochter bewußtlos in’s Haus getragen wurde, den schildert keine menschliche Feder. –




Wochenlang lag Margret zwischen Leben und Sterben.

Dann aber durcheilte endlich die frohe Kunde die Stadt: „Margret ist gerettet!“ Langsam, aber stetig wachsend, kehrte ihr die Kraft und Gesundheit der Jugend zurück.

Kern hatte, als Hauptzeuge bei dem neuen Verbrechen King’s, sofort nach der Rückkehr in’s Städtchen telegraphisch um Abordnung eines Stellvertreters zur Führung der Untersuchung wider King gebeten. Der Stellvertreter traf ein, war indessen rasch am Ziele seiner Thätigkeit.

King war selten vernehmungsfähig. So oft der Verbrecher vernommen werden konnte, gestand er mit teuflischem Behagen seine Absicht ein, jung Margret zu morden. Er fluchte dann immer wild über „den alten Fuchs von Amtsrichter“, daß dieser ihn gehindert habe, „die Arbeit ganz zu thun, und auch bei der Mutter seinen alten Racheschwur einzulösen“. Der nichtswürdige Geselle richtete in den ersten Tagen nach der That immer wieder die Frage an den Untersuchungsrichter, ob denn nicht bald das Sterbeglöcklein für der Wirthin Töchterlein ertöne? Als er dann, nach Wochen steten Fiebers und wilder Träume bei Tag und Nacht, die eine wesentliche Verschlimmerung seines Brustleidens anzeigten, bei seiner ersten Vernehmung wieder dieselbe Frage an Kern’s Stellvertreter richtete, da antwortete ihm der Richter: „Margret ist gerettet. Sie wird genesen!“

King stieß einen wilden Fluch aus; seine Augen traten aus den tiefen Höhlen hervor; seine Rechte erhob sich noch einmal, wie um einen Stoß zu führen, in die leere Luft. Widerlich verzerrten sich seine Züge. Plötzlich stockte ihm jedes Wort im Munde, als würde ihm die Kehle zusammengeschnürt. Ein Blutsturz, und – King hatte geendet.




Abermals waren Wochen vergangen. Die letzten Tage des Rosenmonds waren gekommen. Zwanzig Jahre waren verstrichen seit der dunklen That der Johannisnacht, die dem Meister Wolf das Leben gekostet.

Jung Margret stand etwa an derselben Stelle, wo Kern ihren Hülferuf vernommen – unter dem Buchendom am Rande der Mooshalde, die den felsigen Weg überragte. Sie blickte hinab auf die Felsentreppen, die vor wenigen Wochen der Schauplatz des blutigen Frevels gewesen. Lächelnden Mundes, als sei der heilige Friede dieses schönen Waldtempels nie entweiht worden, als sei nicht dort ihr Leben an jener Schwelle gestanden, hinter der es keine Rückkehr giebt, blickte sie in die Tiefe.

Zum ersten Mal wieder zeigten ihre Wangen das frische Roth der Gesundheit, das der rasche Aufstieg ihr in’s Antlitz getrieben.

„Ihr geht mir zu langsam, Mutter und Onkel Kern,“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 711. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_711.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)