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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)


sich eine Anzahl dicht beisammen stehender Menschen, theils in bürgerlicher Kleidung, theils in Uniform hinter einem frisch aufgeworfenen Sandhügel.

Was hatte das zu bedeuten? Ich sah nach dem Hauptmanne, der in der Nähe bei den französischen Officieren stand; er war bleich, und man sah ihm Schrecken und Aufregung an. Ein alter Troupier in meiner Nähe, der als Fremdenlegionär in der Krim, in Algier, Italien und Mexico unter den napoleonischen Fahnen gedient hatte, warf mit gestrecktem Halse zwischen seinen Vormännern hindurch einen forschenden Blick nach dem räthselhaften Menschenknäuel und der ebenso räthselhaften Grube und sagte dann: „Corporal, verlaßt Euch darauf – da giebt’s eine Füsillade.“

Himmel und Hölle – mir ward es schwarz vor dem Gesicht und das Blut erstarrte mir vor Entsetzen. Wo hatte ich doch meine Augen vorher gehabt – wahrhaftig: das war ein offenes Grab, neben dem in dem Sandhügel die Spaten zum Zuwerfen steckten. Und jetzt erkannte ich auch die Uniformen der Sbirren in dem Haufen und sah sie gefesselte Männer bewachen. Gräßlich!

Also zu Henkern hatte man uns bestimmt! Nein, mehr noch, zu Mördern! Denn daß es sich nicht um die Ausführung eines rechtmäßigen Urtheiles handelte, sondern um einfachen Mord, das zeigten die absonderlichen Umstände, unter denen die Execution stattfinden sollte. War es nicht das erste Geschäft der nach 1849 zurückkehrenden päpstlichen Regierung gewesen, an Stelle der vom Volk verbrannten Guillotine ein neues solches Mordinstrument anzuschaffen, mit dem die Hinrichtungen in der Hauptstadt der Christenheit öffentlich ausgeführt wurden? Warum entzog man diese Opfer dem schauwüthigen, demoralisirten Pöbel Roms und schleppte sie hierher in eine öde, menschenverlassene Gegend?

Aber was sollten wir, die wir zur Durchführung des Bubenstreiches bestimmt waren, thun? Als echte Mordknechte ohne Liderzucken den Blutbefehl ausführen? Unsere ganze Abtheilung, welche die Schreckensnachricht wie der Blitz durcheilt hatte, war empört über die ihr zugemuthete Rolle, und Niemand wollte Theilnehmer an der Execution sein. Aber die Disciplin! Und würden nicht Widerspänstigkeiten schnell durch die Franzosen unterdrückt werden, die vielleicht zu gar keinem andern Zwecke da waren? Ja, ja, das war’s: die Franzosen mochten sich wohl für die ihnen zugemuthete Ehre, Henker zu spielen, bedankt haben, weshalb man uns und gerade uns, die wir ohne Aufsehen herbeigeschafft werden konnten, holen ließ; aber man mißtraute unserer Brauchbarkeit für solche Dinge, und darum umstellte man uns mit einer Uebermacht fremder Truppen, die uns die Möglichkeit einer Nichtausführung des Blutbefehls benehmen sollten. Wie nun aus diesem Dilemma herauskommen?

Alle Gedanken und Erwägungen wurden durch einen Trommelwirbel der französischen Tamboure und das Commandowort unseres Hauptmanns abgeschnitten. Der Letztere, ebenfalls ein Deutscher, dem trotz seiner bekannten Frömmigkeit und päpstlichen Gesinnung das Henkeramt offenbar gleich uns in tiefster Seele widerstrebte, trat mit trübseliger Miene vor die Front und forderte Freiwillige zur Execution vor. Aber Niemand meldete sich. So mußte denn eine Squadra – zwölf Mann – commandirt werden. Als dieser der Befehl zum Vormarsch gegeben wurde, zuckte manche Miene, manche Lippe bewegte sich zu einer leisen Frage, aber ein energisches Commandowort und – die Disciplin hatte gesiegt. Das Peloton lud die Gewehre.

Jetzt wurden von den Sbirren zwei der Opfer vor die Grube geführt, das eine ein älterer, hagerer Mann, das andere eine kleine, corpulente Figur mit rothem Bart und lebhaften Bewegungen, beide in eleganter Kleidung. Alsdann trat ein ebenfalls in Begleitung der Sbirren angekommener Beamter vor und verlas pathetisch das „Urtheil des heiligen Tribunals“. Die beiden Verbrecher, „deren Namen den hochwürdigsten General-Inquisitoren bekannt“ seien, hätten sich des „gottlosen Hochverrathes an der Regierung Seiner Heiligkeit“ schuldig gemacht und darum den Tod verdient.

Die Sbirren traten zur Seite; das Commando des Sergeanten des Executionspelotons ertönte; der Kleine rief ein trotziges „morte ai tiranni!“ – die Gewehre knatterten und als sich der Pulverdampf verzogen hatte, sahen wir erschüttert die beiden Opfer der milden, gottesfürchtigen Regierung in den Sand gestreckt.

Aber was war das? Das Würgen hatte noch kein Ende; denn ein neues Opfer ward auf den blutbespritzten Plan geschleppt. Dieser Mann aber, der keine Städterkleidung trug, sondern eine mir bekannte ländliche Tracht – täuschte eine Spukgestalt meine erregten Sinne oder war es Wahrheit? – dieser Mann, der jetzt eisengefesselt, gebeugt, aber festen Schrittes vor die Gewehrmündungen trat, war – Boticelli, unser Freund und Lebensretter.

Ich glaubte, der Schlag müsse mich rühren oder die Nacht des Wahnsinns mich umfangen, und eine Minute lang war ich wie gelähmt. Ich sah und hörte nichts, was um mich vorging, weder das Flüstern und Murren meiner empörten Cameraden, die ebenfalls Boticelli erkannt, noch den befehlenden Zuruf des über die Unruhe seiner Abtheilung erstaunten Hauptmanns; ich starrte nur wie durch einen Zauber gebannt die mir so sympathische, nun wohl durch Kerkerhaft und Mißhandlungen gebrochene Gestalt des Freundes an und hörte die Stimme des danebenstehenden Beamten, der das Urtheil verlas. Welche Gründe wollte man hier nennen, den Mord zu rechtfertigen? Wessen erfrechte man sich diesen Mann zu bezichtigen, dem die Regierung so viel Dank schuldete? „Nachdem er sich fortgesetzt feindselig gegen die Regierung des heiligen Vaters und unsere heilige Religion benommen und gegen sie conspirirt, auch die Soldaten des römischen Stuhles zum Ungehorsam und zum Abfall zu verleiten gesucht, ging er in der Bosheit seines Herzens so weit, seinen ihm verwandten Knecht, einen treuen Freund der Regierung, dessen Ueberwachung er fürchtete, vorbedacht zu ermorden und für dieses Verbrechen durch meineidige Versicherung einen treuen Unterthan und Beamten verantwortlich zu machen, um danach aus dem Lande zu fliehen, woran ihn aber die Pflichttreue des von ihm fälschlich denuncirten Sbirren Castelvetri rechtzeitig verhindert.“

Ein „Ah“ der Verwunderung, in das meine Nebenmänner ausbrachen, löste den Bann und gab mir den Vollbesitz meiner Sinne wieder. Nun aber hielt mich keine Disciplin mehr, und schnell trat ich salutirend aus dem Glied an den Hauptmann, der eben ergrimmt auf die unbotmäßige Abtheilung zustürzte, heran, um ihm von der unerhörten Frevelthat Meldung zu machen, die hier begangen worden und eben mit dem schändlichsten Mord gekrönt werden sollte. Währenddessen war die Abtheilung in ein lautes Murren ausgebrochen, das von dem Geist des Widerspruchs angesteckte Executionspeloton aber hatte kurzweg Kehrt gemacht und war in die Reihe eingerückt.

Natürlich zogen diese außergewöhnlichen Auftritte die Aufmerksamkeit der Franzosen in immer höherem Grade auf sich, und endlich ritt der Commandant herbei, um sich bei dem Hauptmann über die Gründe der Unruhe zu erkundigen. Als dieser, der sich jetzt von Montefiascone her jenes Meuchelmordes Castelvetri’s erinnerte, selbst empört dem Commandanten Mittheilung über diese Art von römischer Gerechtigkeit machte und ihm erklärte, daß unter diesen Umständen von einer Füsillirung des offenbar Unschuldigen durch seine Abtheilung keine Rede sein könne – da schüttelte auch dieser im Prätorianerdienst ergraute Officier das Haupt.

Ein Officiersrath wurde zusammenberufen, der einstimmig beschloß, daß die Execution bei so überwältigenden Zweifeln an der Schuld des Verurtheilten nicht stattfinden könne, vielmehr das Urtheil dem Gerichte zur Prüfung zurück zu geben und letzteres auf mein und des Hauptmanns Zeugniß für Boticelli und die Weigerung der Abtheilung aufmerksam zu machen sei.

Nachdem der über diese Wendung höchlich verwunderte Regierungsbeamte auf Anfordern unseres Hauptmannes den Sachverhalt zu Protocoll genommen hatte, trat der Hauptmann mit feierlichem Ernste, aber gewiß innerer Zufriedenheit vor die Front, tadelte die Indisciplin, versprach aber, daß der Fall gewissenhaft geprüft werden solle, und forderte uns streng auf, nunmehr voll und ganz zu unserer Pflicht zurück zu kehren und das Weitere ruhig abzuwarten. Dann marschirten wir ab, von den beifälligen Zurufen der Franzosen begleitet und nicht ohne unsrem durch unser Dazwischentreten dem schon geöffneten Grabe entrissenen Freunde, der während der ganzen Scene erstaunt nach uns geblickt, einen stummen Gruß zugeworfen und von ihm einen lauten Segensruf empfangen zu haben.

Mit dem Bewußtsein einer guten That erreichten wir nach längerem Marsche gegen Mittag Civitavecchia wieder, von wo uns derselbe Dampfer, der uns abgeholt, bald nach unserer Garnison zurückbrachte.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 724. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_724.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)