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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

alte Kiste werfend, welche man, so gut es ging, als Altar hergerichtet, donnerte er dem unglücklichen Deutschen zu: „Unterschreibt!“

Vergebens suchte dieser zu zögern; die Mündung der geladenen Pistole wirkte überzeugender, als selbst das Schießen, das von der Möglichkeit der Befreiung sprach, überdies sich jetzt wieder mehr und mehr in die Ferne zu ziehen schien.

Er gab die Hoffnung auf und unterschrieb.

Nun kam die Reihe an die Braut, aber die Feder entsank ihrer zitternden Hand. Wieder stampfte Melazzo mit dem Fuße; dann bückte er sich, hob die Feder auf und drückte sie der Widerstrebenden zwischen die Finger. Er selbst führte ihr die Hand mit entschlossenem Zuge – nun noch Melazzo’s eigene Unterschrift und die eines beliebigen Anderen als Zeugen, dann, nachdem der Mulatte zwei goldene Reife hervorgezogen, der Ringwechsel und das Ja des Paares – alles ging rasch und überstürzt, und dazwischen rückte das Schießen allmählich wieder näher. Endlich war das letzte Wort gesprochen; Pferde wurden vorgeführt, Melazzo, die bewußtlose Braut im Arme, schwang sich auf das eine; hastig wurde Walter auf ein anderes gehoben, dessen Zügel ein dritter Reiter ergriff; einige andere folgten – sie schienen aus dem Boden zu wachsen – und fort ging es über Stock und Stein, hin durch die Dunkelheit, als hätten die Pferde Flügel, erst die Lichtung entlang, dann über enge Waldpfade, ohne Rast, ohne Aufenthalt – jetzt quer über Landstraßen weg, dann an Blockhäusern und Pflanzungen vorbei, fort – fort! Nun sausten sie um ein Städtchen herum, nun über ein Stück Prairie, schneller, immer schneller. Es war wie ein Hexenritt.

Endlich, endlich waren sie am Ziel. Ein breites, schwarzes Wasser schimmerte undeutlich zu ihren Füßen; am Ufer lag ein Kahn; Männer erhoben sich daraus. Sie schienen gewartet zu haben. Im nächsten Augenblick saß Walter im Boote; die Andern folgten – jetzt erst bemerkte der Deutsche, daß auch die Mulattin mitgekommen war. Die Ruder schlugen in’s Wasser, und pfeilschnell ging es stromabwärts zwischen niedrigen bewaldeten Ufern hin, die sich undeutlich im Schimmer des aufgehenden Mondes abzeichneten. Kein Wort wurde gesprochen; kein Laut war vernehmbar; nur die Ruder arbeiteten heftig.

Immer weiter wichen die Ufer zurück; immer höher stiegen die Wellen, und mit dem ersten Morgengrauen hatte man den Hafen erreicht.

Ein einziges Schiff lag da, schwarz in der schwachen Beleuchtung. Zwei Männer lehnten eben an Bord. Kein Ruf erscholl; keine Frage wurde gethan. Walter erhob sich; eine Treppe war herabgelassen, aber er schwankte und mußte beim Hinaufsteigen gestützt werden. Dann kam Melazzo und trug das Mädchen; die Mulattin folgte, so gut sie konnte.

„Ihr kommt spät,“ bemerkte einer der Männer. Es war der Capitain.

„Besser spät, als gar nicht,“ antwortete Melazzo’s tiefe Stimme.

Gleich darauf verschwand er mit der Mulattin und seiner noch immer regungslosen Last in das Innere des Schiffes.

Der Capitain entfernte sich mit seinem Gefährten, um die nöthigen Befehle zu ertheilen, und Walter lehnte betäubt am Borde und starrte halb bewußtlos in den aufdämmernden Morgen hinaus. Er war nicht im Stande, einen Schritt zu thun, nicht fähig einen Gedanken zu fassen; das Uebermaß physischer Erschöpfung hatte ihn gegen Alles stumpf gemacht.

Da fiel die Hand des Mulatten schwer auf seine Schulter.

„Glück in die Ehe und auf die Reise!“ nickte er seinem Opfer spöttisch zu, und zugleich drückte er ihm eine Brieftasche in die Hand. „Da habt Ihr die erste Rate Eurer Einkünfte!“ Und: „Ich werde vorläufig hier Eure Besitzungen verwalten,“ rief er, als er schon, abwärts eilend, auf der Treppe stand.

Ein Aufwärter trat jetzt an Walter heran, ihn in seine Kajüte zu führen, und hier angelangt, schloß dieser die Thür hinter sich ab und warf sich, ohne sich erst zu entkleiden, auf das Bett. Ihm war, als dränge ein leises Wimmern durch die dünne Bretterwand, die ihn von der nächsten Kajüte schied, doch hatte er nicht die Kraft, darauf zu merken, und schon in der nächsten Minute lag er in einem tiefen Schlaf, den wohl selbst die Posaunen des Weltgerichts nicht verscheucht hätten.

Als er erwachte, war es Vormittag. Durch eine halbgeöffnete ovale Krystallscheibe, die der Kajüte als Fenster diente, drang der frische, würzige, unsäglich belebende Hauch der Seebrise und erfüllte den Schläfer, der sich, ohne die Augen zu öffnen, noch auf seinem weichen Lager dehnte, mit einem unaussprechlichen Wohlbehagen.

Wie durch einen Zauber waren alle unangenehmen Ereignisse des vergangenen Tages, wenigstens für jetzt, aus seinem Gedächtnisse weggewischt, und für nichts war, in diesen kurzen Augenblicken Raum in ihm, als für dieses unendlich süße, rein physische Erwachen, welches noch keine geistige Thätigkeit in ihm aufkommen ließ. Endlich mußte er doch die Augen öffnen, und als er jetzt den ersten Blick um sich warf, konnte er sich wirklich in eine Märchenwelt versetzt glauben, so überraschend war die an Pracht streifende Eleganz, die ihn in dem kleinen Raume umgab. Nichts schien vergessen, was nur in irgend einer Weise zum Comfort des verwöhntesten Millionärs gerechnet werden konnte. Unwillkürlich stellte sich ihm der Gegensatz dieser Umgebung zu den Bildern der letzten Tage vor die Seele, und damit begann die volle Wirklichkeit wieder in ihr Recht zu treten.

In diesem Augenblicke pochte es sacht an seine Thür, und eine ehrerbietige Stimme fragte, ob Mr. Walter das Frühstück hier oder im Speisesaale befehle? Walter entschied für den Speisesaal und der Frager zog sich zurück.

Nun mußte er sich doch zum Aufstehen entschließen, so viel Ueberwindung es ihm auch kostete. War es ihm doch, als habe er seit seinen Kindertagen nie mehr so süß geruht.

Seine Blicke irrten träumerisch über den weichen Teppich der Cabine hin; da wurden sie plötzlich von einem Gegenstande gefesselt, der bescheiden im fernsten Winkel lag. Noch ein Blick, und Entzücken durchströmte Walter’s Sinne. Es war keine Täuschung – da lagen sie, die verlorengeglaubten, vielgebrauchten, starkabgenutzten, treuen Bewahrerinnen seiner botanischen Schätze, die Begleiterinnen seiner Mühen, seine alten, lieben, wohlbekannten, unersetzlichen Reisetaschen. Da lagen sie neben ein paar Koffern, die er nicht einmal eines Blickes würdigte, denn da sah er ja auch seine Kapseln – sein Tagebuch, Alles war da, sogar die Pflanzen, die er gestern gesammelt, das Merkbuch, in dem er seine letzte Beobachtung notirt. O Melazzo!

Plötzlich flog ein überraschter Blick auch über die Koffer: zu seiner höchsten Verwunderung erkannte er die Colli, welche er bei dem preußischen Consul in X. zurückgelassen und die nun auf dem Schiffe, in wahrscheinlich gewählter und eleganter Gesellschaft von Passagieren ihm höchst willkommen sein mußten, da sie die im Urwalde überflüssigen Requisiten feinerer Toilette enthielten.

Zuletzt fand sich noch ein fremder Gegenstand: die Brieftasche, die er beim Abschiede von Melazzo erhalten. Er hatte sie beim Eintreten achtlos auf einen Stuhl geworfen, und es war reiner Zufall, daß sie ihm in der Betäubung nicht schon früher aus der Hand gefallen war. Er öffnete sie und sah, daß sie mit Banknoten von ansehnlichem Werth gefüllt war. Dabei lag ein Zettel, wahrscheinlich von des Mulatten Hand, der die letzten Worte wiederholte, die jener seinem Gefangenen gesagt: daß dies die erste Zinsenrate des ihm durch seine Frau zufallenden Vermögens sei.

Jetzt erst fiel es ihm mit voller vernichtender Wucht auf die Seele, daß er neben allem Guten, das ihm geworden, doch auch wirklich und unwiederbringlich verheirathet sei.

O dieser Melazzo! Dieser feige, tückische Schurke!

Es war keine Nothlüge gewesen, als Walter dem Mulatten seine unüberwindliche Antipathie gegen die Ehe versichert hatte. Von allen Blumen, welche das irdische Leben schmücken, hatte der junge Naturforscher sich bisher um keine anderen bekümmert, als um jene, welche man in einem Herbarium aufzubewahren pflegt. Die Frauen aber, wie er sie nun einmal auffaßte, dünkten ihm weiter nichts, als ein beschämender Mißgriff der Schöpfung zu sein. Nach Walter’s Meinung hätten die Menschen – unter welchem Begriffswort seinem Geiste immer nur der Mann vorschwebte – wie die Aepfel auf den Bäumen wachsen sollen, womöglich gleich mit dem Buche in der Hand. Er konnte es nicht fassen, daß ein Mann bei gesunden Sinnen sein Leben, welches er so herrlichen Aufgaben widmen konnte, durch die Sorgen um ein so nichtiges, stets nur um Nichtigkeiten sich sorgendes Wesen zerstückeln konnte. Und nun hatte die Bosheit des Schicksals es auch ihm angethan – er war verheirathet, er, der nie eine andere Geliebte gehabt noch hatte haben wollen, als die Botanik!

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 763. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_763.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)