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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

Jugendleben, diese frische, halb verborgene Fülle beglückendster Weiblichkeit unwiderruflich dem Cultus eines Todten gewidmet war, was ihr in seinen Augen eine gewisse Verwandtschaft mit seinem eigenen Schicksale verlieh?

Wie dem auch sein mochte, so viel ist gewiß, daß er noch nie so oft und so liebevoll der Entschwundenen gedacht hatte, wie jetzt, an der Seite Lucia’s.

Die Baronin schien nicht zu merken, wie der trübe Schatten immer mehr von der Stirn ihrer Schwester schwand, wie ihre erste scheue Blödigkeit, zwar langsam und zaghaft, aber doch immer mehr einer holden Vertraulichkeit wich; sie schien es nicht zu sehen, wie lieblich die junge Frau erröthete, wenn der gelehrte Freund eintrat, mit welchem glücklichen Lächeln sie die kleinen Aufmerksamkeiten aufnahm, die er ihr erwies, welch Hangen und Bangen in ihrem ganzen Wesen lag, wenn er einmal gar nicht oder nur später als erwartet erschien – oder wollte sie es nicht sehen? Manchmal, wenn der Professor sich gar zu sehr in der Betrachtung seiner anziehenden Zuhörerin versenkte, sodaß er darüber ganz die Gegenwart der Baronin vergaß, dann beobachtete ihn wohl die liebenswürdige Frau mit einem eigenthümlichen, zugleich warmen und schalkhaften Blick. Und eines Tages begegnete er zufällig diesem Blick der Baronin und wurde davon bis in die innerste Tiefe seines Gelehrtenstubengewissens getroffen. Er fand keine andere Erklärung für diese zärtlich lachenden, in seinen Anblick verlorenen Augen, als die eine zunächstliegende. – –

War es denn möglich? Hatte sie, die Baronin, wirklich seine achtungsvolle Aufmerksamkeit verkannt und ein wärmeres Gefühl für ihn gefaßt, für ihn, der doch an weiter nichts gedacht, als einige Stunden angenehm zu verplaudern? Sie, eine vernünftige Frau von dreißig Jahren, die noch dazu einen solchen Engel von Schwester an ihrer Seite hatte?

Ach, die Schwester! Ja, da saß es! Und mit einem Male wußte der Professor, wie es mit ihm stand. Die Leidenschaft, die bisher ruhig in ihm gelegen wie ein blauer lächelnder See, brauste plötzlich und wie eine Sturmfluth auf und riß Alles nieder, was an Besinnung und Widerstand in ihm noch übrig war. Kein Wunder, daß auch jeder Gedanke an die Herzensverirrung der Baronin total darin unterging.

Ueber diese wäre er ohnedies sehr bald beruhigt worden. Schon bei der nächsten Table d’hôte kam ihm die liebenswürdige Frau in heller Freude entgegen.

„Mein Mann kommt endlich in einigen Tagen!“ rief sie entzückt und drückte dabei dem Schuldbewußten auf das Herzlichste die Hand. „Vor ein paar Stunden kam der Brief – Sie glauben nicht, wie glücklich ich bin! Und wie freut er sich, Sie kennen zu lernen! Ich und Lucia“ – hier warf sie einen lächelnden Blick auf ihre tief erröthende Schwester – „haben ihm bereits so viel von Ihnen geschrieben – – Aber was haben Sie? Sind Sie krank?“ unterbrach sie sich, ihren Ton plötzlich verändernd. Und auch die junge Wittwe sah ihn so bang und besorgt an, daß er unwillkürlich einen Blick in den Spiegel warf und nun über sein verändertes Aussehen selbst erschrak. Aber vergebens nahm er sich zusammen und suchte seine frühere heitere Unbefangenheit wieder hervorzuzwingen; die Revolution in seinem Innern wollte nach außen ihren Ausdruck haben, und zum ersten Male, seitdem er die Cur begonnen, litt unser Botaniker an Sprach- und Appetitlosigkeit.

Als die Table d’hôte endlich überstanden war, nahm die Baronin scherzend seinen Arm.

„Ich nehme Sie gleich mit,“ sagte sie, „die Luft wird Ihnen wohl thun, und mir ist es Bedürfnis, meine Freude in’s Freie zu tragen.“

Sie verließen das Hôtel und wanderten langsam zum Strande.

„Sie wissen nicht, welch ein prächtiger Mensch mein Lothar ist,“ plauderte die Baronin heiter. „Es ist eigentlich kindisch von einer so alten Frau, nach einer kaum dreiwöchentlichen Trennung von ihrem Ehemanne sich so sehr auf das Wiedersehen zu freuen, aber selbst in meiner Brautzeit hätte ich mich nicht inniger nach ihm sehnen können. Wenn es wahr ist, daß die Ehe die Liebe tödtet, so hat der Himmel mit uns eine gütige Ausnahme gemacht. Ich bin nun zehn Jahre verheirathet, aber ich glaube, gerade jetzt könnte ich die größten Thorheiten begehen, wenn meiner Liebe Gefahr drohte, und ich denke nicht, daß Lothar viel vernünftiger ist. Aber Sie werden ihn ja sehen, und ich bin überzeugt, daß auch Sie Gefallen an ihm finden werden –“

„Und wie wird er sich über Lucia freuen!“ fuhr sie fort, ohne zu beachten, wie der Professor sie ob dieser intimen Beichte verwundert ansah. „Die Seebäder haben Wunder an ihr gethan“ – hier warf sie einen verstohlenen Seitenblick auf den Professor – „haben wir doch lange geglaubt, sie würde sich von dem furchtbaren Schlage niemals erholen, und eigentlich war es viel mehr ihretwegen, daß meine Nerven durchaus der stärkenden Seebäder bedurften. Nun, das Mittel hat angeschlagen,“ lachte sie fröhlich, „und ich hoffe, o, ich hoffe, daß Alles noch gut werden wird.“

Wieder streifte ein bedeutsamer Blick ihren Begleiter, jener Blick, der zugleich ein lustiges Geheimniß und ein warmes Herzensinteresse anzudeuten schien und der ihn gestern so unverständlich berührt hatte.

„Lucia ist so viel besser als ich,“ fuhr die schöne Frau nach einer Pause mit Innigkeit fort. „Ich war immer flatterhaft und voller Launen, und es bedurfte Lothar’s ganzes Erziehungstalent, um eine halbwegs vernünftige Frau aus mir zu machen. Aber mit Lucia war das ganz anders. Sie hat immer etwas Liebes und Ernstes gehabt, selbst als sie noch klein war, und was hat sie nicht Alles schon durchlebt!“

Wieder schwieg sie und sah vor sich nieder, wie in trübe Erinnerungen verloren.

„Es giebt wohl nichts Traurigeres für ein Kind,“ hub sie dann wieder an, „als kein eigentliches Elternhaus zu haben. Verwandte, mögen sie noch so zärtlich sein, ersetzen das nie. Mein leichter Sinn hob mich aber darüber hinweg, und ich habe wenigstens eine glückliche Kindheit gehabt. Als mein Vater starb, war ich acht Jahre alt, und als dann meine Mutter wieder, und zwar in das Ausland, heirathete und mich bei ihren Eltern zurückließ, noch nicht zehn. Sie hatte wenig Freude draußen. Schon die Trennung von mir, mehr noch die rohe Art des Stiefvaters zehrten an ihrem Leben, ein nie verlöschendes Sehnen führte sie langsam dem Grabe zu. Kaum ein Jahr nach Lucia’s Geburt, welche Zeit sie bei den Großeltern verbrachte, weinte ich an ihrer Leiche. Lucia blieb zunächst, wie ich, bei den Großeltern; ihren Vater habe ich seitdem nicht mehr gesehen – Sie können sich denken, was die Kleine für mich war. Eine niedlichere Puppe konnte ich mir gar nicht wünschen, und sie hatte den großen Vorzug, daß sie lebendig war. Uebrigens machte ihr herziges stilles Wesen sie bald zum allgemeinen Liebling, und das nahm zu, wie sie heranwuchs. Hätte mein Stiefvater sie uns doch gelassen! Gott sei Dank! sie hat nichts von ihm, als eine gewisse äußere Aehnlichkeit, im Gemüth, im Charakter gleicht sie ganz unserer sanften, vortrefflichen Mutter. Als sie kaum buchstabiren konnte, nahm der Vater sie von uns weg und ließ sie nach Frankreich in ein Kloster bringen, wo sie erzogen wurde. Bald nachdem sie es verlassen, fand ihre Vermählung statt und –“

Die Baronin stockte, eine tiefe Trauer überschattete ihr sonst so heiteres Gesicht.

„Es ist Schreckliches über das arme Kind gekommen“ fuhr sie nach einer Pause fort: „Ihr Vater starb auch, und so kam sie denn wieder zu uns, als Wittwe, gebrochen an Körper und Seele. Erst glaubten wir, sie werde ihr Unglück nicht überleben. Aber Gott ist gnädig, selbst in seiner Strenge. Er hat meinem Schwesterchen Hülfsquellen gegeben, die er meiner prosaischen Natur gänzlich versagte. Alles unter dem Himmel, Kleines und Großes, macht ihr Freude. Auch dem Unbedeutendsten weiß sie einen Reiz abzulauschen und es ist zum Staunen was sie Alles weiß. Sie sollten nur ihre Bibliothek zu Hause sehen, und besonders für die Botanik hat sie eine ganz eigene Passion.“

Hier blitzten wieder ihre Augen in heiterer Schalkhaftigkeit den Professor an, aber Walter fand noch immer nichts zu sagen.

„Sie hat seitdem immer bei uns gelebt,“ erzählte die Baronin weiter, „und ich kann wohl behaupten, daß sie uns recht unentbehrlich geworden ist. Mein Mann liebt sie fast wie ein eigenes Kind, und was mich betrifft, so weiß ich wirklich nicht recht, wie ich ohne Lucia im Hause fertig werden soll, aber doch würde ich mich von Herzen freuen, wenn endlich auch meiner armen kleinen, vielgeprüften Schwester ein wahres Glück erblühen könnte, wie ich es gefunden und wie sie es so sehr verdient.“

Die Baronin hatte Thränen in den Augen während sie das

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 794. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_794.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)