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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

In Oberstedingen war der Erzbischof fortan unbeschränkter Herr und belohnte die Grafen und Edeln, die Mönchsorden und Kirchen, kurz alle seine Helfershelfer mit den Gütern der Bauern; dabei hütete er sich aber wohl, die zurückgebliebenen Arbeitskräfte außer Land zu treiben, denn bekanntlich zog es die Kirche stets vor, Andere für sich arbeiten zu lassen. Auf die verwaisten Höfe setzte er als Meier herbeiziehende Fremde, namentlich Friesen, weshalb die neue Bevölkerung immerhin äußerlich einen der alten verwandten Charakter bewahrt hat. In den letzten Jahren des dreizehnten Jahrhunderts machten auch die Oberstedinger einen Versuch, das Joch abzuschütteln und ihre Selbstständigkeit wieder zu erringen – der Versuch mißglückte aber in Folge von Verrath vollständig.

Sechshundert Jahre nach dem Schlachttage von Altenesch, am 27. Mai 1834, setzte eine pietätvolle Generation dem Andenken der Stedinger ein einfaches, würdiges Denkmal auf dem Schlachtfelde selbst, wo jenes tapfere Bauernvolk, den Streichen der römischen Curie erliegend, den Heldentod starb, und wohl ziemt es uns, den Glücklicheren, die wir im hellen Tageslichte einer neuen Zeit wandeln, derjenigen zu gedenken, welche im Kampfe mit den finsteren Mächten des Mittelalters, um die Fahne der Freiheit geschaart, heroisch kämpfend untergingen. Und mit dem schönen Worte, mit welchem Arnold Schloenbach sein Epos[1] über die Stedinger endet, wollen auch wir schließen:

„Jedes Kämpfen für die Freiheit
     Geht der Menschheit nie verloren,
Und aus jedem ihrer Gräber
     Wird sie mächt’ger stets geboren.
Alles Blut, was ihr geflossen,
     Tränkt allewig ihre Saat;
Jede That der Weltgeschichte
     Zeugt auch wieder eine That.“

F. Lindner.




Nach siebenzig Jahren.
Ein Rückblick auf das Wirken des Vaters der deutschen Genossenschaften.[2]


Wer den westlichen Theil der Leipzigerstraße in Berlin zur Zeit der Reichstagssessionen in den Morgenstunden zwischen zehn und elf Uhr durchschreitet, dem wird unter all den ausdrucksvollen Gestalten der Volksvertreter ein nicht zu hoch gewachsener Greis mit mächtigen Schultern auffallen, welcher mäßigen, aber festen Schrittes, ein wenig vornüber gebeugt, dem Eingang des Parlamentes zugeht. Die hohe Stirn, der kraftvolle Mund, welchen leicht ein humorvolles Lächeln umspielt, schneeweißes Haar und gleichgefärbter Bart, blaue, gleichsam funkensprühende Augen, welche in ihrer Jugendlichkeit die Anzeichen des Alters Lügen zu strafen scheinen, vereinigen sich zu einem ebenso wohlthuenden, wie bedeutsamen Ganzen. Mit freundlichem Blick und Dank den häufigen ehrfurchtsvollen Gruß, der ihm vorzüglich von anscheinend dem kleinen Bürgerstande angehörigen Männern zu Theil wird, erwidernd, schreitet Dr. Hermann Schulze-Delitzsch der Versammlung zu, welche er so oft mit der gewaltigen Kraft seiner Rede hingerissen und für seine Gedanken gewonnen hat. Doch, wie groß auch die Zahl seiner parlamentarischen Erfolge ist, wie mächtig sich auch der Einfluß offenbart, welchen die unentwegte Stütze der Fortschrittspartei auch auf die politischen Gegner übt – diese Seite der Thätigkeit Schulze’s hat den geringeren Antheil an seiner Bedeutung. Um mit dem gelehrten französischen Schriftsteller Nefftzer im Pariser „Temps“ zu sprechen: „Gehörte Hermann Schulze-Delitzsch auch nicht dem Landtage von Berlin und dem Parlamente des Nordbundes an, so würde er nichts desto weniger allein durch den Werth seiner Wirksamkeit eine der ersten und mächtigsten Persönlichkeiten Deutschlands sein.“

Von all den Vielen, welche sich berufen glauben, die Lösung der socialen Frage zu ihrem Lebenszweck zu machen, ist Schulze, der Vater der auf Selbsthülfe gegründeten Genossenschaften, einer der Auserwählten, welcher für seine Ideen die am schwersten wiegenden praktischen Erfolge in die Wagschale zu werfen vermag. Aus der Delitzscher Rohstoffassociation der Schuhmacher und dem Vorschußverein, welche Schulze im Jahre 1849 und 1850 mit einer Handvoll Anhänger in das Leben rief, sind dem Jahresbericht von 1878 zufolge im deutschen Reiche 3146 nachweisbare Genossenschaften mit mehr als einer Million Mitglieder emporgewachsen. Nach den Schlüssen, welche aus den vorliegenden Geschäftsergebnissen des letzten Jahres gezogen werden müssen, sind in demselben von den Genossenschaften für über 2000 Millionen Mark Geschäfte gemacht, 160 bis 170 Millionen eigener Capitalien in Antheilen und Reserven angesammelt und über 400 Millionen Mark verzinsliche Anleihen zum Geschäftsbetrieb aufgenommen worden. Allein von der Hälfte sämmtlicher Creditgenossenschaften ist den eigenen Mitgliedern eine Summe von 1456 Millionen Mark an Vorschüssen gewährt worden. Diese ungeheuren Zahlen sprechen für sich selbst und lassen nur noch mehr die kaum glaubliche Arbeitskraft des Mannes bewundern, der diese Riesenelemente beherrscht.

Denn: um die Centralorganisation der Genossenschaften zu ermöglichen, hat Schulze den „Allgemeinen Verband der auf Selbsthülfe beruhenden deutschen Erwerbs- und Wirthschaftsgenossenschaften“ gegründet, dessen Geschäfte er selbst als besoldeter Anwalt mit einem förmlich eingerichteten Bureau führt. Die 1100 Vereine, welche bereits dem Verband beigetreten sind, beschicken alljährlich mit Deputirten den „Allgemeinen Vereinstag“, der die gemeinsamen Lebensinteressen der Genossenschaften zu wahren berufen ist. Als Mittelglieder zwischen diesem Centralorgan und den Einzelvereinen bestehen Unter- oder Landes-Verbände von bald größerem, bald kleinerem Umfang, zur Zeit 32 an der Zahl. Ihre Vorstände bilden den engeren Ausschuß, der, zumal in Finanzfragen, dem Anwalt zur Seite steht. Welch hohe Bedeutung die durch den Verband geschaffene Wechselwirkung der Vereine haben muß, liegt auf der Hand: durch Capitalaushülfe wird die Creditfähigkeit der Vereine gehoben und Stockungen begegnet; durch gegenseitigen Commissions- und Incassoverkehr werden die Kosten desselben auf ein möglichst geringes Maß zurückgeführt.

Doch auch die Großbankverbindung wußte Schulze seinen Schöpfungen dienstbar zu machen. 1864 gründeten die verbündeten Vereine in der „Deutschen Genossenschaftsbank“ von Sörgel, Parisius u. Comp. zu Berlin ein Centralgeldinstitut mit einem Commanditantheilscapital von gegenwärtig 9 Millionen Mark. Im Jahre 1871 wurde zur Erleichterung des Geldverkehrs der süddeutschen Genossenschaften eine Commandite der Bank in Frankfurt a. M. eröffnet.

Daß die Gesetzgebung dieser ungemeinen Ausdehnung der Genossenschaften gegenüber nicht unthätig bleiben konnte, war eine unmittelbare Folge einerseits der rechtlichen Eigenart dieser Schöpfungen, andrerseits der rastlosen Thätigkeit Schulze’s auch auf diesem Gebiet. Nachdem der preußische Staat bereits dem Bedürfniß nach legislatorischer Regelung, wenn auch widerwillig, durch das Gesetz vom 27. März 1867 nachgekommen war, gelangte im folgenden Jahre das norddeutsche Genossenschaftsgesetz vom 4. Juli 1868 zur Annahme, welches seit der im Januar 1875 erfolgten Einführung in Baiern nunmehr für das gesammte deutsche Reich Gültigkeit hat.

Die grundlegenden Elemente dieses Gesetzes offenbaren sich vor Allem in der Fähigkeit jeder Genossenschaft, durch Eintragung in ein gerichtliches Register ohne das Erforderniß der Staatsgenehmigung das Recht der juristischen Persönlichkeit zu erlangen. Mit ihr ausgestattet, ist die Genossenschaft als solche Eigenthümerin ihres Vermögens, erwirbt Rechte und übernimmt Pflichten unter

  1. Vergl. Gartenlaube 1864, S. 783.
  2. Obigen Artikel veröffentlichen wir im Hinblick auf den im vorigen August gefeierten siebenzigsten Geburtstag des ehrwürdigen Volksmannes dessen die „Gartenlaube“ bereits früher (1859, S. 719; 1863, S. 517) eingehend gedacht hat, sowie im Hinblick auf das soeben erschienene Werk „Schulze-Delitzsch. Leben und Wirken“ von A. Bernstein (Berlin, Max Bading). Wir benutzen die sich hier bietende Gelegenheit, um auf die genannte Biographie des großen Organisators, welche die Geschichte seines Wirkens in der Geschichte seines Lebens wiedergiebt, empfehlend hinzuweisen; der geistvolle A. Bernstein giebt den deutschen Lesern mit dieser dankenswerthen Arbeit ein echtes Volksbuch in die Hand.
    D. Red.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 808. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_808.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)