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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

Straße war es still geworden; das Lärmen der Kinder war verstummt – sie saßen jetzt um das Abendbrod in den Stuben; zuweilen drang ein Peitschenknall und das Knarren eines heimkehrenden Erntewagens herauf; der Abendfriede begann sich über die Stadt zu senken.

Da klang eine Frauenstimme über die Hecke des Nachbargartens in das Ohr der alten Frau, dazu das Weinen eines Kindes.

„Schlaf, schlaf, mein Schäfchen! Ich singe Dir auch etwas:

‚Buko von Halberstadt,
Bring doch unserm Kindchen wat!
Wat sall ick em denn bringen?
Ein Paar Schauh mit Ringen,
Ein Paar Schauh mit Gold beschla’n!
Sall unser Kind drin danzen gahn.’“

Noch einmal wiederholte sich der Gesang – dann wurde es still.

Der alten Frau in der Laube ruhten die Hände müßig im Schooße, sie war in längst vergangenen Zeiten. –

Da schritt sie eben die Stufen hinauf, als junge Frau; hei, wie leicht es ging, obgleich sie eine Last auf den Armen trug. Freilich, diese Last war wunderfein und zierlich: an ihre Wange hatte sich ein blondes Köpfchen geschmiegt und schaute sie an aus großen blauen Kinderaugen.

„Singen, Mutter, singen!

Und da hatte sie das alte Wiegenlied angestimmt:

„‚Buko von Halberstadt –’

Heisa, klein Mäuschen soll tanzen, und Vater spielt dazu.“

Des Kindes glückliches Gesicht stand wieder so deutlich vor ihr; wie war es süß gewesen mit seinen blauen Augen! Alle Leute blieben stehen, wenn sie mit dem Lieblinge auf dem Arme durch die Straßen schritt.

„Das wird ein Staatsmädchen, Tine,“ hatte ihr alter Vater immer gesagt, „da wirst Du was aufzupassen kriegen.“

Ihre Mutter aber hatte oft ängstlich gebeten:

„Tine, laß dem Kinde es doch nicht merken, daß es gar so hübsch ist! Es ist ein kluges Ding, und es wäre schade darum, könnt’ Dir noch leid thun; schau, wie sie sich freut, wenn sie ein buntes Schürzchen an hat! Es wird gar eitel werden.“

Und die alte brave Frau war mit verstelltem Zorne auf die Kleine losgefahren:

„Du bist ein garstig Ding, ein häßlich Mädchen, kein Mensch mag Dich leiden – o pfui!“

Dann lachte das ganze holde Kindergesichtchen und griff nach der Kattunhaube der alten Frau, und die vergaß, was sie eben gesagt, nahm sie in die Arme und küßte sie herzhaft ab und trug sie dann zum Großvater in die Werkstatt; er solle dem Zuckerkindchen ein paar neue blaue Schuhe anmessen.

O das Entzücken, als das kleine Geschöpf zum ersten Mal zierlich die Röckchen faßte und nach des Vaters Geige zu tanzen begann! Es war ganz allein mit ihm im Zimmer, und der eifrige Musikus hatte beide Augen auf die Noten geheftet, aber draußen lauschten sie Alle an der Thür, sie und die Großmutter, der blasse Lehrling und die Nachbarkinder; da drehte sich das Kind glückselig im Kreise; die blonden Locken wehten um das Gesichtchen, und hochroth glühten die Wangen.

Da war sie hinein gegangen und hatte das Kind emporgehoben und es geküßt und geherzt vor lauter Entzücken über seine Schönheit; das war nicht recht gewesen, nein, nein! Sie hatte ihre Strafe schwer bekommen, o so schwer!

Der alte Großvater starb, und sein letztes Wort war noch einmal: „Hab’ ein Auge auf das Mädchen, Tine! Sie ist anders wie die anderen.“

Freilich war sie das, tausendmal hübscher und freundlicher. Ihre alte Mutter schüttelte den Kopf, wenn sie vor Weihnachten Nächte lang aufsaß, um Kleidchen und Hut zu verfertigen, viel schöner, als die anderen Mädchen sie trugen:

„Kind, Tine, Du wirst schon noch einmal sehen, was Du gemacht hast mit Deiner Louise; sie ist nun doch einmal keine Prinzessin.“

Aber dafür hatte sie kein Ohr gehabt; sie war ja zu reizend, die heranwachsende Kleine. Und was träumte sie Alles für das Kind, für ihr ganzes Glück, wie sie zu sagen pflegte!

Ihr Mann, ihr guter, seliger Mann, der so viel älter war als sie, wie oft war er unwillig gewesen, wenn sie sich im Hause abarbeitete und das Mädchen müßig daneben stand!

„So hilf doch Deiner Mutter, Du faule Grethe, was stehst Du da und guckst zu!“

Aber dann hatte sie gelacht und selbst abgewehrt.

„Ei, Heinrich, laß das Mädchen fort! Sie verdirbt mehr dabei als sie hilft; guck doch nur die kleinen Hände – die sind nicht für die Küche.“

Und dann war aus dem Kinde ein schönes Mädchen geworden, und wenn es Sonntags zur Kirche ging, dann stieß die Frau Stadtmusikus das Fenster auf und lugte hinter den Blumen hervor der schlanken Gestalt ihrer Tochter nach; sie konnte nicht immer mitgehen, war sie doch manchmal vor Thau und Tag aufgestanden, um ein duftiges weißes Kleid zu plätten.

Sie meinte das silberhelle Lachen ihres Lieblings wieder zu hören; das hatte ja alle Zeit durch das Haus geklungen; einem Jeden, der sie sah, that sie es an mit ihrem holdseligen, frischen Mädchenwesen; das schmeichelte so süß, das bat so unwiderstehlich – wer sie gekannt, vergaß sie nie. Mit durstigen Athemzügen genoß sie Alles, was solche fröhliche Mädchenjugend ersehnt, und warum nicht? – sie war ja nur zur Freude geschaffen.

Um diese Zeit kam eine Operngesellschaft in die Stadt. Da hatte der Herr Stadtmusikus alle Hände voll zu thun, das Orchester einzuspielen, und allabendlich ging’s in das Theater, denn Freibillets für Weib und Kind gab’s selbstverständlich. Wie leuchteten da die Augen des Mädchens, und wie glockenhell und schalkhaft zierlich sang sie andern Tages alle Melodien nach, die sie gehört!

Mitunter kam auch dieser oder jener von der Theatertruppe in das Haus unter dem Schlosse, am meisten der Tenor; er hatte alle Tage etwas zu fragen oder zu bestellen beim Herrn „Capellmeister“, und einmal, an einem Sonntage, da war er gar hier hinaufgekommen in die Lindenlaube, wo sie mit der Louise gesessen. Er war ein schöner schlanker Mensch gewesen, mit träumerischen schwarzen Augen; nur wenn er sang, dann konnten sie blitzen, und wie hatte er gesungen an jenem Abend! Da stand er vor der Laube und schickte das frische Liedel weit hinaus in die Ferne, und das schöne Mädchen saß auf der obersten Treppenstufe und hielt die Hände eng gefaltet im Schooß, die Augen zu ihm aufgeschlagen in andachtsvoller Bewunderung:

„I weiß nit, wie’s kommet,
I glaub’s immer so:
Da drauß’ in der Ferne
Fliegt’s Glück irgendwo.

I hab’ schon am Dache
Frau Schwalbe gefragt,
Ob sie’s nit gesehen?
Da hat ,Ja!’ sie gesagt.

Da wollt i gern wissen,
Wie’s ausschauen thut?
I wollt’s gerne suchen –
I hätte den Muth.

Da ist sie geflogen
Ueber’s Städtel hinaus;
Sie meint: i soll wandern –
I bleib’ nit zu Haus.“

O, sie wußte noch jedes Wort, jeden Klang; sie sah noch, wie er den Hut von dem dunklen Haar genommen hatte und ihn schwenkte, als grüße er wirklich in der blauen Ferne ein wunderbares Glück, und wie er mit einem Ruck verstummte und zu dem Mädchen niedersah, und sich dann in die Laube hin gesetzt und so blaß ausgesehen hatte, und wie Abends beim Zubettegehen die Louise der Mutter so zärtlich „Gute Nacht!“ gesagt, wie noch nie, und immer wieder die Arme um ihren Hals geschlungen hatte – ja, das Alles war ihr erst später aufgefallen, auch daß das Mädchen mit so leichenblassem, verstörtem Gesichte den Doctor gefragt und immer wieder gefragt hatte, ob der Vater sterben müsse an dem leichten Schlaganfall, der ihn wenige Tage später befiel. „Nein, mein Kindchen; es ist ja nur ein Hexenschuß – keine Angst haben!“ war die Antwort gewesen, und sie, die thörichte blinde Mutter, sie hatte gemeint, das sei die Angst und Sorge gewesen um den Vater. –

Die alte Frau in der Laube stöhnte plötzlich laut auf; der funkelnde Sonnenglanz da draußen war verschwunden, und Schatten lagerten sich allgemach über Felder und Fluren; von dem alten

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 814. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_814.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)