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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

doch überwand ich seine christlichen Bedenken mit der Schilderung der traurigen Folgen, welche sein Zögern haben könnte, vor allen Dingen aber wohl mit dem Inhalt der wohlgespickten Börse, die ich bei mir führte. Er sagte endlich zu und versprach, im Laufe des Tages Alles seeklar machen zu wollen.

Beruhigt kehrte ich in das Haus des Freundes zurück, um mich dem Schlummer hinzugeben. Noch lag ich mit offenen Augen auf einer Feldbettstelle – da trat die schwarze Sclavin herein und flüsterte mir zu:

„Sie werden verfolgt. Draußen im Laden sind Colonisten, welche Sie suchen. Kommen Sie! Ich werde Sie verstecken.“

Ich folgte ihr in eine Waarenkammer, wo ich hinter großen Tonnen eine günstige Deckung fand. Bald erkannte ich die Stimmen meiner Verfolger, welche den Aussagen der Sclavin, daß ich gar nicht hierhergekommen, keinen Glauben schenken wollten und bis in den Raum vordrangen, in welchem ich mich befand. Sie gingen einen Schritt von mir jenseits der Tonnen, hinter welchen ich saß, vorüber und verzogen sich dann. Bald hörte ich draußen Pferdegetrappel, das sich entfernte, und ich verließ mein Versteck. Schlaflos verging mir der Tag, der mir wie eine Ewigkeit erschien, und der Abend zog herauf – der heilige Abend.

Heiliger Abend! Ja, ich will an Dich denken, so lange ich lebe! Es war schon dunkel – und noch keine Nachricht, ob die Familie des Directors gerettet sei oder nicht! Der Schiffsführer kam und meldete, daß Alles bereit sei. Großer Gott, wo blieben die Unglücklichen? Waren sie vielleicht überfallen und ermordet? Ich lief in die Nacht hinaus, und auf dem ersten Berge, den ich erreichte, warf ich mich nieder und legte das Ohr auf den Boden, um besser horchen zu können. Nichts! Nichts! Ueber mir stand der Orion, das freundliche Gestirn, das heute über so viele weihnachtsfrohe Menschen seinen Glanz entsandte, und hier sah es auf ein Menschenkind in unsäglicher Qual.

Ich kehrte an den Hafen zurück. Die Negerin stand vor der Thür; das gute Geschöpf schien an unserm Schicksal herzlichen Antheil zu nehmen.

„Es in schon Mitternacht,“ sagte sie, „oben bei Guimaraes haben eben die Hunde gebellt; wenn sie jetzt nicht kommen, so ist gewiß ein Unglück geschehen.“

Ich seufzte und strengte mein Gehör an. Bei Gott! Das war Pferdegetrappel, welches mit jeder Secunde näher kam. Ich trat in den Schatten des Hauses, um, selbst ungesehen, mich über die Personen der Kommenden vergewissern zu können. Schon von Weitem erkannte ich die Stimme des Directors, und bald hielt er mit seinem Begleiter, einem Soldaten, vor der Thür und stieg ab. In diesem Augenblicke trat die Negerin mit einer Laterne vor das Haus. Welch ein Anblick! Blutend und mit zerfetzten Kleidern standen der Director und sein Begleiter vor mir. Mit wenigen Worten erzählten sie mir, daß kein anderes Mittel zum Entweichen gewesen, als sich quer durch den Urwald, der Richtung des Compasses folgend, Bahn zu brechen, ohne indeß ein Waldmesser zu benutzen, wodurch ihre Fährte zu leicht verrathen worden wäre. Die zahlreichen Urwaldsdornen hätten ihnen die Kleider und die Haut zerfetzt. Ein wohlwollender, diesseits des Waldes wohnender Brasilianer hätte ihnen Pferde gegeben; sonst hätten sie noch gar nicht hier sein können.

„Wo ist meine Frau mit den Kindern?“ fragte der Director. „Sie müssen ja schon lange hier sein, wenn die Colonisten sie durchgelassen haben.“

Ich zuckte die Achseln und entgegnete beruhigend: „Sie werden schon kommen.“

„O Gott, o Gott!“ rief er aus und sank schluchzend in einen Lehnstuhl. Ich sah dem Manne an, daß er bis zum Tode erschöpft war, und wirklich hemmte der Schlaf bald den Lauf seiner Thränen. Als ich ihn schnarchen hörte, ließ ich ihn allein. Der Soldat lag draußen und schlief auch. Ich aber fand keinen Schlaf und lief ruhelos auf dem Camp umher, und Alles, was ich dachte, war – Donna Maria und ihre Kinder!

Es mochte drei Uhr sein – da vernahm ich Wagengerassel und Donna Maria’s ferne Klagerufe: „Mein Mann! Mein unglücklicher Mann! O wenn ich doch wüßte, ob er gerettet ist!“

Da war es mir wirklich weihnachtlich zu Sinn, aber viel schöner noch wie sonst am heiligen Abend, denn so habe ich noch nie bescheert, und unsere Donna Maria ist wohl auch niemals so bescheert worden, wie damals, als ich ihr durch die Nacht zurief:

„Trösten Sie sich! Ihr Mann ist gerettet. Er ist hier.“

Wie jauchzte sie bei dieser Nachricht vor Freuden auf, und mit ihr jubelten die wackern Männer, welche sie sicher hierher geführt hatten.

„Wir haben keine Zeit zu verlieren, Donna Maria!“ sagte ich und geleitete sie in das Haus, wo ich zunächst ihren Mann aus seinem festen Schlafe weckte. Das war ein fröhlich-trauriges Wiedersehen! Ich ließ es aber kaum zu einer Aussprache zwischen den Ehegatten kommen, sondern nahm das jüngste Kind auf den Arm, und mit den Eltern und den andern Kindern schritt ich an Bord. „Vorwärts, Matrosen!“

Schon vergoldeten die ersten Sonnenstrahlen die weite Wasserfläche der Lagoa dos Patos; da lag unser Schiff an dem Ausflusse des Sao Lourenço vor der sogenannten Barre. Es war zu wenig Wasser zum Auslaufen vorhanden, und selbst der Versuch, die Anker auszuwerfen und mit Hülfe der Ankerketten das Schiff über den Sand zu ziehen, förderte uns wenig. Schon sahen wir auf den benachbarten Bergen zahlreiche Reiter, welche dem Hafen zueilten, unsere – Verfolger, da säuselte ein freundlicher Westwind in den breitästigen Figueirabäumen am Ufer und blähte die aufgespannten Segel des Schiffes, das sich endlich in Bewegung setzte. Schnell zogen wir die Anker ein, und nun durchfurchte der Kiel die letzte Sandbank, und wenige Minuten später tanzte das Schiff auf den lustigen Wellen. Meine Hände hatte ich beim Ziehen der Ketten blutig gearbeitet, aber jetzt, da ich das Rettungswerk vollendet sah, war mir dies gleichgültig, und vergnügt brannte ich mir eine Cigarre an. Gegen Abend ankerten wir im Hafen von Rio Grande, von wo aus Schritte zur Bestrafung der Schuldigen eingeleitet wurden.

Jetzt ist über der ganzen Begebenheit schon lange Gras gewachsen; der Director R… schlummert hier auf heimathlicher Erde den letzten Schlaf, und seine Colonie, das Werk seines rastlosen Schaffens, erfreut sich einer gedeihlichen Entwickelung und friedlicher Zustände.


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Im Jahre 1868 führte ich ein sehr bewegtes Leben. Gut, daß Einem der Kampf um’s Dasein nicht immer so schwer gemacht wird, wie dies in jener Zeit bei mir der Fall war. Der Weihnachtstag jenes Jahres fand mich fern von Menschen unter einer einsamen Palme lagernd. Meine Gedanken folgten den weißen Wolken, die unter dem tiefblauen Firmamente dahinzogen, und eilten ihnen bis über die Grenzen des sichtbaren Raumes voraus und immer weiter und weiter bis zum fernen Vaterhause, wo vielleicht gerade zu jener Stunde der Tannenbaum angezündet wurde. Ein tiefes, inniges Sehnen überkam mich, und in der Sprache der Heimath sang ich es hinaus in die einsame Fremde, mein Lied vom „Wihnachtsabend in de Frömd“:

Nu brennen to Hus woll de Dannenböm,
Un Allens fret sick un lacht,
Un nachsten, denn hebbens so selige Dröm,
Kinn Jes hett so Jeden bedacht.

Min Mutting allen wakt noch spät in de Nacht,
De Thran ut de Ogen ehr föllt:
„Kinn Jes hett den Enen ja doch nich bedacht;
De is jo so wit in de Welt.“

De Eu, min lew Mutting, de En dat bün ick,
Mi hett dat Kinn Jes nich bedacht;
För mi giw’t ken Lust un ken hüsliches Glück –
För mi giw’t ken heilige Nacht.

Ick sitt so verlaten, so trurig, allen,
Wo de Palmenbom ragt in dat Land,
Wo de Sünnenstrahl gläugt up dat Felsengesten,
Un stütt mi den Kopp in de Hand.

Doa denk ick torüg an de glückliche Tid,
Wo ick ok vör den Dannenbom stahn;
Min Hart ward so weik, min Hart ward so wit,
As füng dat to bläuden mi an.

Doa swewt mi dat Bild von den Kirchenplatz vör,
Von dat Varehus trulich un still.
Sneeschanzen liggen bet dicht vör de Dör,
Un de Flocken, se driben ehr Spill.

Wat kümmert de Snee mi; is’t Hart doch so het,
Un tüht an de Laden mi ran:
In de Laden tor Rechten ein Knastlock ick wet,
Wo nah binnen man rinkiken kann.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 851. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_851.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)