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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)


Liebende Eltern für verlassene Kinder! Keine Zeit des Jahres fordert so von selbst auf, den Werth eines Kindes zu schätzen, wie die des Weihnachtsfestes: die köstliche Zeit, wo das gegenseitige Freudemachen die höchste Pflicht aller Menschen von deutscher Sitte ist und wo die reinste Selbstlosigkeit der Liebe ihre schönsten Triumphe feiert. Mit keinem andern Gedanken, als dem, irgend Jemandem eine „heimliche Freude“ zu bereiten, wie der Volksmund eine freudige Ueberraschung bezeichnet, läuft Alt und Jung zum Christmarkt und zwischen den Weihnachtsbuden umher, und wer bepackt davon geht, trägt eine „heimliche Freude“ heim. Aber der Mittelpunkt all der Liebe ist – das Kind. Ein Familienchristbaum, unter welchem kein Kind jubelt, ist ein trauriger Anblick.

Ein Ehepaar, das an diesem Abend allein und hoffnungslos am Fenster steht und die leuchtenden, von glückseligen Kindern umringten Christbäume der Nachbarschaft betrachtet, ist beklagenswerth – aber nur wenn ihm die Mittel fehlen, ein Kind zu erziehen. Wer ein Kind ernähren kann, steht dem „armen Reichen“ unseres heutigen Eingangsgedichtes gleich, auch er kann ein Waisenkind an das Herz drücken, auf daß auch ihm „erblüht das Glück am Weihnachtsbaum“.

Darum haben wir diese „heilige Zeit“ gewählt, um alle Kinderlosen, welche im Besitz des Herzens und der Mittel zur Erziehung eines Kindes sind, wieder einmal an die vielen armen verlassenen Kinder zu erinnern, die nach liebenden Eltern schmachten.

Der Tod und die Noth arbeiten ja unablässig der Barmherzigkeit in die Hände; niemals hat es uns an armen Kindern, desto häufiger freilich an kinderfreundlichen Eltern gefehlt. Dennoch ist es uns seither wieder gelungen, eine erfreuliche Anzahl von Kindern recht glücklich unterzubringen. Diese Erfolge und vor Allem die Gewähr, die Kinder nur edlen Eltern an das Herz gelegt zu haben, verdanken wir zum großen Theil der aufopferungsvollen Theilnahme eines braven, gewissenhaften und pflichtstrengen Mannes, der unsere Bestrebungen unterstützte. Seiner treuen Mithülfe auch für die Zukunft sicher, können und müssen wir es nun auf’s Neue wagen, kinderlose Eheleute zur Annahme von Kindern aufzufordern, und zwar bitten wir dieselben diesmal, ihre Anträge, selbstverständlich mit genauer Angabe ihrer eigenen Lebensstellung und der Wünsche hinsichtlich des Alters und Geschlechts der Kinder, direct an unsern Vertrauensmann Herrn Schuldirector Mehner in Burgstädt bei Chemnitz in Sachsen zu richten.

Unsere Liste verlassener Kinder ist in letzter Zeit ziemlich stark angewachsen, obschon strenge Prüfung und Auswahl eine Anzahl ausgeschieden hat, welche uns nur der Leichtsinn und gewissenlose Bequemlichkeit anboten. Uebrigens dürfte manches der Kinder anderweit untergebracht worden sein, und für diesen Fall möchten wir die Betreffenden bitten, uns Nachricht zu geben, damit wir bereits versorgte Kinder nicht vergeblich auf unserer Liste fortführen.

Und so möge diese Weihnacht für die armen verlassenen Kinder eine recht gesegnete werden! Wir bitten ja nicht blos um Wohltaten, sondern wir bringen den Wohlthätern den Werth einer aufblühenden Kinderseele entgegen. Wer dieses Aufblühen zu belauschen und zu schätzen weiß, der wird bald erkennen, daß der Lohn größer ist als die Wohlthat. Wir wollen mit einem Beispiel schließen. Kurz vor dem Weihnachtsfest des vorigen Jahres kam zu unserem Vertrauensmann ein preußischer Lehrer, der über seine einsame, weil kinderlose Ehe klagte. Er war an den rechten Mann gekommen, denn als er heimwärts fuhr, hatte er von vier jüngst verwaisten Kindern das jüngste, einen zweijährigen Knaben auf dem Schooße. In seinem Wohnort verbarg er bei Freunden das Kind bis zum Abend des Christfestes. Auch an diesem Abend stand wieder, wie seit Jahren, der einsame Christbaum mit den gegenseitigen Geschenken bereit, als aber des Lehrers Gattin das Zimmer betrat, streckte der Knabe ihr über die Lichterpracht jubelnd die Aermchen entgegen – und da war ja das Glück erblüht am Weihnachtsbaum! – Ihr Tausende von Kinderlosen, gehet hin und thuet desgleichen.




Kleiner Briefkasten.

Mehrere Beamte in Berlin. In dem Artikel in Nr. 40 der „Gartenlaube“ ist die Competenz des Reichsgerichts im Allgemeinen so umschrieben: „sie reicht so weit wie das Gebiet der Straf- und Civilproceßordnung“. Der weitere Zusatz: die Gerichtsbarkeit des Reichsgerichts erstrecke sich so weit, wie „Reichsrecht“ gilt – bezieht sich nur auf die Abgrenzung der Gerichtsbarkeit des Reichsgerichts gegenüber den Landesgerichten – z. B. in der Richtung, daß auf dem Gebiete des bürgerlichen Rechts, wo wir noch kein gemeinsames oder Reichsrecht haben, zur Zeit die Landesgerichte (Oberlandesgerichte) noch Manches entscheiden können, was, wenn erst auch hier nur „Reichsrecht“ gilt, in letzter Instanz an das Reichsgericht wird gehen müssen.

Nun bezieht sich die Strafproceßordnung nur auf die ordentlichen Gerichte (Strafproceßordnung § 3); vor die ordentlichen Gerichte aber gehören „alle Strafsachen, für welche nicht die Zuständigkeit von Verwaltungsbehörden oder Verwaltungsgerichten begründet ist“ (Gerichtsverfassungsgesetz § 13), Disciplinarsachen aber sind solche, „für welche die Zuständigkeit eines Verwaltungsgerichts begründet ist“. Denn daß Disciplinarbehörden (auch wenn sie Disciplinargerichte genannt werden) nicht wirkliche „ordentliche“ Gerichte (im Sinne der Strafproceßordnung), nicht „Strafgerichtshöfe“, wie sich die Fragesteller ausdrücken, sind, geht schon daraus hervor, daß jedes solche Disciplinargericht nur zum Theil aus richterlichen, zum Theil aus anderen Personen gebildet wird – selbst die Disciplinarkammern und der Disciplinarhof für die Reichsbeamten (Reichsgesetz vom 31. März 1873, § 89, 91).

Da übrigens die Fragesteller preußische Beamte zu sein scheinen, so werden dieselben am besten aus Rönne’s „Staatsrecht der preußischen Monarchie“, Ia. 255 ff., IIa. 295, 336 ff., sich überzeugen, daß Disciplinarbehörden keine „ordentlichen Gerichte“ sind, folglich auch nicht von ihnen an das oberste „ordentliche Gericht“, das Reichsgericht, appellirt werden kann, vielmehr da, wo es sich um preußische Beamte handelt, von den Provinzialdisciplinarbehörden an den obersten Disciplinarhof und eveutuell an das Staatsministerium, und da, wo um Reichsbeamte, an den Reichsdisciplinarhof, welcher zum Theil aus Mitgliedern des Reichsgerichts besteht (auch das ist ein Beweis, daß nicht das Reichsgericht als solches Appellinstanz in Disciplinarsachen ist).

Bei richterlichen Beamten verhält es sich anders. (Siehe Rönne, a. a. O. IIa. 335 und „Gerichtsverfassungsgesetz für das Deutsche Reich“ § 8.) Diese sind von Haus aus richterlich organisirten Disciplinarbehörden unterworfen.




Ein Hülferuf.


Am 6. December begrub man auf dem Friedhofe von Zwickau in Sachsen in zwei großen Gräbern 77, und auf den Gottesäckern ihrer Heimathdörfer noch 12 Bergleute; sie alle hatten bei ihrer Arbeit durch schlagende Wetter einen plötzlichen Tod gefunden. –

Am 1. December, Abends 6 Uhr, war eine Belegschaft von 150 Mann im zweiten Schachte des Brückenberg-Steinkohlenvereins bei Zwickau angefahren und gegen 10 Uhr erfolgte der Wetterschlag, welcher so vielen Leben ein schreckliches Ende bereitete. Rettung war nicht mehr möglich, der Versuch, den Cameraden zu Hülfe zu kommen, hat sogar noch mehreren wackeren Männern den Tod gebracht. –

Das Geschlecht, welches die großen Kriege miterlebte, ist gewiß abgehärtet gegen das Grauenhafte des Anblicks von zerschmetterten und zerfetzten Menschenleibern; was aber hier bei dem Heraufbringen der Todten sich dem Auge enthüllte, hätte das furchtbarste Schlachtfeld nicht schrecklicher aufzuweisen vermocht.

Am Nachmittag des 6. December standen die 77 Särge auf zwei großen Begräbnißstätten des Friedhofs, jeder Sarg umringt von den jammernden Hinterbliebenen, die es sich hier und da nicht verwehren ließen, noch einmal den Sargdeckel zu öffnen und Abschied zu nehmen von den oft entsetzlichen Resten ihrer Lieben, ihrer Väter, ihrer Brüder, ihrer Gatten und Söhne. – Um 2 Uhr zogen 800 Cameraden der Todten in bergmännischer Feiertracht heran; sie hatten in der Marien-Kirche Zwickaus dem Trauergottesdienste beigewohnt und brachten nun an den Gräbern den Todten die letzte Ehre dar. Viele dieser Opfer ihres Berufs waren nicht blos Helden „tief unter der Erde“, sondern auch auf den Schlachtfeldern Böhmens und Frankreichs gewesen; ihnen donnerten die Ehrensalven über das Grab.

Die Todten ruhen – aber die Lebenden wollen leben, und für sie bitten wir um Gaben der Liebe. Von den 89 Verunglückten waren 58 Familienväter, welche 132 Kinder hinterlassen haben. Da thut Hülfe Noth. Wohl sind die gewerbfleißigen Städte Sachsens wacker bemüht, den drückendsten Sorgen der Wittwen und Waisen abzuhelfen – aber Niemand lasse sich von dem Gedanken die Hand lähmen, daß diesen Armen durch die Wohlthätigkeit zu viel dargebracht werden möchte: mehr, als sie verloren haben, kann ihnen Niemand geben, denn sie Alle haben ihr Liebstes verloren. –

Die „Gartenlaube“ stellt hiermit ihren Opferstock auf und sie wird über alle Gaben gewissenhaft quittiren.




Für die Hinterbliebenen der verunglückten Bergleute von Zwickau sind bis jetzt eingegangen: Die Verlagshandlung der „Gartenlaube“ Mk. 300; Dr. Ernst Ziel Mk. 30; Dr. Friedrich Hofmann Mk. 10; Dr. Albert Fränkel Mk. 10; Frau Emma Blüthgen, Leipzig Mk. 10.




Verantwortlicher Redacteur: Dr. Ernst Ziel in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 860. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_860.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2017)