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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

Blut rollt, zur Verschmelzung herbeizuziehen, aber man würde, nach der Ansicht des Herrn Galton, die Bilder der elterlichen Geschwister und Geschwisterkinder nur die Hälfte oder ein Viertel der den engeren Familiengliedern zugemessenen Zeit wirken lassen dürfen. Man ersieht hieraus, daß es sehr empfehlenswerth sein würde, Familien-Albums mit in gleichem Formate und gleicher Manier aufgenommenen Bildern anzulegen, wenn dieselben zugleich wissenschaftlichen Zwecken dienen sollen.

Ein gleiches Verfahren hat auch für dieselbe Person, die sich in verschiedenen Lebenslagen und Altersstufen aufnehmen läßt, einen besonderen Werth, und es würde sich für Personen, die nicht gerade auf Abwechselung erpicht sind, mithin sehr empfehlen, immer das letzte Bild mitzubringen, damit der Photograph darnach möglichst dieselbe Anordnung wie damals treffen könnte. Wir haben schon angedeutet, daß man aus mehreren Einzelbildern derselben Person Bilder zusammensetzen kann, die dem Originale ähnlicher sind, als jedes einzelne für sich.

Jeder meiner Leser wird in seinem Leben mit Persönlichkeiten zusammengetroffen sein, welche behaupten, noch niemals ein wirklich ähnliches photographisches Abbild von sich erhalten zu haben, und die deshalb weitere Aufnahmen verweigern. Sie werden darnach öfter für allzu anspruchsvoll gehalten, aber in vielen Fällen thut man ihnen Unrecht. Wenn man ihre angeblich mißlungenen Bilder vergleicht, so scheint in der That jedes eine andere Person vorzustellen. Und doch ist es dieselbe, die nur jedes Mal eine andere Miene aufgesetzt hat. In dem Gedächtnisse der ihr Nahestehenden, wie in ihrem eigenen, lebt sie als die Mischung dieses wechselreichen Mienenspiels, aus dem vielleicht gerade der reizendste und anziehendste Theil dem Bilde der dunklen Kammer nicht zu Gute kam. Das ist der große Abstand zwischen der besten Photographie und einer gelungenen Künstlerleistung, daß der Maler die besten Züge vereinigen, den besten Augenblick erfassen, den am häufigsten wiederkehrenden Charakter voranstellen kann, und hier sehen wir vielleicht einen Weg, wie die Photographie zur wirklichen Kunst erhoben werden kann. Solche Personen, die so schwer zu treffen sind, weil sie nicht immer dieselben scheinen, sollten sich in allerlei Stimmungen und an verschiedenen Tagen photographiren lassen, um daraus eine gesammelte Ausgabe ihrer Vorzüge zusammenstellen lassen zu können.

Vielleicht wäre dies auch der beste Weg, das wahre Gesicht einiger historischer Personen, die auf jedem Oelgemälde, auf jedem Stiche anders aussehen, noch nachträglich festzustellen. Unter den unzähligen und mitunter nicht wenig von einander abweichenden Bildern bestimmter Fürsten, Staatsmänner, Gelehrter, Dichter und Maler, ausgezeichneter Frauen etc. – ich erinnere an die einander oft höchst unähnlichen Bilder der Königin Louise, Schiller’s, Rembrandt’s, Luther’s und Anderer – giebt es gewiß manche, die sich verschmelzen ließen, um aus diesem optischen Schmelztiegel, von den Schlacken gereinigt, mit höherer Aehnlichkeit hervorzugehen.

Damit sind wir bei der Frage von den Idealportraits angelangt. Ich weiß im Augenblicke nicht, war es Phidias, Praxiteles oder Apelles, der eine Revue über die schönsten griechischen Mädchen abhalten durfte, um in seinem Urbilde der Schönheit nicht, wie es meistens geschieht, die Züge einer einzelnen schönen Erscheinung, sondern die schönsten Züge einer großen Gesammtheit zu vereinigen. Auch für solche Zwecke dürfte das Galton’sche Verfahren, indem es von einer ganzen Schönheitengallerie nur die bleibenden Züge festhielte, das Vergängliche aber entschlüpfen ließe, von einem gewissen Erfolge sein, um so mehr, da man auf gewöhnlichem Wege nicht mehr im Stande zu sein scheint, Antlitzformen wie die der schönen Göttin von Melos oder der Raphael’schen Madonnen zu schaffen.

Eine von Herrn Austin in Neuseeland, der die Möglichkeit, verschiedene Portraits mit einander zu verschmelzen, selbstständig beobachtet hat, aufgeworfene Frage geht dahin, ob man auf diesem Wege wohl auch körperlich wirkende Stereoskopbilder schaffen könnte. Er glaubt, daß dies durch Verbindung zweier verschiedener Personen, die nach demselben Principe, wie die Doppelbilder ein und derselben Person, aufgenommen worden sind, geschehen könne. Besser würde es sein, zwei gleiche Abzüge der photographischen Zusammensetzung neben einander in’s Stereoskop zu legen, denn diese bringen, wie ich den Lesern der „Gartenlaube“ früher einmal (Jahrgang 1874, S. 340) mitgetheilt habe, einen ziemlich körperlichen Effect hervor. Auf einem eigenthümlichen Wege hat ein deutscher Erfinder, Herr E. H. Lehmann, in Stargard (Pommern), die Vereinigung zweier Aufnahmen zu einem sogenannten „Raumbilde“ angestrebt und darauf auch im vorigen Frühjahr ein deutsches Patent erhalten.

Wie ich in dem eben erwähnten Aufsatze des Weiteren ausgeführt habe, ist jedes Gemälde und besonders jede Photographie ein einäugiges Bild, das heißt eine Darstellung der Dinge, wie sie einem einäugigen Menschen erscheinen, weshalb man sie auch am genußreichsten mit einem Auge betrachtet. Ja, die Photographien sind sogar Bilder, wie sie einem Cyclopen mit seinem Riesenauge erscheinen müßten, wie Polyphem die Dinge erblickt haben würde. Um nun Photographien zu erhalten, die der Wirklichkeit mehr entsprechen, hat Herr Lehmann einfache Bilder mit einer Art Doppellinse aufgenommen, bei denen also die Verbindung der beiden etwas verschiedenen Ansichten, die wir mit dem linken und rechten Auge aufnehmen, statt im Geiste des Menschen, schon auf der Platte vollzogen wird. Der Unterzeichnete hat derartige „Raumbilder“ gesehen, die in der That, abgesehen von einigen Nachtheilen der Doppelaufnahme, einen nicht üblen, allerdings keinen körperlichen Effect hervorbrachten, denn dadurch, daß wir sie mit zwei Augen betrachten, zerstören wir die beabsichtigte Illusion wieder zum Theil, indem wir uns auf das Sicherste überzeugen, daß wir ein Bild und keinen körperlichen Gegenstand vor uns haben. Aber auch dieses Verfahren zeigt, wie leicht und vollkommen die Verschmelzung mehrerer nicht völlig gleicher Bilder auf der photographischen Platte vor sich geht.

Carus Sterne.





Ein schwerhöriges Familienmitglied.
Beitrag zur Lehre vom gesellschaftlichen Verkehr.


Mit Recht bezeichnen wir das Auge als das edelste aller Sinnesorgane, und der Blinde darf um so mehr auf die Theilnahme seiner Mitmenschen rechnen, als der Verlust des Sehvermögens ihn der Selbstständigkeit seines Auftretens beraubt. Gerade diesem Umstande ist es zu verdanken, daß Mitgefühl und Nächstenliebe aller Orten sich den Blinden zuwenden, daß Unterricht und Versorgung derselben vielfach zum Gegenstande der staatlichen und Privatwohlthätigkeit geworden sind.

Anders steht es um die Gehörleidenden.

Wir brauchen nicht einmal die Extreme völliger Blindheit und Taubheit einander gegenüber zu stellen – schon der Vergleich der Schwachsichtigkeit und Schwerhörigkeit läßt den Unterschied erkennen. Wohl mag der Kurzsichtige die Folgen seines Leidens persönlich oft schwer empfinden, aber nur selten wird dieser Uebelstand im Verkehr mit der Gesellschaft störend hervortreten, und durch die Erfindung der Brillen erscheinen seine wesentlichsten Unannehmlichkeiten für das praktische Leben beseitigt.

Weit übler daran ist der Schwerhörige, den die Natur zwar nicht der Sprache, aber doch des Genusses derselben theilweise beraubt hat. Vom wesentlichsten Hülfsmittel des Gedankenaustausches ausgeschlossen, sehen wir ihn die meiste Zeit auf sich selbst angewiesen, und daher darf es uns nicht Wunder nehmen, daß davon sein Geistesleben auf das Innigste beeinflußt wird. Selbst wenn die Gehörschwäche erst im höheren Alter hervortritt, übt sie noch eine Charakterveränderung auf den von ihr Betroffenen aus. In ganz anderer Weise machen sich jedoch die Folgen des abnormen Zustandes geltend, wenn der Leidende von seiner ersten Kindheit an der Schwerhörigkeit verfallen war.

Zunächst tritt, da sich das Kind so oft von der Theilnahme am Gespräch ausgeschlossen fühlt, bei ihm das Bestreben hervor, durch wiederholtes Fragen über eine besprochene Angelegenheit Auskunft zu erhalten, und so wird es begreiflich, warum schwerhörige Kinder sich in der Regel durch Fragesucht und kaum zu befriedigende Neugierde bemerklich machen. Es wird aber auch

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 876. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_876.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)