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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


der unwirthlichen nordsibirischen Küste entlang. Nicht wenige derselben erlagen dem Hunger und der Kälte oder fielen durch die Hände ihrer eigenen Genossen, welche, müde der unerhörten Drangsale, durch Ermordung ihres Führers, der sie immer weiter in das unbekannte, öde Gebiet vordringen ließ, dem drohenden Tode zu entrinnen hofften. Einem jener Männer, welche das, was ihnen an Mitteln und Ausrüstung abging, durch unentwegten Muth und Eifer für die Sache ersetzten, dem Kosaken Deschnew, gelang es sogar, bis zur später sogenannten Bering-Straße vorzudringen und damit die Trennung der alten von der neuen Welt festzustellen, aber sein Bericht blieb in russischen Archiven verborgen, er selbst verscholl, und so kam es, daß Bering im vorigen Jahrhundert die Straße, welche seinen Namen trägt, noch einmal entdecken konnte.

Im Laufe der Zeit traten auch russische Regenten der Sache näher und ließen durch wissenschaftlich ausgerüstete Expeditionen Vermessungen und Untersuchungen in diesen Gegenden vornehmen, und den Abschluß der langen Reihe dieser Unternehmungen bildete endlich eine von der Regierung ausgesandte Expedition, welche in den Jahren 1820 bis 1823 den östlichen Theil der sibirischen Küste und die neusibirischen Inseln untersuchte und vermaß. Zugleich hatten die Führer der Expedition den Befehl, den immer und immer wieder auftauchenden Gerüchten von der Existenz eines Landes im Norden von Sibirien auf den Grund zu kommen. Allein soweit auch Baron von Wrangell durch Schlittenreisen während dreier Winter von der Küste über das gefrorene Meer nach Norden vorzudringen suchte, immer kam er nach Ueberwindung zahlloser Schwierigkeiten schließlich wieder an offene Stellen, die seinem weiteren Vordringen ein Ziel setzten und ihn zur Umkehr zwangen. Damit gab die russische Regierung jeden weiteren Versuch, Entdeckungen an dieser Stelle vornehmen zu lassen, auf, und die von Wrangell und seinen Vorgängern gelieferten Berichte über die Mühseligkeiten aller Art, die sie bei ihren Reisen hatten auszustehen gehabt, schienen auch den Muthigsten von weiteren Untersuchungen abschrecken zu müssen. Selbst die Auffindung des sagenhaften Landes durch Walfischfänger, welche, durch die Bering-Straße nach Norden ihre Jagdbeute verfolgend, 1867 zuerst das lange gesuchte Wrangell-Land in Sicht bekamen, konnte die Frage der Benutzbarkeit des sibirischen Eismeeres als Verkehrsstraße nicht in Fluß bringen. Der berühmte Petersburger Akademiker von Baer, welcher die nordwestlichen Theile des großen russischen Reiches eingehend durchforscht hatte, bezeichnete nach seinen Erfahrungen das ringsum fast ganz von Land umschlossene Seebecken des Karischen Meeres im Osten von Nowaja Semlja als einen ewigen Eiskeller, in dem sich das alljährlich im Winter gebildete Eis, vermehrt durch den Eisgang der beiden größten Ströme Sibiriens, des Ob und des Jenissei, naturgemäß ansammeln und stopfen müsse, von Baer's Autorität bewirkte, daß man diesen Meerestheil beträchtliche Zeit hindurch als eines der eisreichsten Gebiete der Erde ansah. Nach einer langen Periode der Ruhe sollte hier die Praxis über die Theorie einen glänzenden Sieg davontragen.

Norwegische Fangschiffer hatten durch die immer größer werdende Armuth der von ihnen besuchten Gebiete an jagdbaren Thranthieren sich veranlaßt gesehen, neue Jagdgründe aufzusuchen; sie hatten im Sommer 1869 sich in das „unnahbare, unschiffbare“ Karische Meer gewagt und waren, nachdem sie in dem berüchtigten „Eiskeller“ lustig herumgefahren, mit reicher Ausbeute nach Norwegen zurückgekehrt. Dieselben Thatsachen wiederholten sich in dem folgenden Sommer und lenkten die allgemeine Aufmerksamkeit der Geographen auf sich. Die österreichisch-ungarische Nordpolexpedition, unter Weyprecht und Payer hatte einen Vorstoß in nordöstlicher Richtung in jene wissenschaftlich noch nie untersuchten Gebiete zum Ziel, allein ein Unstern ließ das Schiff schon sofort nach dem Eintritt in die arktische See von schweren Eismassen umschlungen und nach vierzehnmonatlicher aussichtsloser Trift in nördlicher Richtung dem Franz-Josephsland zugetrieben werden.

Um diesen Zeitpunkt war es, als Nordenskjöld seine Aufmerksamkeit der Frage nach der Schiffbarkeit des Sibirischen Meeres zuwandte.

Unterstützt durch einen reichen Rheder zu Gothenburg, gelangte er 1875 in einem kleinen Segelfahrzeug durch die Karische See ohne sonderliche Mühe nach der Jenisseimündung, welche er im folgenden Jahre abermals, diesmal mit einem Dampfer, durch das fast eisfreie Meer erreichte. Damit war der Bann, der auf jenen Gegenden geruht und die Entwickelung der Exportfähigkeit Sibiriens so schwer beeinträchtigt hatte, gelöst. Handelsfahrzeuge aus Deutschland, England und Norwegen folgten den Spuren des kühnen Forschers und haben im Hochsommer der letzten Jahre den überseeischen Güterverkehr nach dem Ob und Jenissei mit ziemlichem Glück vermittelt, wenn auch einige Unglücksfälle vorgekommen sind, die ihren Grund in der noch immer ungenügenden Kenntniß des richtigen Fahrwassers hatten.

Nordenskjöld blieb nicht bei diesem Erfolge stehen; war die Karische See nicht absolut unnahbar, so konnte wohl auch der östliche Theil des Sibirischen Meeres für ein stark gebautes, wohlausgerüstetes Schiff nicht so gefährlich sein: der Entschluß, die nördliche Umsegelung der alten Welt zu versuchen, war damit in ihm zur Reife gelangt. Außer dem Gothenburger Rheder Oscar Dickson und dem russischen Goldwäschereibesitzer Alexander Sibiriakoff, die beide schon große Summen für die Erschließung Sibiriens verwendet hatten und die gern bereit waren, das Project durch reiche Mittel zu unterstützen, interessirte sich auch der König von Schweden, Oscar der Zweite, für das geplante Unternehmen. Die drei genannten Personen trugen zu gleichen Theilen die Kosten desselben, und am 25. Juli 1878 verließ der Dampfer „Vega“ mit Nordenskjöld und einem Stab tüchtiger Gelehrten, die ihn theilweise schon auf seinen früheren Reisen begleitet hatten, sowie mit einer auserlesenen Mannschaft in Begleitung von drei anderen Schiffen die heimischen Gewässer, um am 6. August ohne sonderliche Schwierigkeiten die Jenisseimündung zu erreichen. Hier trennten sich die Schiffe; „Vega“ fuhr, den kleinen Dampfer „Lena“ im Gefolge, weiter nordostwärts, während die beiden anderen nach Einnahme neuer Ladung nach Europa zurückkehrten.

Am 20. August umdampften die beiden Entdeckungsschiffe die nördlichsten Küstenstrecken der alten Welt und erreichten, ohne wesentlich von Eis, das man überall durch die Sommerwärme stark verwittert fand, belästigt zu sein, die Lenamündung. Die „Vega“ setzte von hier ihre Entdeckungsfahrt, ostwärts steuernd, fort, die „Lena“ dagegen dampfte den Fluß gleichen Namens nach Jakutsk hinauf; von dort aus gelangten die ersten und für lange Zeit auch die letzten Nachrichten von der erfolgreich ausgeführten Umsegelung des größeren Theiles der sibirischen Nordküste nach Europa. Auf Grund dieser Nachrichten durfte man fast mit Sicherheit im September oder October das Eintreffen einer Depesche von Japan erwarten, welche die glückliche Ankunft der „Vega“ in Jokohama meldete; waren doch die Hauptschwierigkeiten ohne Mühe überwunden. Allein Nordenskjöld traf nicht dort ein – er war verschollen und blieb es bis zum Mai 1879. Nur dunkle, im Herbst 1878 durch nach San Francisco heimkehrende Walfänger verbreitete Gerüchte machten es wahrscheinlich, daß er unmittelbar am nördlichen Eingang zur Beringstraße kurz vor Erreichung des lang ersehnten Zieles eingefroren sei. Sibiriakoff und Bennett, der Besitzer der großen Zeitung „New-York Herald“, rüsteten Expeditionen aus, um die Verschollenen aufzusuchen und ihnen, wenn nöthig, Hülfe zu schaffen.

Inzwischen war die „Vega“ von der Lenamündung bei schönstem Wetter ostwärts gedampft, bald jedoch wurde das Meer so von Eis erfüllt, daß, Nachts wenigstens, die Reise nicht fortgesetzt werden konnte. Für das tiefgehende Schiff wurde das Fahrwasser sehr seicht, sodaß bei der gänzlichen Unbekanntschaft mit demselben und bei den starken Nebeln die Fahrt nur sehr langsam vorwärts ging. Zeitweise mußte tagelang an einer Stelle liegen geblieben und abgewartet werden, bis die Eisverhältnisse sich günstiger gestaltet oder die Nebel sich verzogen hatten. Da die Fahrt meist dicht an der Küste entlang ging, wo allein eine benutzbare Fahrrinne im Eis sich fand, während dasselbe weiter seewärts immer undurchdringlicher wurde, verwandte man die unfreiwilligen Aufenthalte eifrigst dazu, mit Booten an's Land zu gehen und dasselbe zu durchforschen. Trotz aller dieser Hindernisse war man am 27. September soweit nach Osten gelangt, daß man nur noch 200 Kilometer, die man unter günstigen Verhältnissen an einem Tage hätte zurücklegen können, von der Beringstraße entfernt war. Allein es kam anders, als man erwartet hatte.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 94. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_094.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)