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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


Die Nacht hatte man, wie gewöhnlich, vor Anker liegend verbracht, um bei Sonnenaufgang die Reise weiter fortzusetzen; während das Schiff still lag, war jedoch Windstille und etwas Frost eingetreten, welcher die umherschwimmenden Eisstücke zu einer festen Masse verband, und als es sich nun gar bei mühsamem Vordringen durch die Treibeisfelder herausstellte, daß das Fahrwasser für das Schiff zu flach wurde, fand man sich plötzlich im Eis gefangen. Noch dachte man freilich an keine Ueberwinterung. Einige Stunden südliche Winde hätten die Eismassen vertrieben und das Schiff frei gemacht. Aber statt der erwarteten südlichen wehten hartnäckig nördliche Winde, welche das Eis um das Schiff mehr und mehr häuften, sodaß man sich bald darüber klar wurde, daß eine Ueberwinterung nicht mehr zu vermeiden, welche denn auch, da die „Vega“ für diesen Fall durchaus vorbereitet war, glücklich überstanden worden ist; kein Scorbutfall, nicht die geringste Krankheit ist während der 295 Tage, während welcher das Schiff im Eis fest saß, vorgekommen; die gesammte Mannschaft hat sich vielmehr, Dank der vortrefflichen Ausrüstung, des guten Proviants und der Maßregeln des in Bezug auf arktische Ueberwinterung so erfahrenen Leiters der Expedition, trotz der bis – 46° C. steigenden Kälte stets wohl befunden. Nicht wenig mag dazu – so äußerte Nordenskjöld selber gegen den Schreiber Dieses, als er mit ihm in Japan zusammentraf – der Umstand beigetragen haben, daß das Winterquartier der „Vega“ unter der verhältnißmäßig geringen Breite von 67° lag, eine mehrwöchentliche Nacht also, welche nach den gemeinsamen Aussagen aller Polarreisenden, die in nordischen Regionen überwintert haben, so äußerst drückend auf den Gemüthszustand des Menschen einwirkt, hier nicht mehr durchlebt zu werden brauchte.

Der Umstand, daß eine Ueberwinterung stattgefunden hat, ist für die Wissenschaft weitaus förderlicher gewesen, als wenn Nordenskjöld schon im Herbst 1878 Japan erreicht hätte. Außer den sehr werthvollen magnetischen und meteorologischen Beobachtungen, die für die Kenntniß des Klimas jener Gegend große Bedeutung haben, sind von den gewonnenen Resultaten die kartographische Aufnahme der Küstengebiete und vor allem die gründliche Erforschung der bisher noch fast unbekannten Bewohner des Landes, der Tschuktschen, zu nennen. Nicht blos, daß das Leben und die gesellschaftlichen Verhältnisse dieses Volkes genau studirt worden sind: die nunmehr heimgekehrte Expedition bringt auch eine reiche Wörtersammlung der Tschuktschensprache und eine große Anzahl von Hausgeräthen und Kleidungsstücken dieses Volkes mit. Der nach früheren Reiseberichten für sehr wild, heimtückisch und kriegerisch geltende Volksstamm erwies sich als ein äußerst friedfertiger und gutmüthiger. Die Expedition stand mit den Leutchen auf bestem Fuß; letztere betrachteten das Schiff gleichsam als Wirthshaus, an dem keiner vorbeizog, ohne vorgesprochen zu haben und durch irgend eine Kleinigkeit erquickt oder mit einem europäischen Artikel beschenkt worden zu sein. Obwohl natürlich Schnaps der begehrteste Gegenstand war, für den man Alles gethan hätte, wurde derselbe doch nur sehr spärlich und nie als Tauschartikel, sondern nur als Geschenk benutzt. Größere Ausflüge in das Innere des Landes durften mit Rücksicht auf die unsichere Lage des Schiffes, welches bei jedem der sehr häufigen Stürme loskommen und fortgetrieben werden konnte, nicht unternommen werden.

Am 18. Juli 1879 entließen endlich die durch die milden Lüfte des arktischen Sommers gelockerten Eismassen das Schiff aus ihren Fesseln. Kann man es den Männern der „Vega“ verdenken, daß, als sie am 20. Juli das in der Beringstraße liegende Ostcap Asiens, den Abschluß der Nordostpassage, mit Salutschüssen begrüßten, ein gewisser Stolz ihre Herzen schneller schlagen ließ?

Ehe man Japan erreicht, wurde noch auf der östlich von Kamtschatka liegenden Beringsinsel um eines höchst interessanten Gegenstandes willen ein mehrtägiger Aufenthalt gemacht. Auf diesem Eiland hatte Bering, als er dasselbe im Jahre 1741 auffand, große Heerden von durch ihre Größe an Walrosse erinnernden Geschöpfen gefunden, die in keinem andern Theile der Welt wieder angetroffen worden sind. Die Thiere, welche so zutraulich, daß sie sich von Menschen berühren ließen, und vollkommen wehrlos waren, sind, da ihr Fleisch sehr schmackhaft und ihre dicken Speckschichten für Thranthierjäger sehr verlockend gefunden wurden, in den siebenundzwanzig Jahren nach ihrem Bekanntwerden vollständig ausgerottet worden, was um so leichter geschah, als die Männchen bei den getödteten Weibchen blieben und harpunirte Thiere durch die andern vertheidigt wurden. Es war nun schon lange ein Wunsch der Zoologen, von dieser Seekuh, von der in Petersburg nur eine rohe Zeichnung und einige Schädelknochen aufbewahrt wurden, vollständigere Reste zu haben. Der Expedition ist es gelungen, fünf fast vollständige Gerippe dieser Thiere auszugraben und mitzubringen.

Am 2. September 1879 meldete endlich der Telegraph der ganzen civilisirten Welt das glückliche Eintreffen Nordenskjöld's in Jokohama. Hier wurde die „Vega“ in's Trockendock gebracht, um gestrichen und für die Fahrt durch die Tropen bequemer und luftiger eingerichtet zu werden; das Schiff hatte übrigens durch die Ueberwinterung und Eisfahrt keinen Schaden gelitten. Der verhältnißmäßig lange Aufenthalt in Japan wurde, nachdem die zahlreichen Festlichkeiten, die von Europäern und Landeskindern zu Ehren der schwedischen Expedition veranstaltet wurden, vorüber waren, zu Ausflügen in das Land, sowie zur Anlegung höchst werthvoller Sammlungen aller Art benutzt. Unter vielen Anderem bringt die „Vega“ eine Sammlung von mehreren Tausenden seltener japanischer Werke wissenschaftlichen und geschichtlichen Inhalts mit, welche Nordenskjöld im Hinblick auf die immer größer werdende Vernachlässigung der heimathlichen Literatur Seitens des so überaus rasch vorwärts schreitenden japanischen Volkes vor dem Untergang gerettet hat und die dereinst äußerst wichtige Documente für die Entwickelungsgeschichte dieses Volkes liefern werden.

Nach vorübergehendem Aufenthalt in den chinesischen Gewässern, denen der Philippinen, in Singapore, auf Ceylon, wo überall reiche Sammlungen namentlich zoologischer Natur gemacht worden sind, ist die Expedition durch den Suezcanal wieder in Europa eingetroffen. So groß ist die wissenschaftliche Ausbeute derselben, daß wahrscheinlich ein eigenes Gebäude errichtet werden wird, um dieselbe in ihrer Gesammtheit aufzunehmen.

Wenn nun auch das Unternehmen keineswegs den Beweis erbracht hat, daß die Reise in jedem Jahr durch geeignete Dampfer ausführbar ist, so ist doch vor Allem daran festzuhalten, daß durch dasselbe der sogar in die Wissenschaft übergegangene Aberglaube von einem unwegsamen sibirischen Eismeer glücklich in die Rumpelkammer verwiesen worden ist. Daß der Weg in seiner Gesammtheit von wirklicher Bedeutung für den Handel werden wird, daran glaubt Nordenskjöld selbst nicht, er hofft aber, daß mit der Zeit, wenn man erst die nöthigen Erfahrungen über diese Gewässer gesammelt haben wird, die Seeverbindung zwischen Jenissei und Lena, vielleicht auch zwischen Lena und Japan als Handelsweg verwendbar sein wird, sollte auch eine Hin- und Rückreise zwischen Lena und Europa in einem Sommer nicht immer möglich sein.

Mag man über die praktische Seite der Reise denken, wie man will – einer späteren Zeit wird es vorbehalten sein, über dieselbe ein definitives Urtheil zu fällen – das wissenschaftliche Ergebniß ist jedenfalls ungemein reich ausgefallen, und wahrlich, verdient ist die Ehre, mit der Nordenskjöld und seine Genossen jetzt allgemein begrüßt und empfangen werden.

Der kühne Forscher ruht und rastet jedoch nicht; schon jetzt hat er sich für die nächsten Jahre ein neues Reiseziel gestellt. Er beabsichtigt eine Expedition nach den neusibirischen Inseln zu unternehmen, um das nachzuholen, was bei der diesmaligen Fahrt ungünstige Eisverhältnisse, die eine Annäherung an diese Inseln nicht gestatteten, verhindert haben. Den schon erwähnten reichen Schatz von Resten vorweltlicher Thiere aller Art zu heben, welchen jene Inseln bergen, und so zur Entwickelungsgeschichte der Erde einen weiteren Baustein zu liefern, das ist jetzt sein dringendster Wunsch. Möge dem kühnen Reisenden vergönnt sein, auch noch dieses Ziel zu erreichen!

v. Danckelman.



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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 95. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_095.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)