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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


in kaum mehr als vierundzwanzig Stunden einen merklichen Umschlag erlitten. Schon bei der Entgegennahme der Rüge, welche ihr gestern noch für ihr Verhalten während der Anwesenheit eines Besuches zu Theil geworden, hatte sich diese Veränderung in der spöttischen Sicherheit gezeigt, mit der sie erklärte, sie habe nicht wissen können, daß sie zur Unzeit komme, und sie sei dafür nicht verantwortlich.

„Wohl aber für die Lüge, und nur allein für diese habe ich Sie verantwortlich gemacht,“ hatte Lisa sie zurecht gewiesen, indem sie fest und stolz dem kecken Blicke begegnete. Hinterher erröthete sie aber doch über die Anzüglichkeit, welche in den Worten des Mädchens gelegen. „So beträgt sich eine Dienerin nur dann gegen ihre Herrin,“ sagte sie sich, „wenn sie dieselbe in der Hand zu haben glaubt, wenn sie auf ihre Unentbehrlichkeit pocht und weiß, daß nur noch auf ihr Schweigen, nicht auf ihre Achtung gezählt wird.“

Ueber all die Eindrücke dieser Tage hatte Lisa die Abwesenheit ihres Gatten und den Grund derselben beinahe vergessen; und sie nahm jetzt auch die Anzeige seiner Rückkehr fast gleichgültig auf. Noch stand sie zu sehr unter dem Einflusse der Erinnerung; ungedämpft war der Aufruhr in ihrem Innern, und ihre Natur lag mit sich selbst im Zwiespalte. Alles Andere hatte neben diesem Seelenkampfe an Wichtigkeit verloren. Hin und her geworfen zwischen den Gegensätzen, fühlte sie sich zerschlagen, müde und elend.

Und jetzt ließ ihr Gatte sie zu sich bescheiden. War sie denn nicht von ihm selbst frei gegeben mit dem Geständnisse, daß er Derjenigen kein Herz zu schenken habe, die nur den Namen seiner Gattin tragen sollte? Sein Herz behielt er sich vor – er hatte kein Anrecht an das ihrige, und wozu blieb diese Scheinehe dann aufrecht erhalten?

Trotz und Bitterkeit regten sich noch in ihr, als sie nach einer Weile in's Speisezimmer trat. Sie hatte nicht lange auf sich warten lassen, gleichwohl aber sich vollkommen angekleidet. Auch nicht einmal ihr Anzug sollte an die bequeme, nachlässige Vertraulichkeit des ehelichen Lebens erinnern – jetzt weniger denn je. Es war das eine Regung keuscher Sprödigkeit des Mädchengemüths, welche sie sich nicht einmal zu erklären bemühte – wenn sie sich derselben überhaupt bewußt war.

Ruhig, wohlwollend, ja fast mitleidsvoll richteten sich die Augen des Barons auf sie, während er sein Kind im Spiel emporhob, das unter Lachen und Jubeln jedes Mal, wenn es wieder herunterkam, sein unwiderstehliches: „Bitte, Papa, mehr!“ ertönen ließ.

„Jetzt ist es genug, Du unersättliche kleine Bettlerin; Mama ist hier!“ lautete endlich der väterliche Bescheid.

Gretchen, welche bis jetzt den Eintritt Lisa's nicht bemerkt hatte, wendete sich so rasch auf dem Fensterbrette, wo sie stand, um, daß sie beinahe den Händen des Vaters entschlüpft wäre.

„Mama, Mama!“ rief sie lebhaft und streckte dabei die Aermchen so verlangend nach Lisa aus, daß diese näher herzutrat, um sie in die Arme zu nehmen und ihr den Morgenkuß zu geben. Die Kleine plauderte dabei aber schon lustig weiter. „Wir gehen nach Riefling; dort bekomme ich einen Schneemann und später auch Blumen; Papa hat's versprochen – und Papa geht auch mit zu Großmama.“

Lisa streifte mit einem fragenden Blick ihren Gatten, doch ohne sonderlich überrascht zu sein; Witold war ja noch jedes Jahr ein- oder zweimal mit seinem Töchterchen für kurze Zeit zu Besuch auf sein Gut gegangen, während sie seit jenem ersten flüchtigen Aufenthalt daselbst sich nicht mehr bewogen gefunden hatte, ihn auf diesem Ausfluge zu begleiten. Nur schien ihr die Jahreszeit für einen solchen gegenwärtig nicht besonders geeignet.

Sie hatte das Kind unter den Armen gefaßt, um es von seinem hohen Standpunkte herabzuheben. Die Kleine aber schlang in einer Eingebung des Uebermuthes das eine Aermchen um Papa, von dem sie nicht lassen wollte, und legte jetzt das andere rasch um Mamas Hals, die unwillkürlich noch einen Schritt vortreten mußte, wenn das Kind nicht in Gefahr zu fallen kommen sollte. Und nun drückte der kleine Schelm mit vergnügtem Lachen über den geglückten Staatsstreich, von dessen diplomatischer Tragweite er freilich keine Ahnung hatte, Kuß um Kuß bald auf Mamas, bald auf Papas Lippen.

Doch schon dem zweiten wich Lisa unwillig erröthend aus.

„Du bist unartig!“ rief sie heftiger, als es wohl von der Gelegenheit gerechtfertigt wurde.

Auch Witold's Stirn verfinsterte sich jetzt, er widersprach aber nicht, sondern hob das verdutzte Kind, das nicht wußte, was es denn eigentlich Unartiges gethan habe, herab; er küßte es noch einmal mit besonderer Zärtlichkeit auf die Stirn und setzte es dann auf den Boden.

„So, und jetzt geh zur Mama und sei – wieder artig!“ sagte er weich, aber mit so ernst bestimmtem Tone, daß Gretchen ohne jede Einwendung zu gehorchen sich anschickte, und nur einen scheuen Blick aus den mit plötzlichen Thränen erfüllten großen Augen nach Mama hinüberwarf.

Längst aber hatte Lisa die Aufwallung bereut, unter der das unschuldige Kind hatte leiden müssen, und dessen furchtsame Miene erschien ihr wie ein unerträglicher Vorwurf. Einer Regung ihres Herzens folgend, kauerte sie sich plötzlich neben die Kleine nieder auf das Parquet, nahm sie an ihre Brust und küßte sie mit Innigkeit und Rührung.

Aller Schmerz war mit einem Hauch aus der Kinderseele verschwunden. Gretchen jubelte wieder.

„Gute Mama, liebe Mama! Kommst Du auch mit nach Riefling? Gretchen wird sehr artig sein,“ bat und verhieß sie unter Liebkosungen.

„Vielleicht, vielleicht!“ tröstete sie Lisa, aber das genügte der Kleinen noch nicht, und es war schwer, die Beiden zu trennen; erst als Gretchen mit etwas Backwerk vom Speisetische versehen war, gehorchte sie einem wiederholten gütigen Befehle ihres Vaters, dessen wehmüthiger Blick und zuckende Lippe eine tiefgehende, nur mit Mühe bemeisterte Bewegung verriethen.

Der Diener hatte Eier und kaltes Fleisch auf den Tisch gestellt; Witold griff schweigsam zu, während Lisa sich ihm gegenüber mit Einschenken des Kaffees zu schaffen machte. Als der Diener endlich verschwunden war, richtete der Baron einen Blick der Besorgniß auf seine Frau. Die schlecht verbrachte Nacht hatte einen bläulichen Schatten um ihre Augen zurückgelassen.

Die Frage, ob sie sich unwohl fühle, verneinte sie. Der Ton der Theilnahme hatte sie überrascht, doch mehr belästigt, als erfreut. Was kümmerte er sich wohl um ihre Gesundheit?

„Wie trafst Du die Dinge in Sternberg?“ begann sie gleichgültig; an der Antwort war ja nichts gelegen.

„Traurig!“ entgegnete er.

Verwundert sah sie von der Tasse auf.

„Ja,“ fuhr er, seinen Teller zur Seite schiebend, mit ruhigem Ernste fort, „die Sachen stehen schlimmer, als ich selbst gefürchtet hatte. Als ich auf dem hiesigen Bahnhof Banquier Altstein und Doctor Milka erblickte und zufällig hörte, wohin letzterer Billete begehrte, da wußte ich, daß ein harter Schlag gefallen war.“

„Das verstehe ich nicht.“

„Altstein ist einer der bedeutendsten Mitinteressenten an den Mühlenwerken, Doctor Milka sein Rechtsbeistand, und das Ziel, das sie mit der Bahn erreichen wollten, war, wie das meine, Sternberg; sie hatten also wohl ebenfalls telegraphische Nachrichten empfangen. Ich vermied absichtlich mit ihnen das gleiche Coupé zu benutzen; denn noch im Unklaren über das in Sternberg Vorgefallene, wünschte ich kein Gespräch mit ihnen. Aus gleichem Grunde beeilte ich mich, auf der Station angekommen, so rasch wie möglich aus dem Coupé zu gelangen; Heinrich hatte mir den Wagen entgegengeschickt; ich warf mich sofort hinein und ließ eiligst davonfahren, im Augenblicke, da ich den Advocaten meinen Namen rufen hörte. Die beiden Herren folgten unmittelbar; sie hatten wohl telegraphisch ein Fuhrwerk bestellt; aber sie fuhren mit Landgäulen, und ich kam um eine halbe Stunde vor ihnen an.“

Mit wachsender Aufmerksamkeit hatte Lisa die Erzählung angehört; die frühere Gleichgültigkeit gegen die Vorgänge in Sternberg wich einer wachsenden Beklemmung, die sie indeß noch einmal mit einem ironischen Scherzworte von der Brust zu wälzen suchte.

„Das klingt ja wie eine Scene aus einem Sensationsroman,“ sagte sie, „Capitelüberschrift etwa: 'Die Jagd um das Glück'.“

Der Schein eines Lächelns glitt über seine Züge, die darunter aber nicht den Ausdruck schweren Ernstes verloren.

„Um die Ehre,“ verbesserte er leise und ohne jedes

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 155. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_155.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)