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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)

Staatsmann in seinem goldgestickten Hofkleide! Wie stolz schreitet er einher! Wo nur irgend das pompöse Wappen seines Hauses sich anbringen läßt, da starrt es uns entgegen: gemalt, gestickt, in Elfenbein geschnitzt, vergoldet und eingravirt – unantastbar scheint uns die Reinheit dieses Wappenschildes! Und doch giebt es alle Tage eine Stunde, in welcher das edle blaue Blut seines Besitzers in unangenehme Wallung geräth; es ist die Stunde, wo – sein Barbier eintritt. Wenn dieser Mensch mit tänzelnder Verbeugung zur Thür hereinschwebt, dann öffnet sich, allmorgendlich, leise, ganz leise eine Spalte jenes Schrankes, in dem das Skelet steckt, und hohnlachend grinsen seine weißen Knochen heraus, denn ach! – ein Großonkel des Besternten, ein leiblicher Bruder seines Großvaters, ist – Barbier gewesen. Dort steht er nun, als Skelet des Hauses, fest eingeschlossen in seinem Schranke, und so oft einer seiner Handwerksgenossen in die Stube tritt, so oft das Wort „Bartscheerer“ in seiner Nähe ausgesprochen wird, steckt er die dürre Knochenhand drohend heraus. Wehe, wehe, wenn es ihm einmal gelänge, in ganzer Figur heraus zu treten!

Ich habe eine Dame gekannt, die mit Vorliebe von: „Mon frère le cardinal“ erzählte, bis es eines Tages herauskam, daß dieser Pariser Bruder ein ehrsamer Schneidermeister sei. Zwanzig Jahre hatte er unberührt als Skelet im Schranke der vornehmen Schwester gesteckt – wer kann’s dem armen marchand tailleur verargen, daß er sich auch einmal nach Luft und Sonnenschein sehnte?

Wenn wir diese vermauerten, vergrabenen Skelete einmal alle zugleich freilassen könnten, welch eine wunderliche Versammlung müßten sie abgeben! Da würde hier ein alter graubärtiger Jude seine „achzig Pärzänt“ berechnen, dort ein Selbstmörder mit der Schlinge um den Hals stehen, und gleich daneben hüpften vielleicht reizende Ballerinen, oder – schrieen gar neugeborene Wickelkinder uns die Ohren voll. Ein Sträfling schleppt rasselnd die Kette hinter sich drein; ja sogar ein großes Hauptbuch liegt als Skelet, vermodert und zerfallen daneben, und nur ein Blatt desselben ist wohlerhalten geblieben, nur eine Zahl glänzt klar und deutlich daraus hervor, als wäre sie erst gestern geschrieben – eine gefälschte Ziffer!

Dasjenige Skelet aber, welches sich am häufigsten in den Häusern verbirgt und fast am sorgfältigsten eingemauert zu werden pflegt, ist – die Armuth.

„Die Armuth,“ sagt Douglas Jerrold, „ist das große Geheimniß, welches die eine Hälfte der Menschheit mit jeder erdenklichen Mühe vor der andern Hälfte zu verbergen strebt.“[WS 1]

Dieses fahle, hohläugige Skelet ist in gar manchem Schranke verborgen, der vergoldete Thüren hat, und guckt doch so unverschämt, wie kein anderes, zu jeder kleinsten ihrer Spalten heraus, macht sich, wie keines von den anderen Gerippen, in fataler Weise bemerklich, gerade da, wo man es am meisten fürchtet. „Zu hoch hinaus wollen“, das ist der Krebsschaden unserer Zeit; denn fast noch niemals, so lange die Welt steht, existirte ein so allgemeines Bestreben, ein so brennendes Sehnen darnach, reich zu sein oder vielmehr, reich zu scheinen, wie in unseren Tagen.

„Sehr wenige Selbstmorde werden aus wirklichem Mangel begangen,“ sagt der schon oben citirte englische Schriftsteller; „selten wird man hören, daß sich Einer umbringt aus Mangel an einem Laib Brod, oft aber geschieht es aus Mangel an einer Kutsche.“

Durch alle Schichten der Bevölkerung hat es sich ausgebreitet, dieses krankhafte Bemühen, für reicher zu gelten, als man ist, und kein Opfer scheint uns jemals zu groß, um das Skelet der Armuth allen menschlichen Blicken zu verbergen; wer ein Jahreseinkommen von 1500 Mark hat, wünscht doch mindestens, daß ihn seine Nachbarn auf einen „Mann von 2000“ taxiren, und der nur doppelte Millionär fühlt sich tief beschämt, wenn ihn nicht Jedermann für einen dreifachen hält. Keiner von ihnen Allen bedenkt aber, welch ein negativer Begriff das Wort „reich“ ist; sonst würden ja die Menschen auch wissen, daß Jedermann „reich“ sein kann, sobald er nur den festen Willen dazu hat.

Es bedarf nur eines einzigen festen Entschlusses dazu: Tritt an den Schrank, wo du, so ängstlich gehütet, das Skelet der Armuth verborgen hältst, drehe den Schlüssel um und laß es herausfallen, dieses unheimliche, grauenhafte Gerippe, das unsichtbar dich und die Deinen tyrannisirt, das jede deiner Handlungen beeinflußt, jeden freien Entschluß deiner Seele hemmt – gieb es frei, und du wirst staunend erleben, daß es dem hellen Strahle des Sonnenlichtes nicht Stand halten kann; es zerfällt in Staub und Moder, es ist urplötzlich verschwunden in dem Augenblicke, wo du aufgehört hast, dich seiner zu schämen. –

Wie viele Freuden verbittern wir uns, wie viele geschraubte, peinliche Lebensverhältnisse beschwören wir oft herauf, nur durch dieses ängstliche Hüten des Geheimnisses, daß wir – wenn auch in ganz anständigen Verhältnissen lebend – nur nicht eben reich sind!

Es giebt Familien, die großen Kunstsinn besitzen oder leidenschaftliche Musikfreunde sind. Welch ein Hochgenuß wäre es für sie, ein gutes Schauspiel, ein gediegenes Concert zu hören! Aber ihre Mittel erlauben ihnen nicht, jene ersten Plätze zu bezahlen, auf welchen sich der oder jener Verwandte im Theater einzufinden pflegt. Da giebt es also nur zwei Wege: entweder man giebt die übermäßig hohe Summe doch aus und spart sie sich dafür später an weit nöthigeren Dingen ab, wo man es ungesehen thun kann, oder man erfindet die verschiedenartigsten Lügen und Ausreden, um dem Vergnügen gänzlich fern zu bleiben. Nur den einfachen klaren Mittelweg, auf einen billigeren Platz zu gehen, schlägt man nicht ein, denn – das Skelet im Hause erlaubt es nicht.

Man hat eine Reise zu machen. Es ist im Sommer, die Tour nicht allzu weit; es wäre nicht nur gleichgültig, sondern angenehmer, in der dritten Classe zu fahren, als auf den heißen Plüschpolstern der zweiten zu sitzen, aber seufzend wird lieber die beabsichtigte Reise um ein Drittel gekürzt, seufzend wird die Actiengesellschaft, der die Bahn gehört, durch unsere sauer ersparten Groschen bereichert, denn – das Skelet im Hause erheischt es so.

Weihnachten naht heran, das Fest der Liebe und Freude. Der Freude? Das ist es leider nur für Jene, die kein Skelet im Schranke hüten müssen. Wo dieser Unhold noch sorgsam verschlossen gehalten wird, da geht seine Macht weit genug, um sogar dieses helle, wonnigste Friedensfest der ganzen Christenheit zu einer trüben, schweren Sorgenzeit umzugestalten.

Genau, bis auf den Heller, dictirt er uns ja, welchen Werth jedes der Geschenke haben muß, die wir vertheilen; denn natürlich: „Was Andere thun können, müssen auch wir leisten, wenn nicht der furchtbare Verdacht aufkommen soll, daß wir – ärmer sind als sie.“

Empfangen wir von unseren Lieben ein reicheres Geschenk, als das ist, welches wir ihnen gegeben haben, so fühlen wir uns tief beschämt und rechnen zitternd nach, wie diese Differenz auf andere Weise etwa auszugleichen sei. Scheu sehen wir uns dann um; denn das ist ja einer der Augenblicke, wo das gefangene Gespenst der Armuth so laut an die Thür seines Kerkers klopft, daß der dumpfe Schall dieses Pochens allen Weihnachtsjubel übertönt; wir sehen nur noch seinen drohenden Knochenfinger vor uns, und ausgelöscht sind durch ihn alle hundert Kerzen des Lichterbaumes.

O pfui, welch ein abscheuliches Bild!

Wie anders, wie ganz anders verläuft das Fest in einem Hause, das nicht unter solch einem unbarmherzigen Scepter steht! Gern und aus vollem Herzen giebt man da, so viel man eben hat und kann. Kommen von Anderen Geschenke von doppeltem und zehnfachem Werth als Gegengabe, nun, um so besser! Jene haben eben mehr zu geben gehabt, als wir. Die Glücklichen! Fast könnten wir ihnen die Seligkeit des Gebens neiden, wenn es nicht unsere liebsten Freunde oder Verwandten wären, denen wir doch gewiß jede Freude von Herzen gönnen, also auch die Freude, uns reich beschenkt zu haben. Es ist mir geradezu unfaßlich, wie darin ein Anlaß zu Beschämung oder Demüthigung liegen kann.

Darum nur muthig und unverzagt die Pforten gesprengt, hinter denen das Skelet der Armuth verborgen steckt, und frei die Stirn geboten dem verwunderten Anstaunen Jener, die noch immer dumm genug bleiben wollen, oder feig genug sind, sich jeden Genuß, jede Freude, jede Befriedigung durch den heimlichen Knochenmann vergällen zu lassen! Ihr Staunen wird übrigens

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Douglas Jerrold im Original: „Poverty is the great secret, kept at any pains by one half the world from the other half; the mystery of mysteries, guarded at any cost by neighbour Brown from next door neighbour Green.“
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 159. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_159.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)