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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


gar nicht lange dauern, denn nur das „Geheimnißvolle“ hat Reiz für alle Welt. Nach dem, was offen und sonnenklar dasteht, sehen sie nicht einmal hin, und sobald der Zweifel darüber gelöst ist, wie viel Mark du täglich zu verzehren hast, wird sich gar Niemand mehr darüber wundern, daß du eben gerade so lebst, wie es deinen Verhältnissen angemessen ist. Wer dich vorher geliebt und geachtet hat, wird dich – noch ein wenig mehr achten und lieben, wer aber deinen Umgang nur wegen Ueberschätzung deiner Verhältnisse gesucht hat, den lasse getrost laufen! Es ist nicht schade um Seinesgleichen.

So viel über das Skelet der Armuth! Ob es rathsam ist, auch alle die anderen Gerippe ihrer Haft zu entlassen? – Eine nicht ganz leicht zu lösende Frage, denn wohl kann es da zuweilen um Amt und Würden gehen, wohl könnte dabei Mancher in die Gefahr kommen, in der Rangordnung der Gesellschaft ein paar Stufen herabklimmen zu müssen.

Ich kann nur so weit urtheilen, wie meine eigenen Lebenserfahrungen reichen, und wo ich es mit angesehen habe, daß solch ein „Skelet im Hause“ freiwillig kühn an’s Tageslicht gebracht wurde, da ist es noch jedesmal in Nichts zerfallen. Es wiederholte sich allenthalben, was ich soeben von der Armuth gesagt habe: Kein Mensch interessirte sich mehr für das, was nicht mehr Geheimniß war. Jene, die muthig genug waren, vorkommenden Falles ruhig die Wahrheit einzugestehen, wurden nie wieder mit Anspielungen und Bosheiten belästigt über Verhältnisse, die unangenehm, unverschuldet und unabänderlich dastanden. So weit ich es beurtheilen kann, geht also mein treu gemeinter Rath dahin: Heraus mit allen Skeleten unserer Häuser, sie mögen verwahrt sein so tief sie wollen, heraus damit an’s Sonnenlicht, an Gottes frische Himmelsluft, in der nichts bestehen kann, was Moder und Verwesung heißt, ohne daß neues Leben daraus geboren wird!




Karl von Holtei.
Ein Blatt zu seinem letzten Ehrenkranz.


Zu Breslau beim Spitale,
Da steht das Volk geschaart,
Und droben liegt im Saale
Ein stiller Mann gebahrt.

5
Es flackern trüb die Lichter;

Ein Frühling blüht im Rund:
In Lorbeern schläft der Dichter,
Der „Sänger-Vagabund“.

Das war ein wackrer Kämpfer

10
Mit Noth und Drang und Pein;

Das war ein Grillendämpfer,
Das Herz voll Sonnenschein,
Erschreckt von keiner Wolke,
Gelähmt von keiner Gunst,

15
Ein Spiegel seinem Volke,

Ein Quell ureigner Kunst.

Er zog nicht mit dem Trosse
Bequem von Thal zu Thal:
Sein Wappen hing im Schlosse,

20
Sein Sarg steht im Spital,

Und eh’ sein Haupt, das weiße,
Verträumt die letzte Kraft,
Hei! war das eine heiße,
Rastlose Wanderschaft!

25
Doch – wie’s ihn in die Ferne

Gelockt von Land zu Land:
Treu blieb er einem Sterne
Mit Sehnsucht zugewandt,
Der Heimath galt sein Lieben,

30
Sein Sinn und Wert allein;

Ein Schlesier ist er blieben,
Ein Schlesier wollt’ er sein.

Und als ihm ging zu Rüste
Der trotz’ge Lebensmuth,

35
Da kam’s ihm, daß er wüßte,

Wo sich’s am besten ruht:
Und könnt’ er Schlösser erben
Bei Fremden noch einmal,
Er wollte lieber sterben

40
Zu Breslau im Spital.


Nun fährt zur Gruft der Wagen;
Das Volk zu Tausend zieht,
Dumpf tönt in seine Klagen
Des Sängers Mantellied;

45
Ihm weckt kein Frühlings-Werde!

Den liederfrohen Mund –
Leicht sei Dir Schlesiens Erde,
Herzlieber Vagabund!

Victor Blüthgen.




Zur Geschichte der Socialdemokratie.
Von Franz Mehring.

5. Die europäische Wirksamkeit der Internationale.

Der internationale Arbeiterbund hat acht Jahre lang bestanden, von 1864 bis 1872. Dann zerfiel er durch innere Zwistigkeiten. Seine Geschichte ist in einer langen Reihe von Schriften, zum Theil dickleibigen Büchern, behandelt, die meist im Inhalte ebenso dürftig, wie in der Form weitschweifig sind. Auch die Protokolle seiner fünf Congresse, die 1866 zu Genf, 1867 zu Lausanne, 1868 zu Brüssel, 1869 zu Basel, 1872 im Haag stattfanden, werfen nur schwankende Lichter auf die innere Entwickelung des Bundes. Unter solchen Umständen ist es nicht zu verwundern, daß die Urtheile über seine europäische Wirksamkeit weit aus einander gehen, daß die Einen seine mächtige Hand in jeder politischen Verwickelung jener Jahre zu spüren vermeinen, während die Andern ihn kaum für mehr halten, als ein müßiges Phantasiespiel, das einige heimathlose Revolutionäre in London ersannen, sich die Langeweile des Exiles zu würzen.

Ein völlig abschließendes Urtheil über das Maß von Wahrheit, das jede einzelne der zahllos durch einander schwirrenden Meinungen enthalten mag, ist heute allerdings noch nicht möglich, aber wenn man das actenmäßige Material, soweit es namentlich durch die Processe bekannt geworden ist, die in Deutschland, Frankreich und anderswo gegen Mitglieder der Internationale geführt worden sind, nicht in dem verzerrenden Lichte des Parteieifers, sondern mit ruhiger Unbefangenheit prüft, kann man das wirkliche Wesen der räthselhaften Erscheinung doch genauer erkennen, als es auf den ersten Blick möglich scheint.

Soviel steht zunächst fest: was die Internationale nach der Absicht ihrer Stifter werden sollte, ist sie niemals auch nur im Entferntesten geworden. Sie hat nie einen Anhang von Millionen, vermutlich nicht einmal von zehntausend Mitgliedern gehabt. In England zählte sie immer nur vereinzelte Anhänger und auch diese nur vorübergehend; in Deutschland ist ihr Bestand nach dem unverdächtigen Zeugnisse eines namhaften Socialdemokraten kaum auf tausend Köpfe gestiegen; in Frankreich sammelte sie während der ersten Jahre ihres Daseins nur einige hundert Arbeiter um ihre Fahne; selbst noch 1870 vermochten sogar ihre Anhänger in Paris trotz aller Bemühungen nicht einmal ein wohlfeiles Wochenblättchen zu gründen. Die übrigen Länder zählen überhaupt erst in zweiter Reihe. Und noch schlimmer, als mit dem Heere, stand es mit den Finanzen der Internationale. Die spärlichen Beiträge ihrer spärlichen Mitglieder gingen mit der äußersten Unregelmäßigkeit ein. Wenn in der That nach einem geflügelten Worte zum Kriegführen drei Dinge gehören: Geld, Geld und wiederum Geld, so war die Internationale ein sehr friedliches Wesen. Sie hat niemals Geld, sondern immer Schulden gehabt; Briefe von Marx, die bei gerichtlichen Verhandlungen verlesen wurden, geben darüber die unumwundensten Aufschlüsse. Mit einem Worte: die Internationale als geschlossener Bund, als kämpfende Organisation war so ohnmächtig wie möglich.

Ganz anders lag es dagegen mit ihrer moralisch-psychologischen Bedeutung. In dieser Beziehung hat die Internationale allerdings einen mächtigen und unheilvollen Einfluß auf die sociale Entwickelung der letzten Jahrzehnte geübt. Marx hat, unterstützt durch die ängstliche Kurzsichtigkeit liberaler und die unbegreifliche Verblendung reactionärer Socialpolitiker, allezeit mit großem Geschicke verstanden, für sich und seine Zwecke den Zug der Mythenbildung auszunutzen, der trotz aller Aufklärung des neunzehnten Jahrhunderts in den unteren Schichten des Volkes noch eine äußerst lebendige und wirksame Macht ist. Namentlich in den romanischen Ländern ist es außerordentlich geglückt, jedem unzufriedenen Arbeiter den Glauben einzuflößen, als walte die Internationale wie eine geheimnißvolle und unsichtbare Macht schützend über seinen Geschicken. Sie hat schwerlich jemals aus

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 160. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_160.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)