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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


Dieser Zettel war ein furchtbarer Zeuge.

Nicht für eine wirkliche Untreue Lisa's in landläufigem Sinne; an eine solche glaubte Witold keinen Augenblick. Er hatte auch den verdächtigenden Zettel nur deshalb aus der Hand Mina's angenommen, damit das gefährliche Document nicht noch weiter mißbraucht werden könne, er hatte der Zwischenträgerin seine ganze Geringschätzung gezeigt und ihr die ernstliche Drohung ausgesprochen, er werde sie bei der geringsten verdächtigenden Aeußerung über seine Frau gerichtlich verfolgen. Gerade das anscheinend so sehr compromittirende Briefchen enthielt ja den allertriftigsten Beweis, daß jene Begegnung auf dem Balle die erste seit Lisa's Verheirathung gewesen; und was die entlassene Spionin über den Besuch jenes Husarenrittmeisters, den sie mit feingeschärftem Instinct sofort zu dem Billet in Beziehung brachte, boshaft anzudeuten wagte, verwarf sein großer Sinn verachtungsvoll. Nur der Anstoß war erst gegeben, doch was ihn mit Bitterkeit und Schmerz erfüllte, das waren die Dinge, die er unaufhaltsam kommen sah.

Von Lisa's Jugendneigung hatte er durch ihren Vater, schon als er um sie warb, Kunde erhalten; nichts desto weniger hatte er sein Wort nicht zurückgezogen. Mitleid und freundliche Zuneigung aber, nicht die volle, tief im Herzen wurzelnde Liebe hatten ihn bewogen, einen Schritt zu thun, der ihm nicht nur von verschiedenen Seiten angerathen, sondern von Lisa's Vater selbst deutlich genug nahe gelegt wurde. Es erschien ihm daher auch wie ein gerechter Rückschlag, als ihm von seiner Braut am Hochzeitsabende jene nüchterne kalte Erklärung gegeben wurde, die er zwar nicht erwartet hatte, nun aber hinnehmen mußte, wenn er das einmal geschaffene Verhältniß nicht durch eine sofortige Scheidung wieder lösen wollte.

Er gab sich damals der Hoffnung hin, durch Ruhe und Geduld, in friedlichem Nebeneinanderleben allmählich ein herzlicheres Verhältniß sich herausbilden zu sehen. Er kannte ja das geheime Hinderniß nicht, das seine zur Schwiegermutter gesprochenen wohlgemeinten Worte ohne sein Wissen geschaffen. Immer derselben Kälte begegnend, glaubte er endlich, daß bei Lisa ein häßlicher Charakterzug vorliege, der sich schon durch die Heuchelei und Heimtücke geäußert, in welcher sie mit ihrer wahren Ansicht über ihre gemeinsame Zukunft bis zu dem Augenblicke zurückgehalten, wo sie als die Mitträgerin seines Namens in sein Haus eingezogen war. Immer mehr von den politischen Geschäften, in die er sich gestürzt, in Anspruch genommen, hatte er endlich, ermüdet, die erfolglosen Versuche zu einer innerlichen Annäherung aufgegeben und sich gleichfalls an der rein äußerlichen Gemeinsamkeit genügen lassen.

So war es gewesen – bis zum gestrigen Tage.

Und eben in dem Augenblicke, wo er einen tieferen Blick in die Seele seiner Frau gethan und in ihr einen ungeahnten Schatz entdeckt zu haben vermeinte, in demselben Augenblicke, wo er plötzlich den Glauben an eine trotz aller äußerlichen Verdüsterung innerlich helle und freundliche Zukunft wieder gefunden, eben in diesem Augenblicke mußte er auf eine noch viel schmerzlichere Erklärung des eigenthümlichen Benehmens seiner Frau stoßen: sie hing seiner Meinung nach offenbar im tiefsten Innern an der alten Liebe, deren Gegenstand ihr plötzlich wieder nahe getreten war. Eine tiefe Muthlosigkeit ergriff ihn – er zweifelte keinen Augenblick, daß Lisa für ihn verloren sei, daß sie nunmehr heimlich Alles vorbereite, um die Fesseln der ersten Ehe zu zersprengen und eine neue zu schließen.

Das war immerhin schmerzlich.

Auch ein Zusammenleben, wie das bisherige, kann zur Gewohnheit werden, und wie schwer würde Gretchen sich von Lisa trennen! Das Kind hatte in ihr in Wahrheit eine gute und verständige Mutter gefunden – er vermochte das nicht zu leugnen. Auch sonst noch manche gute Eigenschaft hatte er im Laufe der Zeit an Lisa wahrzunehmen Gelegenheit gehabt.

Wie fremd auch und abweisend – offen und ehrlich war sie seit jenem Hochzeitstage, wie sie sich auch vorher gezeigt haben mochte, ihm immer begegnet. Er hatte sie in den vergangenen Jahren genau beobachtet. Vielumworben, hatte sie wohl Gefallen an den Huldigungen, aber niemals auch nur das leiseste Interesse für einen ihrer Bewunderer merken lassen. Sie würde sich kaum die Mühe genommen haben, ein solches Gefühl vor ihrem Manne zu verbergen, und ihm zu Liebe geschah es wohl am wenigsten, wenn sie unangefochten durch die Gefahren der Welt ging.

Kein Zweifel, die alte Liebe war nie in ihr erloschen und ihr zum Schild gegen alle Versuchungen geworden. Jetzt, wo sie von neuem aufflammte, war auch die plötzliche Aenderung ihres Charakters erklärt. Ein Thauen im Frühlingshauch! Der Liebe Härte und Eigennutz waren hingeschmolzen – daher der wunderbare Umschwung von einem Tage zum andern! Der Besuch des Geliebten lag ja dazwischen; Beschlüsse waren offenbar gefaßt worden; nur die hervorschlagende Wärme inneren Glückes hatte ihn getäuscht.

Und jetzt stand er selbst vor der Frage, wie er sich zu verhalten hatte.

Sein Eigenthum festhalten und vertheidigen, indem er den jenseits winkenden Nebenbuhler unter dem Vorwande, einen Räuber zu bestrafen, niederschoß? Das war wohl das übelst-gewählte Mittel. Die Trennung blieb immerhin entschieden, nur daß sie dann nicht in Ruhe und Freundschaft, sondern in tiefem Schmerz und unauslöschlichem Haß erfolgte. Und war es billig und edel von ihm, einen solchen wilden Sturm über ihr Leben heraufzubeschwören und ihr solch unheilbares Weh zu bereiten? Wenn es noch Vergeltung wäre – aber er liebte sie ja nicht. Bestimmt nicht. Nie war seine Empfindung für Lisa mehr als herzliches Wohlwollen gewesen.

Die ganze Nacht hindurch hatte er die heißen Gedanken durch den Kopf gewälzt, bis er endlich zu einem Entschlusse gekommen.

Die von ihm aus Sternberg gebrachten Mittheilungen hatten vielleicht ein Wort der Aufklärung zurückgehalten, das sie schon bereit gehabt. Es war am besten so. Wozu sollte es gesprochen werden? Stumm konnten sie aus einander gehen, und wenn seine leisen Andeutungen nicht verstanden würden und sie, an seiner Zustimmung zweifelnd, doch eine Auseinandersetzung für nöthig halten sollte, dann konnte er ihr ja morgen oder an einem der nächstfolgenden Tage, ohne jedwedes beigefügte Wort, den verrätherischen Zettel übersenden. Damit war dann Alles gesagt.

Nun aber vor der wackern Frau da am Kamin, die sich um den Neffen und Schwiegersohn sorgte, über sein trauriges Schicksal sprechen, Alles aus einander zerren und neugierig durchstöbern lassen – das ging über seine Kräfte. Eine gar seltsame Empfindlichkeit und Reizbarkeit hatte sich seiner bemächtigt, deren er zuvor Herr werden mußte, ehe er sein Herz ausschütten konnte.

Er fühlte, daß er gut that, der peinlichen Unterredung ein Ende zu machen.

„Es wird spät,“ sagte er, als ob alles Andere dagegen Nebensache wäre. „Die Sonne ist schon untergegangen, und Gretchen noch draußen. Das Kind vergißt sich in der Freude, sich hier tummeln zu können. Du wirst es in Acht nehmen müssen, bis Manon herauskommt. Peter ist doch wohl zur Bonne nicht recht geeignet. Ich will Gretchen hereinholen.“

Seine Tante war nicht so leicht zu täuschen. Beunruhigt über den Gemüthszustand des Neffen, blickte sie dem aus der Thür Eilenden kopfschüttelnd nach.

Als er hinaus kam, fand er die drei rasch befreundeten Spielgenossen noch immer eifrig beschäftigt, dem neuen Wachtposten aus Schnee, der alles in unerschütterlicher Geduld über sich ergehen ließ, seine Pflichten einzuschärfen. Peter stand im Begriffe, ihn für sein wichtiges Amt noch ganz besonders auszustatten. Auf des Vaters Ruf nämlich kam Gretchen fröhlich herbeigelaufen, aber nur um einen letzten Aufschub zu erbitten.

„Noch ein Bischen, Papa!“ flehte sie, seine Hand streichelnd, „nur noch ein Bischen! Peter zündet den Kopf an, das wird so schön.“

Das war nun freilich nicht buchstäblich gemeint; nur ein Licht sollte in den ausgehöhlten Kopf gestellt werden, daß der Schneemann schrecklich leuchtende Augen und einen flammenden Mund bekäme.

Die Kleine, welche der Unwiderstehlichkeit ihrer Bitten doch nicht recht trauen mochte, war schon auf eigene Faust wieder davon gesprungen, und Witold ließ sie gewähren, da der Abend nicht kalt und völlig windstill war. Er selbst blickte zu der Pracht des gestirnten Himmels auf, welcher sich im Laufe des Nachmittags, als der Schneefall aufgehört, völlig geklärt hatte.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 188. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_188.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)