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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)

je hervorgebracht hat, eine Schöpfung, vor deren wohlthuender Seelenwirkung zunächst sogar die Bewunderung schweigt, welche ihrem Urheber gezollt werden muß. Der Tiefe des Fühlens, der visionären Macht der Phantasie, der Unmittelbarkeit und Gluth des Ausdrucks und der universellen Herrschaft über die Tonmittel, durch welche dieses „Requiem“ überhaupt möglich wurde, wird man sich erst nachträglich bewußt. In einer Zeit, welche den Anspruch dramatischer Entwickelung auch auf alle größeren musikalischen Kunstwerke zu übertragen geneigt ist, war es ein Wagniß, mit einer Composition hervorzutreten, die dem scheinbar keine Rechnung trägt. Der Glaube an sein eigenes und das Herz der Menschheit hat aber den Componisten nicht betrogen.

Die schöne Gabe, aus dem Herben Erhebung zu bereiten, hat Brahms noch in manchem anderen Werke bewiesen. So in der „Rhapsodie“, die ein Fragment aus Goethe’s „Harzreise“ musikalisch behandelt. Vorzüglich auch im „Schicksalsliede“, einer Art Duodez-Ausgabe des „Requiem“. Gleich diesem eine Chorcomposition, ist es als solche dadurch besonders interessant, daß sein letzter und entscheidender Theil den Instrumenten allein überlassen bleibt. Eine seiner größeren und anspruchvollsten Chorcompositionen, das „Triumphlied“, hat einen Bezug auf die deutschen Siege im letzten Kriege. Daß Brahms mit seinen Chorwerken unter den lebenden Tondichtern ohne Concurrenten dasteht, wird auch von Denen anerkannt, welche im Allgemeinen sich ein Wenn und Aber reserviren wollen. Aus der Menge seiner großen Instrumentalcompositionen können das Clavierconcert in D-moll, welches Ende der fünfziger Jahre in die Oeffentlichkeit trat, und die noch junge C-moll Symphonie als Werke bezeichnet werden, die in ihrer Gattung dem „Deutschen Requiem“ an Bedeutung gleichkommen.

Um die Stellung des Componisten zur Mit- und Nachwelt zu charakterisiren, wird das Vorstehende genügen. Möge der Himmel, der ihm auch einen starken Körper gab, den Meister Brahms der Kunst noch lange erhalten!

Noch habe ich eine stille Frage zu beantworten. „Nein, verehrte Leserinnen, verheirathet ist er nicht.“





Strahlende Materie.

Es liegt im Charakter der in vieler Beziehung einer Bergersteigung gleichenden Naturforschung, daß sich unterwegs beständig die Aussicht erweitert und an den fernsten Grenzen des Horizonts immer neue Gesichtspunkte auftauchen, aber es haben sich kaum jemals vorher den Naturforschern so kühne Perspectiven eröffnet, wie in unseren Tagen. Die Vertreter der älteren, nunmehr solide gewordenen, aber in ihrer Jugend auch einmal unsolide genug gewesenen Forschungsstufen betrachten es kopfschüttelnd als ein Zeichen des Verfalls der Wissenschaft, daß nicht nur die Zoologen und Botaniker, sondern auch die sogenannten „Exacten“ heutzutage unerhörte Folgerungen ziehen, daß die modernen Mathematiker – sie betonen das allerdings nicht gut klingende Beiwort sehr höhnisch – nicht mehr an Länge, Breite und Tiefe der Dinge genug haben, sondern von einer vierten Dimension zu sprechen beginnen, und daß einige moderne Physiker außer dem festen, flüssigen und gasförmigen Zustande der Stoffe noch einen vierten, den sie den strahlenden Zustand nennen, anzuerkennen geneigt sind.

Bei Gelegenheit der im Winter von 1877 auf 1878 den Physikern Pictet und Cailletet gelungenen Verdichtung der drei bis dahin unbezwungen gebliebenen Gase Sauerstoff, Stickstoff und Wasserstoff zu flüssigen und festen Körpern, habe ich den Lesern den „Gartenlaube“ (Jahrgang 1878, Nr. 5) kurz darzulegen gesucht, wie die Stoffe durch Wärme-Erhöhung und Druckverminderung allmählich aus dem festen in den flüssigen, und dann in den gasförmigen Zustand übergeführt werden (und umgekehrt durch Wärme-Entziehung und Druckerhöhung aus dem gasförmigen in den flüssigen und festen Zustand), und wie man sich das verschiedene Verhalten der Stoffe in diesen drei Aggregatzuständen dadurch erklärt, daß die kleinsten Theile der Stoffe, die sogenannten Atome, oder besser Molekeln, dabei mehr oder weniger von einander entfernt werden und demgemäß ungleich beweglich sind. Schon im Jahre 1816 hatte sich der nachmals berühmte, damals noch jugendliche Physiker Faraday gefragt, ob denn nun der gasförmige Zustand das letzte erreichbare Ziel des Auseinanderrückens der Molekeln sei, oder ob es jenseits des gasförmigen noch einen ferneren Zustand der Materie geben könnte, der wieder ebenso weit von ihm entfernt sei, wie er selbst von dem tropfbar flüssigen, und der deshalb auch seinen besondern Namen verdienen würde, nämlich den der „strahlenden Materie“.

Um diesen neuen Ausdruck und Begriff in seiner ganzen und bedeutenden Tragweite zu verstehen, müssen wir uns vorher einen Augenblick mit der modernen Gastheorie beschäftigen, welche namentlich durch die deutschen Physiker Clausius in Bonn, Loschmidt in Wien und Kundt in Straßburg, sowie durch den englischen Physiker Clerk Maxwell trotz ihrer verhältnißmäßig späten Inangriffnahme zu einem der abgerundetsten Gebiete der physikalischen Chemie erhoben worden ist. Wir haben uns nach ihren Forschungen in jedem gasförmigen Stoffe die kleinsten Theilchen desselben, die Molekeln, als frei durch einander wirbelnd vorzustellen, etwa wie die einzelnen Thierchen eines Mückenschwarms, der trotz der heftigen Bewegung in seinem Innern seinen Platz über dem Sumpfe kaum verändert und sich deshalb einer in einem Behälter eingeschlossen Gasmasse vergleichen läßt. Aus dieser freien Beweglichkeit und Entfernung der Molekeln von einander erklären sich nun leicht die beiden hervorstechendsten Eigenschaften der Gase, ihre Neigung, sich in anderen Gasen auszubreiten, und ferner ihre Zusammendrückbarkeit, die indessen bekanntlich nicht ohne Widerstand vor sich geht, wie wir an jeder luftgefüllten Blase mit widerstandsfähiger Membran direct mit der Hand fühlen können.

Wenn nämlich ein Gas in irgend einem Behälter eingeschlossen ist, so werden die Molekeln desselben in ihrem Umherschwärmen beständig gegen die Wandungen stoßen und dort wie höchst elastische Billardbälle zurückprallen. Diese einem Bombardement vergleichbaren, immerfort wiederholten Stöße der kleinsten Theile sind es also, welche uns eine sehr greifbare Erklärung geben von dem, was wir die Elasticität oder Spannkraft der Gase nennen, und womit wir – durch das Zusammenwirken von Trillionen solcher kleinen Stöße – unsere Gas- und Dampfmaschinen treiben. Da nun diese Spannkraft bei gleicher Temperatur für die verschiedensten Gase genau dieselbe ist, so müssen gleiche Raumtheile (Volumina) der verschiedensten Gase eine gleiche Menge von Molekeln enthalten. Man rechnet, nebenbei bemerkt, auf einen Fingerhut voll Gas sechs Trillionen Molekeln, eine Zahl, deren Bedeutung Professor Kundt gelegentlich dadurch begreiflich zu machen suchte, daß er sagte, wenn eine Buchdruckerei im Stande wäre, alle Tage einen Lexikonband von drei Millionen Buchstaben zu drucken, sie dennoch 64,000 Jahre hindurch ihre Arbeit fortsetzen müßte, um soviel Buchstaben zu drucken als Molekeln in einem Fingerhut voll Luft vorhanden sein müssen.

Aus diesen kleinen Stößen erklärt sich nun ferner leicht das von dem französischen Physiker Mariotte (gest. 1684) aufgestellte und nach ihm benannte Gesetz, nach welchem die Spannkraft der Gase im umgekehrten Verhältniß zu ihrem Volumen steht. Denn wenn wir eine Gasmasse so zusammenpressen, daß sie nur noch die Hälfte des früheren Raumes einnimmt, so wird die Anzahl der Stöße gegen die Wandungen doppelt so groß sein müssen, wie vorher. Die Molekeln jedes einzelnen Gases haben nun ein anderes Gewicht, wie sich schon daraus ergiebt, daß gleich große Volumina verschiedener Gase ein sehr verschiedenes Gewicht besitzen, obwohl sie, wie wir eben erfahren haben, eine gleiche Anzahl von Molekeln enthalten. Da sie nun trotzdem, wie wir ebenfalls erfuhren, durch ihre Stöße denselben Effect ausüben, so müssen diejenigen eines jeden Gases eine verschiedene Geschwindigkeit besitzen, und zwar müssen sich die schwereren um so viel langsamer bewegen, als die leichteren, wie sie schwerer sind als diese, damit immer der gleiche Spannungseffect heraus kommt. Man kann also aus diesen Spannungsverhältnissen und den Atomgewichten die mittleren Geschwindigkeiten der verschiedenen Gasmolekeln berechnen, und man hat sie für den leichtesten der bekannten Stoffe, für das Wasserstoffgas, auf 1698 Meter in der Secunde gefunden, während sie für

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 224. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_224.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)