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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


Lauben, in denen man träumen könnte bis zum jüngsten Tage, bieten Ausblick auf den See.

Unter alten Bäumen halb versteckt, tief am flachsten Ufersaum, steht das Gärtnerhaus, kaum hundert Schritte vom Schlößchen entfernt. Der Gärtner, ein rüstiger, kurz angebundener Mann, war bei meinem Auslanden behülflich; seine zur Castellanin bestellte Frau empfing mich auf der Schwelle des mir angewiesenen Asyls, in das ich einzog wie ein Kind, das zur Taufe getragen wird. Nie hatte ich mich hülfloser, trostloser gefühlt. Auch hier, in dieser Einsamkeit, war der erste Blick, der mich traf, ein Blick des Erbarmens. So weit mein Gedanke drang, sah er nichts als ein uferloses Meer von Traurigkeit.

Nachdem ich im Gartensaale untergebracht war, rief ich Frau Brunner heran, um einige Fragen an sie zu richten. Die schlichte, verständige Weise, mit der sie Auskunft gab, berührte mich angenehm. Die Frau war noch ziemlich jung, aber längst verblüht, oder verhärmt, ein müdes, abgearbeitetes Gesicht. Offenbar freute sie sich über den Einzug eines Gastes, nachdem die Insel länger als ein Jahr verödet geblieben.

‚Im Winter sieht man hier ohnedies keine Menschenseele,‘ sagte sie, ‚und der Winter dauert lange genug. Wenn es friert, sind wir wie am Ende der Welt; selten ist das Eis so fest, daß man sich je trauen könnte, darüber zu Lande zu gehen. Dann können die Kinder nicht zur Schule; der Doctor ist schwer zu bekommen, und doch wird alle Augenblicke Eines krank. Unser Haus drunten liegt feucht; da husten und fiebern die Kinder, ehe man sich’s versieht. Der Sommer macht freilich Vieles wieder gut, wenigstens war es früher so. Wer an den See kommt, fährt gern einmal zu uns herüber, aber das hat aufgehört, seit Prinzessin Theodora‘ – ihre Augen flossen über. ‚O, die war gut,‘ sagte sie klagend.

‚Der Fürst hat mir einen Auftrag mitgegeben,‘ erinnerte ich mich, ‚ich soll das Frühlingsblümchen von ihm grüßen. Wer ist das Frühlingsblümchen?‘

‚Ach, den Namen hat die Prinzessin unserem Mädle aufgebracht. Aber ich bitt’ schön, sagen Sie nicht so zu ihr! Der Beiname hat sich herumgeredet; anfangs hießen sie nur die Herrschaften so; später meinte jeder Bursch, er dürfte das Kind so rufen; da hab’ ich mir’s verbeten. Wie’s aufkam, war die Anna ein kleines Ding; jetzt ist sie gefirmelt und bald dreizehn – da schickt sich’s nicht mehr, daß ihr was Apartes anhängt.‘

Ich hörte kaum mehr zu.

‚Meinen Auftrag will ich aber selbst ausrichten,‘ sagte ich, um dem Bericht ein Ende zu machen, der mich wenig interessirte. Die Frau mochte das herausgehört haben.

‚Die Anna wird nachher das Essen bringen,‘ sagte sie verschüchtert. ‚Ich hab’ nur Sorge, ob es dem Herrn auch schmeckt.‘

Als sie gegangen war, schloß ich die Augen. Der Transport hatte mich ermüdet – Alles ermüdete mich in dieser Zeit. Der helle Tag, die Fahrt über den See, die ganze Frühlingsphysiognomie der Welt verstimmten mich; ich selbst kam mir dazwischen vor wie eine unauflösliche Dissonanz.

Glockenhelles Lachen weckte mich nach geraumer Zeit aus dem Halbschlummer. Fast zugleich hörte ich Joseph’s verweisendes: ‚Pscht! Pscht!‘ Er streckte sorglich den Kopf durch die Thür.

‚Ist das Essen gebracht worden?‘ fragte ich. ‚Laß das Kind herein!‘

Gleich darauf trug Joseph den gedeckten Tisch neben mein Sopha; ihm auf dem Fuße – ich sehe sie noch – ein kleines, feines Ding, schmächtige Glieder, ein zartes helles Gesichtchen. Lichtbraune Flechten hingen ihr schwer über den Rücken nieder; die Füße berührten nur leicht den Boden; um so fester hielten ihre Hände eine Schale voll purpurrother Erdbeeren, auf welche sie die Augen so unverwandt heftete, als könnten sie ihr verschwinden.

Sowie ich sie sah, entschlüpfte mir, was ich ungesagt lassen sollte:

‚Das Frühlingsblümchen!‘

Große heitere Augen, klar wie Quellwasser, trafen mich mit plötzlichem Aufschlag, und mir ward dabei wie Einem, der friert und ganz unerwartet in die Sonne tritt. Zum ersten Male wieder begegnete ich einem Blick, der nicht Mitleid sprach, sondern Freude. Die Kleine stellte mit leichtem Knix ihre Früchte auf den Tisch; ihr Finger preßte sich eine Secunde lang auf den lächelnden Mund.

‚Verbotenes Blümchen,‘ sagte sie mit reizender Schelmerei.

Mir geschah, was mir seit vielen Tagen nicht geschehen: ich lachte.

‚Darf man es nicht einmal bei seinem Namen grüßen?‘ sagte ich in so gutem Humor, daß meines alten Joseph’s runzliges Gesicht sich plötzlich erhellte, ‚der Fürst hat es mir ja höchst eigenhändig aufgetragen.‘

‚Dank schön! Hier bei uns giebt’s aber gar keine andern Blumen als lauter, lauter Rosen. Sie werden sehen. Die schlüpfen überall heraus; sie gucken sogar vom Birnbaum herunter. Dann wird’s schön. O, es soll Ihnen schon hier gefallen; es ist so prächtig, daß wieder einmal Einer bei uns ist. Ich war so froh, wie die Mutter mir das sagte, als ich heim kam.‘

‚Warst Du denn fort?‘

‚Freilich, bei den Nönnchen drüben, den ganzen Winter lang, da hab’ ich noch Handarbeit gelernt, ehe ich mit der Klosterschule fertig war. Sie hätten mich gern noch länger da behalten, im Sommer brauchen mich aber die Eltern daheim; da giebt’s im Garten zu thun, und ich muß die Buben warten und der Mutter sonst allerlei helfen; das ist lustig. Ihnen will ich auch helfen, wenn Sie’s erlauben, Herr.‘

Das Alles klang wie Quellengeriesel und wehte mich so frisch an, als wüßte ich schon in diesem ersten Augenblicke, daß mir dieses Kind in der That helfen sollte aus dem fremden Mißmuth in die heimathliche Freude; denn Freude war meine Lebenslust gewesen, lange, schöne Jahre hindurch. Wer könnte auf die Dauer des Sonnenscheins entbehren? Die kleine Anna ward mir zum Sonnenstrahl. Mochte die Stimmung, mit der ich den Tag begann, auch noch so grämlich sein, sie wich, sobald das offene Gesichtchen mich anlächelte. Man schämte sich fast, mürrisch zu bleiben dieser frohherzigen Unschuld gegenüber, die auf jedem ihrer grünen Pfade das ganze Weltall zu besitzen schien und in Wahrheit nichts besaß als ihre eigenen Flügel. Woher auch diese? Vater und Mutter hatten sie ihr wahrlich nicht mitgegeben. Ein Duft und Schimmer umgab die Kleine, als gehörte sie zur Familie der Blumen, mit denen sie als Gärtnerkind umging, seit sie die Augen aufgeschlagen. Nie ist wohl ein Kind zwischen so viel Rosen gewandelt.

Was bereits in Knospe stand, als ich eintraf, wachte bald zu überströmender Schönheitsfülle auf. Rosen überall! Sie wiegten sich hoch auf schlanken Stämmen, schmiegten ihre duftschweren Häupter dicht an die Erde, hingen dort in graziösen Guirlanden über Hecken nieder, rankten sich hier aufkletternd um alte Baumriesen; es war eine Schwelgerei von Duft und Farben. Jeder leiseste Windhauch trug berauschendes Aroma nach dem See; jede dieser köstlichen Rosen schien zu winken, zu grüßen: Schau mich an! Ich bin die Schönste. Vom zartschimmernden Weiß bis zum glühendsten Purpur waren sie alle da; man wandelte wie in König Laurin’s Zaubergarten.

Als ich die kleine Anna zwischen dieser Pracht sah, begriff ich erst den Namen recht, welchen ihr die Prinzessin gegeben. Niemand wäre auf den Gedanken gekommen, sie mit einer dieser Rosen zu vergleichen; denn sie war noch zarter als die zarteste derselben. Es war lieblich, das feingliedrige, graziöse Kind als Gärtnerin zu sehen; sie duldete kein dürres Aestchen, das den Blick kränken konnte; behutsam streifte sie mit den kleinen Fingern hinweg, was nicht mehr von schimmernder Frische war. Ihr zuzuschauen war überhaupt meine Freude. Die Füßchen waren immer beflügelt, als wollten sie sich in die Luft erheben. Stets mit irgend einer Last beladen, flog sie bald hier bald dorthin, gleich einer Biene; jedes lebende Wesen schien ihrer zu bedürfen; Jeder rief nach ihr. Obgleich sie aussah wie ein Heimchen, erwiesen sich die jungen, biegsamen Glieder gewandt, sogar kräftig. Zuweilen schiffte Joseph mich nach dem See hinaus; dann führte Anna das zweite Ruder, und wir plauderten. Wenn das Wasser plätscherte und der Abendwind durch das Schilf strich, klang das wie Begleitung zu der hellen Kinderstimme, die immer etwas zu sagen oder zu singen hatte. Es ergötzte mich, ihr zuzuhören; sie hatte eigene Gedanken, die in frischester Naivetät zum Ausdruck kamen, und erfand sich die originellsten Bilder und Vergleiche. Auch eine Menge der schönen Volkslieder wußte sie, die wie sommeriges Gespinnst von Ort zu Ort fliegen, sich bald hier, bald da festhäkeln. Sonntags fuhr sie mit der Mutter und

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 227. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_227.jpg&oldid=- (Version vom 24.4.2022)