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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


dem ältesten Buben ganz früh hinüber zur Klosterkirche; nach der Messe kamen die Anderen allein zurück, Anna blieb bei ihren geliebten Nönnchen, durfte im Hochamt singen und lernte Nachmittags in der Klosterschule Gott weiß welche Gelehrsamkeit. Dann war es bei uns still, wie ausgestorben, und kam das Kind gegen Abend herangefahren, dann liefen nicht nur die kleinen Brüder – nein, alles Lebendige, Hund und Seidenhase, Hühner und Tauben liefen dem Ufer zu.

Der Sommer verstrich, und es ward endlich Winter. Ich hatte mir zu den mitgebrachten Büchern noch allerlei andere nachkommen lassen, sann und spann mir eine Arbeit aus, schrieb Reminiscenzen nieder und fand schließlich die Tage kurz für Alles, was ich darin zu vollbringen hatte. Nie vergeht die Zeit rascher als dann, wenn nichts von außen hinzutritt, das gleiche Programm seinen Kreislauf einhält, von Tag zu Tag, von Jahr zu Jahr. Meine Zimmer waren wohnlich und warm; nach Menschen sehnte ich mich nicht. Als Schnee und Eis kam, ward es märchenhaft bei uns; die Tage spannen sich gleichsam in Heimlichkeit hin. Auf dem halb zugefrorenen See, der uns von der Welt abtrennte, regten und bewegten sich klirrende Schollen; zuweilen zehrten wir lange von aufgespeichertem Proviant, bis neue Verbindung mit der Welt möglich ward.

Die kleine Anna mußte ihre Sonntagsfahrten einstellen. Da schlug ich ihr vor, bei mir zu singen und zu lernen. Im Gartensaale stand ein Flügel. Noch hatte ich mich nicht entschließen mögen, ihn zu öffnen. Dem Frühlingsblümchen zu Liebe geschah es nun, und einmal, als sie mich bat, sang ich ihr. Im ersten Augenblick wollte mir die Stimme brechen; der eigene volle Ton that so weh – als ich aber die seligen Augen des kleinen Mädchens sah, sang ich ihr das Lied zu Ende. Es war das erste, nicht das letzte. Wohl gab es dabei viel zu überwinden; denn ich mußte mich bald überzeugen, daß auch von diesem Gute, meiner Stimme, nur ein armer Rest geblieben war. Bisher hatte ich gescheut, dies auch nur zu prüfen; ich besaß ja vielleicht noch einen Reichthum, den ich hüten wollte für künftige Zeit. Letzte Illusion! Der Ton versagte mir, sobald ich ihn länger als auf Minuten zu fesseln suchte. Es galt auch hierin zu verzichten und sich mit dem zu begnügen, was geblieben war: dem Entzücken eines Kindes. Regelmäßige Musikstunden wurden eingerichtet, und ich ließ Noten kommen. Anna war durch und durch musikalisch, erwies sich überhaupt als so intelligent, daß ich darauf kam, auch allerlei Andres noch mit ihr durchzunehmen, etwas Französisch, und womit sonst in der Klosterschule ein Anfang gemacht worden. Den Eltern war es recht; im Winter gab es nicht viel zu thun; die Mutter meinte, es wäre gar gut, wenn die Anna noch zulernte; in ein paar Jahren, wenn die kleinen Buben kein Warten mehr brauchten, müsse sie doch in die Stadt und sich etwas verdienen. Da sie nicht die Stärkste sei, könnte sie dann als Bonne in ein gutes Haus kommen, wenn ich mich wirklich mit ihr plagen und ihr etwas beibringen wollte. Ich hatte nie zuvor Anlaß gefunden, den Lehrer zu spielen; nun fand ich, daß es nichts Erfrischenderes giebt, als einem jungen, wachen Geiste neue Regionen aufzuthun. Wenn die großen, klaren Augen so aufmerksam horchten, ein Blitz raschen Verständnisses sie durchleuchtete, oder Unverstandenes ihnen plötzlich einen so geheimnißvollen, nach innen gerichteten Blick gab, interessirte mich das, wie eine ganz neue Welt.

Während dieser Stunden kam die schelmische Anmuth des Mädchens selten zu Tage; sie nahm die Sache gewaltig ernsthaft und wurde roth und bestürzt, wenn ihr das gefesselte Lachen doch einmal entwischte.

So vergingen mehrere Jahre; Schülerin und Lehrer waren sehr gute Freunde mit einander geworden. Die Zeit war hingeglitten, ohne daß ich’s merkte; nichts hatte sich äußerlich verändert, meine Gesundheit und Stimmung sich aber wesentlich gebessert. In Folge dessen stellte sich nach und nach manche Beziehung zur Welt draußen her. Seit sich das innere Gleichgewicht wieder eingefunden, hatte ich dann und wann ein Lebenszeichen an Befreundete ausgehen lassen, und während der Sommerzeit traf zuweilen Besuch ein. Zum Glück zog die noch bestehende Regel, einer besonderen Erlaubnißkarte zu bedürfen, durch ihre Umständlichkeit allzuhäufigem Ueberfall und langem Verweilen eine Grenze. Nur einer der Gäste erschien öfters und fand sich selbst während der rauheren Jahreszeit mitunter ein. Dies war ein dem Hofhalte zugehöriger Beamter, dem es oblag, einzelne Privatdomänen des Fürsten ab und an zu revidiren. Wir fanden Gefallen an einander, und es freute mich, als im Laufe der Zeit seine Besuche sich wiederholten. Berthold Klein war etwa zehn Jahre jünger als ich, ein Abstand, der sich aber durch den gehaltenen Ernst seines Naturells ausglich. Bei sehr verschiedenem Temperament und auseinandergehenden Lebensrichtungen stimmten wir in allen wesentlichen Fragen überein; ich erfand ihn als zuverlässigen Charakter und lernte ihn schätzen.

Einmal, im Hochsommer, hatte ein dienstlicher Auftrag Klein wieder nach der Insel geführt; durch ein starkes Gewitter waren nämlich Beschädigungen an der Böschung entstanden, welche Nachhülfe erforderten. Sein Morgenbesuch bei mir war nur flüchtig; er schien zerstreut und verstimmt, und gegen seine Gewohnheit sah ich ihn schon vor Mittag wieder abfahren. Als Anna bald nachher das Essen zur Villa brachte, kam sie nicht, wie sonst, herein, mir guten Tag zu sagen. Ich hörte, wie sie im Begriff war, fortzugehen, und rief sie. Sie kehrte sogleich um, und als sie eintrat, sah ich, daß sie ganz verweinte Augen hatte.

‚Was fehlt dem Blümchen?‘ fragte ich erstaunt.

Sie wendete den Kopf ab und antwortete nicht sogleich. Erst als ich sie bei der Hand nahm, sagte sie mit unterdrückter Heftigkeit: ‚Der Vater –‘ und stockte dann. Ich sah, wie nahe ihr das Weinen war, und that keine weitere Frage. ‚Der Vater!‘ Ja, Meister Brunner faßte die Seinigen nicht immer mit Handschuhen an, wenn er gleich mit Anna sanfter zu verfahren pflegte, als mit seiner Frau und den Buben.

‚Halt!‘ rief ich, als sie schon im Begriff war, davon zu schlüpfen. ‚Willst Du mich gegen Abend hinausrudern?‘

Sie nickte nur. Das zarte Gesichtchen war schon wieder sonnenhell. ‚Der Joseph soll mich rufen, wenn’s Zeit ist,‘ sagte sie.

‚Schön; den Joseph lassen wir aber daheim; wir wollen nur ein wenig spazieren schaukeln; das bringst Du allein fertig.‘

Ich wollte dem guten Kinde Gelegenheit geben, frei herauszusprechen; wenn Anna weinte, galt es kein eingebildetes Leid; in ihr war keine Sentimentalität.

Gegen vier Uhr ward schüchtern an meine Thür geklopft, und Frau Brunner trat ein. Sie ließ sich um diese Zeit selten sehen; ich dachte also gleich, daß irgend ein Anliegen sie herführe, und bat sie, niederzusitzen. Doch dauerte es lange, ehe eine Antwort auf meine Frage zum Vorschein kam. Sie strich sich die Schürze glatt und schaute standhaft in eine Ecke. Erst auf meine zweite Mahnung, zu sprechen, kam es heraus:

‚Ja, es ist schon wahr, ich hab’ ein Anliegen, Herr Isen. Die Anna sagt mir, daß sie nachher mit Ihnen hinausfahren wird; da möcht’ ich Sie bitten, daß Sie ihr den Kopf zurechtsetzen.‘

‚Der Anna? Was ist denn mit ihr? Sie hatte rothe Augen.‘

‚Ja, sehen Sie, Herr Isen, der Vater ist bös über ihren Eigensinn, und ich kann dem Mädle auch nicht Recht geben. Sie werden’s ja wissen, daß der Herr Klein sie heut’ früh vom Vater zur Frau verlangt hat; das ist ein solches Glück –‘

‚Die Anna?‘ rief ich, wie aus den Wolken gefallen. ‚Welcher Unsinn! Sie ist ja noch ein pures Kind.‘

‚Sie wird zu Michaeli siebenzehn Jahr,‘ sagte die Frau; ‚in dem Alter hab’ ich auch geheirathet. Es ist wahr, sie ist noch kindisch, dem Aussehen nach, aber das macht nichts; sie ist gesund, wie eine Otter, und kann mehr vor sich bringen, als Manche, die groß und breit ist. Bedenken Sie nur das Glück! So ein braver Herr, der sein gutes Brod hat, und sie wär’ versorgt ihr Leben lang, und den Buben käm’s später auch zu gute. Da ist’s dem Vater nicht zu verdenken, daß er zornig wird, weil die Anna nicht will.‘

‚Sie will nicht? und was hat sie dagegen?‘

‚Das ist’s ja! Sie weiß selber keinen Grund. Sie will nicht fort, und damit basta! Das ist aber doch die reine Narrheit, und deswegen komm’ ich her und bitt’ schön, daß Sie mit ihr reden, Herr Isen. Auf Sie giebt das Kind ja Alles. Wenn Sie ihr sagen, daß sie ihr Glück nicht verspielen soll, besinnt sie sich gewiß. Nicht fort mögen! Was denkt sie denn? Ewig kann sie nicht daheim sitzen, und bei fremden Leuten Kinder warten, ist auch nichts so Schönes. Gelt, Sie machen’s ihr begreiflich?‘

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