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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


halten; man saß ab, breitete ein paar Bärenfelle auf den Boden und ließ sie ausruhen. Erwärmt und in Pelze gehüllt, setzte sie die Reise fort. Nach zwei Stunden aber konnte Frau Atkinson nicht mehr im Sattel bleiben. Sie ging eine kleine Strecke, saß wieder auf, ging wieder und wechselte oft in Ermattung und Schwäche. Endlich sah man Feuer und hörte das Bellen von Hunden. Der Aul war erreicht, nachdem man ohne Rast 150 Werst (über 21 deutsche Meilen) zurückgelegt und seit Morgens nichts genossen hatte als ein Glas Rum und eine Wassermelone. Am 20. September erreichte man Kopal.

Hier genas Frau Atkinson am 4. November, in Folge der großen Anstrengungen um zwei Monate zu früh, eines Knaben. Derselbe erhielt die Namen Alatau Tamtschibulak, nach Berg und Quelle, in deren Nähe er geboren wurde, und die Dame, welche ohne Zwischenrast 150 Werst weit reiten konnte, absolvirte auch das Wochenbett in gleichem heroischen Stil. „Schon den Tag nach meiner Entbindung stand ich auf und ging etwas umher. Den dritten Tag stand ich nach dem Frühstück auf und legte mich seitdem nur zur Nachtruhe wieder nieder.“

Als Wärterin diente eine Frau, die wegen Kindesmordes zu hundert Streichen verurtheilt worden war, das heißt: zum Tode. Als sie die Prügel empfangen sollte, trat indeß ein liebeglühender Kosak vor und erbot sich, sie zu heirathen, worauf er – das ist gesetzlich – fünfzehn Streiche sich selbst für die Geliebte aufzählen ließ, während die Mörderin straflos blieb. Seitdem lebte das Paar glücklich zusammen, und dem Anschein nach war die Frau trotz ihres begangenen Verbrechens ein gutmüthiges und williges Geschöpf.

Anfangs wohnte Mrs. Atkinson unter einem runden, aus Weidenholz geflochtenen, mit Filz aus Wolle und Kameelhaar gedeckten Zelte. Die Thür wurde wie ein Vorhang aufgerollt oder herabgelassen. Der Schornstein war eine runde Oeffnung im Zeltdach, der Boden mit Filz und drüber gelegten bucharischen Teppichen bedeckt. Man hätte sich in einer solchen Jurte ganz behaglich fühlen können, wenn die Buran nicht gekommen wären, jene furchtbaren Steppenstürme, welche nur gar zu oft die Zelte über den Köpfen der Schläfer abbrechen. Zu Gunsten des kleinen Alatau wurde daher eine hölzerne Bude mit zwei Zimmern erbaut, und außerdem verschaffte man sich den unerhörten Luxus eines Lehnsessels, eines Stuhles und zweier Tische. Die Geburt des Knaben war in Kopal ein freudiges Ereigniß; denn gerade in jenem Monat des Jahres 1848 waren alle Kinder in der Steppe gestorben. Von weit und breit kamen nun die Kirgisen herbei, um den Naturschatz zu sehen, und einer der Sultane schickte einen Knecht sogar 200 Werst weit, um dem sechs Wochen alten Alatau zum Geschenk eine geräucherte Hammelkeule zu überbringen, die nicht etwa für die Eltern, sondern ganz ernsthaft nur für das Kind bestimmt war. Wäre das Kind aber ein Mädchen gewesen, so hätte sich kein Kirgise in die geringsten Unkosten versetzt. Die Kirgisen des Ala-Tau wollten den Buben durchaus bei sich behalten, ja, sie behaupteten ernstlich, er gehöre ihnen, weil er auf ihrem Gebiete geboren und von ihren Thieren genährt worden sei. Sie versprachen, aus ihm einen Häuptling zu machen und ihn mit Heerden zu beschenken. Mit diesen gutgemeinten Rechtsansprüchen und Versprechungen konnte sich jedoch die Mutter nicht befreunden.

Mit dem Gouverneur von Kopal, Baron Wrangel, schloß man innige Freundschaft; er war dankbar für den geselligen Umgang während des Winters. Eines Tages gab er den Officiersdamen der Steppe einen Ball. Selbst von Bisk her kamen die eingeladenen Gäste. Die Officiere, versichert unsere Verfasserin, waren Gentlemen, die Frauen aber über alle Begriffe entsetzlich. Eine dieser Damen erschien auf dem Ball in einem sehr kurzen, grell gedruckten Kattunrocke mit einem zwei Zoll breiten Rosasaum, mit stark benagelten Schuhen und – ohne Strümpfe. Handschuhe fehlten ihr gleichfalls, dafür aber hatte sie muskulöse Arme wie ein Athlet, und Hände, um einen Stier niederzuschlagen. Die vornehmsten Damen, die Honoratioren von Bisk, erschienen in wollenen, ja sogar in verschossenen grünseidenen Kleidern. Beim Balle selbst zeigte sich jedoch, daß die strumpflose Officiersdame durch ihre wirbelnden Bewegungen alle andern Tänzer und Tänzerinnen im Ballsaale verdunkelte. Um acht Uhr setzte man sich zur Abendtafel, und um zehn Uhr ging oder taumelte alles heim; denn gehen konnte Niemand – so herzhaft hatte man dem Schnaps zugesprochen.

Am 24. Mai 1849 ging es nicht ohne dankbaren Abschied von Kopal gegen Osten. In den Bergen giebt es eine Fülle wilder Fruchtbäume und Fruchtsträucher: Stachelbeeren, Johannisbeeren, Erdbeeren, Pfirsiche, Aepfel. Die Kirgisen essen nichts davon; denn „Kraut und Frucht sind für die Thiere, und die Thiere sind für die Menschen“.

Der Knabe blieb während der Reise immer gesund, obgleich die Blattern grassirten. Die Mutter schreibt dies den fortwährenden kalten Waschungen zu; sie selbst hatte eine starke Vorliebe für kaltes Wasser und badete oft dreimal am Tage, selbst im Winter, wenn sie sich das Eis der Flüsse aufthauen lassen mußte.

Die Steppe war reich an glitzernden Bächen, und nur gegen den Balkasch zu ging sie in eine schauervolle trockene Wüste über. Die Lufttöne des Bildes waren von solcher Pracht und Wärme, daß die Frau des Malers ausruft: „Wer diese Räume nicht besucht hat, der kann keine Ahnung haben von dem Glanz und der Pracht einer Abendlandschaft auf der Steppe.“

Der Rückweg nach Sibirien führte wieder über die Steppe der große Horde. Mrs. Atkinson beobachtete hier, daß die Kirgisenfrauen Knaben bis zum zehnten und elften Jahre säugen, aber auch nur die Knaben, den Mädchen wird keine solche Liebe zu Theil. Uebrigens kann ein Kirgise oft drei Tage ohne Nahrung aushalten, wenn er aber anfängt zu essen, dann hört er nicht eher auf, bis er Alles, was gerade da ist, aufgezehrt hat. Ein Mann kann ein ganzes Schaf bei einer Mahlzeit verzehren. Auffallend sind oft die grellen Altersunterschiede zwischen Frau und Mann. In einem Aul sah Frau Atkinson einen Burschen, der fast noch ein Kind war, an eine dreißigjährige Frau verheirathet, die ihn, dem Alter entsprechend, wie ein Kind behandelte; ein schwächlicher Knabe von fünfzehn Jahren hatte ein handfestes Weib zur Frau. Solche Ehen finden jedoch nur statt bei Knaben, die als Waisen zurückgeblieben und deren Angehörige oder Vormünder, wie wir sagen würden, für eine ältere Frau sorgen, die sie in Obhut nimmt und aufzieht.

In Ajagyz nahm die Verfasserin zum letzten Mal Abschied von den Silbergipfeln des Ak-Tau und Ala-Tau im Süden; denn die Reise ging jetzt wieder nach Sibirien zurück. Ueber Barnaul und Tomsk ging es nach Krasnojarsk, an dessen Goldwäschen 9000 Sträflinge unter der Aufsicht von nur 80 Kosaken beschäftigt waren. Die Winterstation war Irkutsk. Von einem ihrer dortigen Verehrer erhielt unsere Verfasserin ein sonst höchst gefährliches Geschenk, einen Briefbeschwerer, ein Stück Malachit mit einigen Goldäderchen auf der Oberfläche, wie man sie in Mineraliensammlungen oft findet. Das Geschenk war von einer amtlichen Urkunde begleitet, welche bescheinigte, durch wen und auf welche Weise die Inhaberin in den Besitz dieser Erzstufe gekommen sei. Hätte man dieselbe bei ihr gefunden ohne diese Urkunde, so hätte sie lebenslängliche Verbannung nach Sibirien zu gewärtigen gehabt.

In Irkutsk verkehrte die Dame viel mit verbannten Russen. Zu diesen zählte Fürst Wolkonskoi mit seiner Familie. „Das Reisen,“ bemerkte er, „hat auf die Menschen oft ganz eigenthümliche Wirkungen. Ich zum Beispiel ging als ungestümer Jüngling nach Deutschland, Frankreich und England. Als ich nach Hause zurückkehrte, merkte ich unglücklicher Weise, daß meine Reise nach dem Westen der gerade Weg nach Sibirien und in die Bergwerke war.“ – –

Zu den Bekannten in Irkutsk zählte auch eine noch ziemlich hübsche Dame, die in ihren guten Tagen auffallend schön gewesen sein mußte. Sie war sehr jung an einen reichen, lebenslustigen Mann verheirathet, der aber dem russischen Nationallaster, dem Spiel, ergeben war. In wenigen Jahren verspielte er sein großes Vermögen, ohne daß die arme Frau das Geringste davon geahnt hatte, bis zu ihrem Schrecken eines Tages ein Herr sich bei ihr melden ließ, der ihr erklärte, daß er das Haus mit allem Zubehör und sie selbst im Spiel gewonnen habe. Ihr Mann hätte in letzter Nacht mit besonderem Unglück gespielt. Als das Geld bis auf die letzten Kopeken, dann alle unbewegliche und bewegliche Habe, Aecker, Haus, Möbel und Pferde verspielt waren, setzte er seine Frau auf die letzte Karte und – verlor. Das Glück war der Frau insofern hold, als sie mit dem glücklichen Spieler seitdem zwanzig Jahre exemplarisch zufrieden gelebt hatte.

In Nischni-Udinsk wohnten die Reisenden bei einer Salinebeamten. Das offene Haus zeigte eine auffallende Sorglosigkeit

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 259. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_259.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)