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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)

herbeigeführt worden. Es ist dies um so schlimmer, als durch derartige Unvorsichtigkeiten oft nicht blos Diejenigen, welche sich solcher schuldig machen, sondern auch zahlreiche Andere, die daran unschuldig waren, verunglücken.

Indeß, dagegen läßt sich (abgesehen von den auf erweislich grobe Fahrlässigkeit unter Umständen fallenden criminellen Strafen) wenig oder nichts thun, außer der immer auf’s Neue wiederholten dringenden Ermahnung zur Vorsicht an die Arbeiter.

In vielleicht ebenso vielen Fällen mag aber auch ein Verschulden der Unternehmer oder ihrer Angestellten die Ursache von Körperverletzungen oder gar Tödtungen von Arbeitern sein. Und hier ist es nicht nur möglich, sondern hier heischt es auch die Gerechtigkeit: sobald durch Jemandes Verschulden Personen beschädigt wurden, welche seiner Leitung sich anvertrauten, welche in seinem Dienste gearbeitet und mit dem Aufgebot ihrer Kräfte ihm genützt haben, denselben dafür haftbar zu machen, daß er (abgesehen von einer etwaigen strafrechtlichen Verantwortung) die also Beschädigten möglichst ausreichend für den erlittenen Verlust schadlos halte.

In den Gesetzgebungen der großen Industriestaaten England und Frankreich war eine solche Haftpflicht der Unternehmer für die durch ihr Verschulden herbeigeführten Unglücksfälle schon längst ausgesprochen, und die Praxis der dortigen Gerichte hatte die Wirkung, daß oft sehr bedeutende Summen (zumal bei Massenunfällen, z. B. auf Eisenbahnen) gezahlt werden mußten. In Deutschland fehlte es, so lange es überhaupt noch keine gemeinsame Rechtsgesetzgebung gab, selbstverständlich auch hierfür an irgendwie ausreichenden Bestimmungen.

Die einzelnen Landesgesetzgebungen machten zwar wohl größtentheils den Unternehmer oder Arbeitgeber haftbar für Unfälle, die unmittelbar er selbst verschuldet hatte, nicht aber (oder doch nur unter ganz besonderen Voraussetzungen) für solche, die durch Verschuldungen seiner Angestellten veranlaßt waren; da nun bei allen größeren Betrieben (bei Eisenbahnen Bergwerken, Fabriken) selten oder nie der Unternehmer selbst, vielmehr nur die von ihm angestellten Personen die eigentliche Leitung des Betriebes haben, so konnte nach jenen Gesetzen in den seltensten Fällen eine gesetzliche Verpflichtung des Unternehmers zur Schadloshaltung der in seinem Unternehmen Verunglückten nachgewiesen werden.

Durch das preußische Gesetz über die Eisenbahnen von 1838 wurde zuerst für dieses sehr bedeutende Gebiet industrieller Unternehmungen eine umfassendere Haftpflicht, und zwar eine sehr strenge, eingeführt; denn nach jenem Gesetz hafteten die Unternehmer von Eisenbahnen (also die Actiengesellschaften) für jeden beim Betriebe derselben vorkommenden Unglücksfall, sobald sie nicht nachweisen konnten, daß entweder eine sogenannte „höhere Gewalt“ (z. B. ein Bergsturz, der einen Wagenzug zertrümmert, oder ein Blitzstrahl, der in einen solchen eingeschlagen, oder eine plötzliche, nicht abzuwendende Unterwaschung der Schienen und dergleichen), oder daß das eigene Verschulden des Verunglückten dessen Beschädigung verursacht habe.

Noch in zwei anderen Beziehungen waren die deutschen Landesgesetzgebungen über Haftpflicht unzureichend. Für’s Erste enthielten sie nichts Genügendes über die Höhe der Entschädigung, und so kam es, daß, wenn einmal ein Unternehmer zu einer solchen verurtheilt ward, die zu zahlende Summe selten viel mehr betrug, als die Curkosten eines Beschädigten, die Beerdigungskosten eines Getödteten und höchstens noch den Arbeitslohn des Verunglückten auf eine kurze Zeit. Sodann aber war (abgesehen von den unter das preußische Eisenbahngesetz fallenden Vorkommnissen) für den Beschädigten der Beweis, daß der Unternehmer an der Beschädigung Schuld trage, äußerst schwer, meist gar nicht zu führen, weil die deutschen Proceßgesetze insgesammt für eine solche Beweisführung höchst peinliche, nur selten zu erfüllende Erfordernisse aufstellten.

Es war somit für Deutschland, dessen Industrie je länger je mehr an Maschinenkraft und Fabrikbetrieb mit der englischen und französischen wetteiferte, das höchste Bedürfniß vorhanden, auch in Bezug auf den Schutz der Arbeiter gegen die mit diesem Industriebetriebe verbundenen Gefahren ähnliche gesetzliche Bestimmungen zu treffen, wie sie in jenen Ländern längst bestanden. Und weil eine gemeinsame Gesetzgebung des Reichs über den Proceß und vollends über das bürgerliche Recht noch in weiter Aussicht stand, mußte zunächst durch ein besonderes oder sogenanntes Specialgesetz diese Materie der Haftpflicht geordnet werden.

Die erste Anregung zum Erlaß eines solchen „Haftpflichtgesetzes“ für’s ganze Reich ging von Leipzig aus, und zwar nicht, wie man vielleicht denken könnte, aus der Mitte der Arbeiter, etwa in Folge der seit 1863 lebhafter gewordenen und hauptsächlich von Leipzig aus betriebenen Arbeiterbewegung, vielmehr aus einem Kreise von Besitzenden, die dem größeren Theile nach Arbeitgeber waren. Eine Versammlung der nationalliberalen Partei in Leipzig war es, welche an den norddeutschen Reichstag von 1868 eine von Dr. Hans Blum verfaßte, von dem Verfasser dieses Aufsatzes angeregte Petition in diesem Sinne richtete.

Der Reichstag übergab diese Petition („Biedermann und Genossen“) einstimmig dem Reichskanzler zur Berücksichtigung. In Folge dessen gelangte denn an den ersten gesammtdeutschen Reichstag im Jahre 1871 eine Vorlage der verbündeten Regierungen, welche es unternahm, die Haftpflicht wenigstens für eine Reihe von Gewerbebetrieben in solcher Weise zu normiren, daß den Arbeitern, beziehentlich deren Hinterlassenen, eine möglichst ausreichende Entschädigung für Körperverletzungen oder Tödtungen gesichert sei.

Allerdings beschränkte das Gesetz, wie es damals zu Stande kam, den Umkreis der Gewerbebetriebe, die unter dasselbe fallen sollten, auf: Eisenbahnen, Bergwerke, Steinbrüche, Gräbereien und Fabriken, ließ also alle übrigen Gewerbebetriebe unberücksichtigt, von denen manche, wie z. B. die Baugewerke, der Mühlenbetrieb, ja auch einzelne Zweige der Landwirthschaft, kaum minder gefährlich sind, als jene oben aufgezählten. Anträge auf Hereinziehung noch anderer Gewerbe wurden zwar im Reichstage gestellt, aber von der Majorität zurückgewiesen. Man glaubte sich zur Zeit auf das Allernothwendigste beschränken zu müssen, um so mehr, als damals (1871) der Reichsgesetzgebung die Competenz in Sachen des bürgerliche Rechts – mit Ausnahme des Obligationenrechts – noch nicht zustand.

Immerhin war es als ein wesentlicher Fortschritt zu Gunsten der arbeitenden Classen zu bezeichnen, daß wenigstens in jenen unstreitig gefährlichsten Gewerbebetrieben die Unternehmer für Beschädigungen ihrer Arbeiter oder auch dritter Personen ausdrücklich haftbar gemacht und zur Zahlung einer Entschädigung verpflichtet wurden, und zwar bei den Eisenbahnen (§ 1) – ganz nach dem Muster des preußischen Gesetzes von 1838 – in allen den Fällen, wo sie nicht entweder „höhere Gewalt“ oder eigenes Verschulden des Beschädigten nachzuweisen vermöchten, bei den anderen Gewerbebetrieben aber nicht mehr blos (wie nach den Landesgesetzen) bei einem Verschulden des Unternehmers, sondern auch in den Fällen, „wenn (wie es in § 2 des Gesetzes wörtlich heißt) ein Bevollmächtigter oder Repräsentant, oder eine zur Leitung oder Beaufsichtigung des Betriebes oder der Arbeiter angenommene Person durch ein Verschulden in Ausführung der Dienstverrichtungen den Tod oder die Körperverletzung eines Menschen herbeigeführt hat“.

Eben so wichtig war der zweite Fortschritt, den das Haftpflichtgesetz über die bisherige Gesetzgebung hinaus in Betreff der Höhe der zu leistenden Entschädigungen that. Es setzte nämlich (in § 3) fest: der zu leistende Schadenersatz müsse, abgesehen von der Erstattung der Heilungs- oder Beerdigungskosten, bestehen „in der Erstattung des gesammten Vermögensnachtheils, welchen ein Verletzter durch eine in Folge der Verletzung eingetretene Erwerbsunfähigkeit, oder welchen eine Person, zu deren Unterhalt der durch Unfall Getödtete vermöge Gesetzes verpflichtet war, durch dessen Tod erleidet“.

Es sei hier sogleich bemerkt, daß diese Gesetzesbestimmung von den Gerichten, mindestens von dem als oberster Gerichtshof für alle diese Sachen bestellten Reichsoberhandelsgericht, dahin ausgelegt worden ist, daß ein Beschädigter durch den haftpflichtigen Unternehmer jedenfalls in der Art schadlos gehalten werden muß, daß er dasselbe Einkommen fortbezieht, welches er vor seiner Körperverletzung bezog, bei Tödtungen aber denjenigen Personen, welche zu unterhalten der Getödtete gesetzlich verpflichtet war (z. B. der Frau und den Kindern), der Unterhalt in dem gleichen Maße, wie sie solchen von ihrem Ernährer bezogen, fortgewährt wird.

Ein vielumstrittener Punkt bei Berathung des Haftpflichtgesetzes im Reichstage war der wegen der sogenannten Beweislast. Wer soll den Beweis zu führen haben, ob ein Verschulden des Unternehmers, beziehungsweise eines seiner Angestellten, vorliege

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 279. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_279.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)