Seite:Die Gartenlaube (1880) 285.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)

No. 18.   1880.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Martha und Maria.
Novelle von Hieronymus Lorm.
1.

Unter den europäischen Culturvölkern haben nur die Russen, insofern man sie dazu zählen darf, einen richtigen Begriff von ländlicher Einsamkeit. Um sie als solche zu empfinden, darf man natürlich nicht ein Bauer sein oder irgend einem Berufe angehören, der außerhalb der Städte erfüllt wird; denn ländliche Einsamkeit empfindet nur, wer früher ihr Gegentheil, den Glanz der gebildeten Geselligkeit in großen Städten, kennen gelernt hat.

In allen Culturländern schlingt sich ein Rest dieses Glanzes, ein Widerschein städtischer Lebensformen in die ländliche Einsamkeit des kleinsten Dorfes mit hinein. Nur in Rußland, mit seinen unendlich weiten, unwegsamen Straßen und seinen eingegrenzten Standesverhältnissen, kann die ländliche Einsamkeit mitunter eine Welt für sich allein werden, mit eigenen, ihr ausschließlich angehörenden Lebensbedingungen, eine Abgeschiedenheit, die über Alles hinausreicht, was ein halbwegs gebildeter Gesellschaftsmensch in dieser Beziehung jemals geschaut und empfunden hat.

Sergey Iwanowitsch Nikrachewsky war aber keineswegs ein blos halbwegs gebildeter Mensch. Er hatte bis zum Jahre 1856 alle kriegerischen Affairen seines Vaterlandes in Asien wie in Europa als Officier mitgemacht. Wenn ihm diese Aufgabe auch nicht gestattet hatte, seine Liebe zur Naturforschung und zur Philosophie gründlich zu befriedigen, so hatte er seinem Beruf doch stets die Zeit und die Ruhe zur Selbsteinweihung in die Wissenschaften abzuzwingen gewußt. Da übrigens wahre Bildung nicht aus der unfruchtbaren Anhäufung von Kenntnissen besteht, sondern sehr wörtlich als etwas, das sich auf Grund der erworbenen Kenntnisse selbstständig im Menschen gebildet hat, folglich als eine Weltanschauung aufzufassen ist, so war Sergey Iwanowitsch Nikrachewsky, als er fünfunddreißig Lebensjahre zählte, in diesem Sinne ein gebildeter Mann.

Er war von Natur aus zur Melancholie angelegt, hatte jedoch eine stark ausgeprägte Neigung, alles Thun und Lassen sittlich zu begründen, sodaß er sich einem Hang zu müßiger, gedankenloser Trübseligkeit, zu andauernder Verdrießlichkeit nicht überließ. Schamhaft verhüllte er vielmehr die in seinem Gemüthe wurzelnde Melancholie wie einen Fehler, wie eine Schuld und gewann seinen wissenschaftlichen Ueberzeugungen einen Gleichmuth ab, der als ruhige Heiterkeit erschien.

Die wahre Beschaffenheit seines Innern hätte nur der errathen können, welcher seinen allgemeinen Aeußerungen besondere Aufmerksamkeit geschenkt haben würde. So sprach er zum Beispiel gern und viel über das Verhältniß des Glaubens zum Wissen, und weil einem ernsthaften und nicht frivolen Ungenügen am Glauben stets ein inniges Verlangen nach dessen Tröstungen, ein hingebendes Versenken in die heiligen Schriften vorhergehen muß, so war er ein bibelfester Philosoph. Oft äußerte er in verschiedenartiger Gesprächsform, das wahre Martyrium des Heilandes wäre nicht gewesen, daß er an's Kreuz genagelt wurde, sondern daß er wieder auferstehen mußte.

In solcher Lebensstimmung war es natürlich, daß er die Erbschaft eines kleinen Gutes im nordöstlich von Moskau gelegenen Gouvernement Kostroma mit dem Entschlusse antrat, die eigene Scholle nicht mehr zu verlassen und ein Gegengewicht zum beständigen Widerwillen, womit ihn das Treiben der Welt, besonders in Gestalt der politischen Zustände seines Vaterlandes, erfüllte, in der Abkehr von ihr, in der Einsamkeit zu suchen. Wer sich ausschließlich landwirthschaftlichen Beschäftigungen widmet, ohne einen raffinirten, einen andern als den von selbst sich ergebenden Gewinn daraus ziehen zu wollen und folglich ohne zu einem vielgestaltigen Menschenverkehr genöthigt zu sein, der befreit sich gewissermaßen vom politischen Charakter seines Landes und gehört nur noch dem Naturleben in der allgemeinen menschlichen Bedeutung desselben an.

So einsam nun auch Sergey dahinlebte, er gab auch dieser Lebensform so wenig wie seiner Melancholie einen fanatischen Anstrich. Bereitwillig unterbrach er vielmehr seine Einsamkeit, wenn dies von einem Interesse des Gemüths oder einer sittlichen Pflichterfüllung erheischt wurde. Die Beziehung zu seinem Freunde Nikolai Alexandrowitsch Towaroff schloß solches Interesse und solche Pflicht mit ein.

Towaroff war zehn Jahre älter als Sergey und war dessen Vorgesetzter im Militärstande gewesen. Beide Männer waren von früh an durch ein starkes Freundschaftsgefühl verbunden, ohne daß sie sich über dasselbe jemals ausgesprochen hätten. Ihre Gespräche waren im Gegentheil ein beständiges feindselig scheinendes Streiten. Denn obgleich Towaroff nicht wie Nikrachewsky eine fertige Gedankenwelt in sich trug und überhaupt dem Nachdenken nicht zugethan war, bildete doch seine Auffassung der Dinge einen vollständigen Contrast zur Weltanschauung des Freundes. Towaroff war mit der Beschaffenheit der Welt vollkommen zufrieden und behauptete oft, er wäre der glücklichste Mensch in dieser Welt, wenn die äußeren Umstände seine gute Laune nur einigermaßen unterstützt, ihm nur ein wenig die Last der Sorgen erleichtert hätten. Denn wie die Disposition der Gemüther, war auch das Schicksal der Freunde entgegengesetzter Art. Sergey Iwanowitsch

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 285. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_285.jpg&oldid=- (Version vom 29.5.2018)