Seite:Die Gartenlaube (1880) 302.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


„Die Idee ist weder so unsinnig noch so neu, wie Du glaubst. Bei mir stand sie bereits fest, als ich mit Dir die Universität bezog. Ich habe meine ganzen Studien darnach geregelt, wollte mir aber die jahrelangen, nutzlosen Kämpfe ersparen, deshalb schwieg ich bis jetzt, wo es zur Entscheidung kommen muß.“

„Und ich sage Dir, Du bringst die ganze Familie damit in Aufruhr; es ist auch unerhört. Ein Ettersberg als Advocat, den ersten besten Dieb oder Fälscher vertheidigend! Das giebt meine Mutter nun und nimmermehr zu, und sie hat vollkommen Recht. Wenn Du in den Staatsdienst trittst –“

„So dauert es noch Jahre, bis ich die ersten Stufen überwinde,“ unterbrach ihn Oswald, „und so lange bleibe ich gänzlich von Dir und Deiner Mutter abhängig.“

Der Ton der letzten Worte war so herb, daß Edmund sich rasch emporrichtete.

„Oswald! Habe ich Dich das je fühlen lassen?“

„Du – nein! Aber ich fühle es eben deshalb um so tiefer.“

„Da sind wir wieder auf dem alten Punkte. Du wärst im Stande, das Widersinnigste zu thun, nur um diese sogenannte Abhängigkeit – aber was ist denn das? Weshalb hält der Wagen? Ich glaube wahrhaftig, wir bleiben hier mitten auf der Landstraße im Schnee stecken.“

Oswald hatte bereits das Wagenfenster niedergelassen und sich hinausgelehnt.

„Was giebt es?“ fragte er.

„Wir sitzen fest,“ klang die phlegmatische Antwort des Postillons, der die Sache sehr natürlich zu finden schien.

„Wir sitzen fest!“ wiederholte Edmund mit einem ärgerlichen Auflachen. „Und das meldet uns der Mensch mit dieser philosophischen Ruhe. Wir sitzen also fest. Was nun?“

Oswald gab keine Antwort, sondern öffnete den Schlag und stieg aus. Die Situation ließ sich mit einem Blicke überschauen; angenehm war sie allerdings nicht. Der Weg senkte sich hier ziemlich steil abwärts, und der schmale Thaleinschnitt, den man passiren mußte, war durch Schneewehen vollständig versperrt. Der Schnee lag an dieser Stelle mehrere Fuß hoch und so dicht, daß ein Durchkommen unmöglich schien. Das mußten der Kutscher wie die Pferde wohl gleichzeitig eingesehen haben; denn die letzteren gaben jede fernere Anstrengung auf, und der Erstere hatte Peitsche und Zügel sinken lassen und sah seine beiden Passagiere an, als erwarte er von ihnen Rath oder Beistand.

„Diese verwünschte Extrapost!“ brach Edmund aus, der seinem Begleiter gefolgt und gleichfalls ausgestiegen war. „Weshalb ließen wir uns auch nicht die eigenen Pferde entgegenschicken! Jetzt kommen wir vor Einbruch der Dunkelheit nicht nach Ettersberg. Kutscher, wir müssen vorwärts.“

„Vorwärts geht es nicht,“ erklärte dieser in unzerstörbarer Gemüthsruhe. „Die Herren sehen es ja.“

Der junge Graf war im Begriff eine heftige Antwort zu geben, als Oswald die Hand auf seinen Arm legte.

„Der Mann hat Recht. Es geht wirklich nicht; mit den beiden Pferden allein kommen wir hier nicht vorwärts. Es wird uns nichts weiter übrig bleiben, als einstweilen hier im Wagen auszuhalten und den Postillon nach dem nächsten Stationshause zu schicken, um Vorspann zu holen.“

„Damit wir inzwischen hier vollständig einschneien? Da ziehe ich es denn doch vor, zu Fuß nach der Poststation zu gehen.“

Oswald's Blick überflog mit sarkastischem Ausdruck das Reisecostüm seines Gefährten, das augenscheinlich nur für das Eisenbahncoupé oder den Wagen berechnet war.

„In diesem Anzuge willst Du den Fußweg durch den Wald zurücklegen, wo man bei jedem Schritt bis an die Kniee einsinkt? Das möchte denn doch seine Schwierigkeiten haben. Ueberhaupt wirst Du Dich erkälten hier in dem scharfen Winde. Nimm meinen Mantel!“

Damit nahm er ohne Weiteres den Mantel ab und legte ihn um die Schultern des Grafen, der lebhaft, aber vergeblich dagegen protestirte.

„Ich bitte Dich, dann bist Du ja ohne jeden Schutz gegen die Witterung.“

„Mir schadet das nichts. Ich bin nicht weichlich.“

„Aber ich bin es Deiner Meinung nach?“ fragte Edmund empfindlich.

„Nein – nur verwöhnt! Jetzt aber müssen wir einen Entschluß fassen. Entweder wir bleiben im Wagen und schicken den Postillon fort, oder wir versuchen es, auf dem Fußwege vorwärts zu kommen. Entscheide Dich rasch. Was soll geschehen?“

„Wenn Du nur nicht immer so entsetzlich kategorisch wärst!“ sagte Edmund mit einem Seufzer. „Fortwährend stellst Du ein Entweder – oder auf. Weiß ich es, ob der Fußweg zu passiren ist?“

Das Gespräch wurde hier unterbrochen. In einiger Entfernung ließ sich das Stampfen und Schnauben von Pferden hören, und jetzt sah man auch durch Nebel und Schneeflocken einen zweiten Wagen herankommen. Die kräftigen Thiere überwanden ziemlich leicht die Schwierigkeiten des Weges, an dieser bedenklichen Stelle machten sie aber doch Halt. Der Kutscher zog die Zügel an sich, betrachtete kopfschüttelnd das Hinderniß und wandte sich dann nach dem Innern des Wagens. Seine Meldung schien nicht viel tröstlicher zu lauten, als die des Postillons, und ebenso ungeduldig aufgenommen zu werden; denn die helle, jugendliche Stimme, welche ihm antwortete, klang in erregtem Tone.

„Das hilft Alles nichts, Anton; wir müssen hindurch.“

„Aber Fräulein, wenn es doch nun einmal nicht geht!“ wandte der Kutscher ein.

„Thorheit! Es muß gehen. Ich werde selbst nachsehen.“

Den sehr bestimmt gesprochenen Worten folgte die Ausführung sofort. Der Wagenschlag wurde geöffnet, und eine offenbar noch sehr junge Dame sprang heraus. Sie schien mit der Märztemperatur hier in den Bergen hinreichend vertraut zu sein; denn ihre Kleidung war noch ganz winterlich. Ein pelzbesetztes Jäckchen umschloß die schlanke Gestalt in dem dunklen Reisekleide, und ein dichter Schleier, der über dem Hute befestigt war, hüllte fast den ganzen Kopf ein. Es schien sie sehr wenig zu kümmern, daß ihr Fuß beim Aussteigen bis an den Rand des Stiefelchens in den weichen Schnee versank; sie that tapfer einige Schritte vorwärts, blieb aber stehen, als sie den andern Wagen bemerkte, der dicht vor dem ihrigen hielt.

Auch die beiden Herren waren aufmerksam geworden. Oswald freilich hatte nur einen flüchtigen Blick auf die neuen Ankömmlinge geworfen und dann seine ganze Aufmerksamkeit wieder der kritischen Lage zugewendet, Edmund dagegen verlor auf einmal alles Interesse dafür. Er überließ seinem Begleiter alles Weitere und stand schon in der nächsten Minute an der Seite der Fremden, der er mitten im ärgsten Schneegestöber eine Verbeugung von so tadelloser Eleganz machte, als befände er sich im Salon.

„Sie entschuldigen, mein Fräulein, aber wie ich sehe, sind wir nicht die Einzigen, die dies unvergleichliche Frühlingswetter überrascht hat. Es ist immer ein Trost, im Unglück Leidensgefährten zu haben, und da wir in der gleichen Gefahr sind, hier rettungslos einzuschneien, so gestatten Sie wohl, daß wir Ihnen unseren Beistand anbieten.“

Graf Ettersberg vergaß bei diesem ritterlichen Anerbieten vollständig, daß er und Oswald selbst ganz rathlos vor dem Hinderniß standen. Unglücklicher Weise wurde er auf der Stelle beim Worte genommen; denn die junge Dame sagte, ohne durch die Anrede irgendwie in Verlegenheit zu gerathen, in dem früheren bestimmten Tone:

„Nun, dann haben Sie die Güte, uns einen Weg durch den Schnee zu bahnen!“

„Ich?“ fragte Edmund betroffen. „Ich soll –?“

„Sie sollen uns eine Bahn durch den Schnee schaffen – gewiß, mein Herr!“

„Mit dem größten Vergnügen, mein Fräulein, wenn Sie mir nur gefälligst sagen wollten, wie ich das anfangen soll.“

Die Spitze des kleinen Stiefels schlug ungeduldig gegen den Boden, und nicht minder ungeduldig klang die Erwiderung.

„Ich dachte, Sie hätten bereits ein Mittel gefunden, da Sie mir Ihre Hülfe anboten. Jedenfalls müssen wir hindurch, gleichviel auf welche Weise.“

Damit schlug die Sprechende den Schleier zurück und machte Anstalt, die Situation zu beaugenscheinigen. Das, was dies dichte dunkelblaue Gewebe aber jetzt entschleierte, war von so ungewöhnlichem Liebreiz, daß Edmund die Antwort darüber vergaß. Man konnte auch wirklich kaum etwas Anmuthigeres sehen als das von der scharfen Luft rosig angehauchte Gesicht dieses jungen Mädchens. Ihr dunkelblondes Haar drängte sich lockig und widerspänstig aus dem seidenen Netze hervor, das vergeblich versuchte, es zu fesseln.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 302. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_302.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)