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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)

Veränderlichkeit und Thier. Das hatte nicht den geringsten Einfluß auf den breiten Strom der Literatur, der in ruhiger, allmählicher Entwickelung und Läuterung majestätisch weiter wogte.

Wie sich diese Läuterung allmählich vollzog, davon will ich ein Beispiel anführen.

Barth. Heinr. Brockes (geboren 1680, gestorben 1747) gebrauchte noch für: die Augenbrauen die Form: Augenbrahnen, und reimte dieses Wort auf: Bahnen. Bei Herder kommen noch vor die Formen: Augbran und Augenbran. Auch bei Schiller kommt die Form: Augbranen noch zweimal vor, zuletzt 1787. Goethe schrieb: Augbraun, Augbraune, Augenbraune und Augenbraue. Schiller, außer den genannten Fällen: Augbraun und Augbraune. Heute scheint die Form: Augenbraue schon so ziemlich die Oberhand gewonnen zu haben.

Der Einfluß Einzelner ist da bei Weitem geringer, als man gewöhnlich annimmt. So wie man Gottsched’s Macht in Bezug auf die Festsetzung der Orthographie überschätzt, so überschätzt man den später zur Geltung gekommenen Einfluß Adelung’s. Um das Jahr 1616 erscheint, so viel bekannt, das erste Mal in deutscher Sprache das Wort: das Boot. Es ist ein Fremdwort, aus dem Holländischen. Die Seefahrenden und Handelsleute haben es von da in holländischer Schreibung (Boot) mit oo in’s Land gebracht. Adelung’s Wörterbuch schlug schon 1774 die Schreibung Both (siehe Grimm’s Wörterbuch, II, 237) vor. Wir schreiben aber heute noch ganz richtig: Boot.

So erscheint denn die deutsche Schreibung im Ganzen in gesunder Bewegung und allmählich sich vollziehender Läuterung. Bei ihrem riesigen Umfange kann ihre Umgestaltung wohl nur eine allmähliche sein. Sie schleppt sich noch mit Widersprüchen und überflüssigen Buchstaben. Wenn man aber ihr Ganzes übersieht, so muß man doch die größte Uebereinstimmung in der Hauptsache erkennen, sowie die nicht ruhende Tendenz nach Beseitigung einzelner Mißbräuche, eines nach dem andern. Das y in: sein (être), am längsten von der „Augsburger Allgemeinen Zeitung“ festgehalten, ist verschwunden. Wir schreiben schon lieber Schwert, als Schwerdt; lieber Wirt, als Wirth, und so werden auch diejenigen Fälle immer weniger, von denen man sagt: „Die Schreibung schwankt.“

Ob diese Fälle jemals ganz schwinden werden? Ich weiß nicht, ob man es wünschen soll. So lange die Sprache lebt, wird sie immer kleine Veränderungen erleiden, und die werden allmählich auch in der Schreibung sich geltend machen. Ich glaube, daß ein so naturgemäßer Vorgang bei Weitem dem Festfrieren der Wortbilder, wie im Englischen, vorzuziehen ist.

Wer von dem Leben einer Sprache und dem lebendigen Erfassen dieses Lebens die rechte Vorstellung hat, wird auch nicht wünschen, daß eine Akademie eingesetzt werde, ein solches Festmachen zu besorgen. Trefflich spricht sich hierüber R. Hildebrand in seinem Werke „Vom deutschen Sprachunterricht. Leipzig 1879“ aus, wo auf S. 58 die noch in vielen Köpfen spukende Forderung einer „Akademie“ gekennzeichnet ist. Im Ganzen ist wohl die große Mehrheit der schreibenden Welt sehr wenig interessirt für die Schreibung. Was kümmert den Journalisten, den Gelehrten, den Schriftsteller überhaupt die Orthographie! Es ist etwas so Nebensächliches, so Aeußerliches, ein von dem, was er zu sagen hat, so weit abliegendes Moment, daß man begreift, wie es der weitaus größten Mehrheit der Schreibenden, die doch am Ende ausschlaggebend ist, gleichgültig sein muß. Dennoch klären sich, wie gesagt, allmählich die Begriffe auch in der Schreibung, und kleine Fortschritte vollziehen sich unmerklich.

Alles stünde nach Wunsch, nur von unseren Schulen muß man gestehen, daß es da mit der Orthographie schlimm steht. Wir wissen, wie die Schriftsteller schreiben, wie die Journale schreiben, wie man zu schreiben hat als gebildeter Mensch, wie aber unsere Kinder schreiben, wie sie schreiben sollen, wie es die Schule verlangt, das wissen wir nicht.

Jede Schule schreibt anders, und man kann sich dabei nur mit der Hoffnung trösten, daß die Kinder die Verwirrung, in die sie durch die Schule gerathen, später überwinden und dann doch auf eigne Faust noch schreiben lernen werden – wie man schreibt.

Bisher konnte man sich wohl auch mit der Ansicht beruhigen, dieses Unwesen sei im Ganzen doch nur ein Sturm in einem Glase Wasser, der vorüber gehen wird.

Die Sache nimmt aber nun eine Wendung, über die sich nicht mehr hinwegsehen läßt. In der Hauptstadt des deutschen Reiches wird den Schulen eine neue Orthographie befohlen, und selbst die Ministerien sind darüber verschiedener Meinung! Das Berliner Unterrichtsministerium hat den Gegensatz, in welchem die Schule zur öffentlichen Meinung steht, verschärft und ist selbst Partei geworden, ohne die öffentliche einerseits, ohne die Schule andererseits zu befriedigen. Muß die Schule nicht, wenn ihr eine bestimmte neue Orthographie aufgedrungen wird, fragen: warum diese und nicht eine von den vielen anderen, die vorgeschlagen sind?

Werfen wir einen Blick auf diese verschiedenen vorgeschlagenen Orthographien!

Bekanntlich war es Karl Weinhold, der feinsinnige Germanist, der 1852 ein Ideal einer deutschen Schreibung aufgestellt hat nach dem Grundsatz: man schreibe, wie es die geschichtliche Entwickelung des Neuhochdeutschen verlangt!

Man nannte die von ihm aufgestellte Schreibung die historische. Der von dieser Schrift ausgehenden Strömung, die wesentlich auf Jac. Grimm’s historischer Grammatik fußt, trat 1855 Rudolf von Raumer entgegen, der das Recht der lebenden Sprache geltend machte und darauf drang, durch die Schreibung die Aussprache der Gebildeten möglichst phonetisch genau wiederzugeben. Also z. B. wenn auch in dem Worte Löffel historisch richtig e für ö zu schreiben wäre, so schreibe man doch neuhochdeutsch Löffel, weil so heutzutage der Gebildete spricht. Das phonetische Princip veranlaßte Raumer auf Einführung des Heyse’schen ſs zu dringen. Davon noch später!

Beide haben eine ideale Schreibung im Auge, die anzustreben wäre, aber noch nicht üblich ist. Es ist natürlich nichts dagegen einzuwenden, wenn Männer der Wissenschaften solche Ideale hinstellen, und als solche haben beide Erörterungen ihren Werth und haben zur Klärung der Begriffe viel beigetragen. Etwas anderes aber ist es, solche Ideale theoretisch hinzustellen, etwas anderes, sie in der Schule einführen zu wollen.

Es tauchten nun in den letzten Jahrzehnten eine Menge von neuen Orthographien in Lehrerkreisen auf, immer angeblich in der Absicht, in die Schreibung Einheit zu hineinzubringen, eigentlich aber immer nur mit dem Zweck, gewissen Lieblingsmeinungen Einzelner Geltung zu verschaffen. Man begnügte sich nicht, Einigung in zweifelhaften Fällen zu erzielen, sondern man griff immer auch das Feststehende an. Man führte dann diese neuen Orthographien in die Schulen ein, ohne sich im Geringsten darum zu kümmern, ob man auch der allgemeinen Zustimmung der übrigen Welt gewiß sei. Die chaotischen Zustände, die auf diese Weise in den Schulen einrissen, indem man dort nach dem historischen, hier nach dem phonetischen Princip orthographische Regeln aufstellte und lehrte, die alle unter einander nicht übereinstimmten, mußten die Regierungen, zunächst die Unterrichtsbehörden, veranlassen, etwas zu thun, um dem ein Ende zu machen.

Es sei nur zweier derartiger behördlicher Schritte gedacht, des einen aus Wien, eines anderen aus Berlin.

Durch einen Auftrag des österreichischen Unterrichtsministeriums wurde ich 1868 veranlaßt einen Vorschlag auszuarbeiten, der geeignet wäre, in die Orthographie der Schulen Ordnung und Einheit zu bringen.

Es lagen schon damals Erfahrungen vor, aus denen ersichtlich war, woran solche Vorschläge gewöhnlich scheitern. Sie dienen meistens zur Grundlage von Berathungen einer Commission, deren Ergebniß ist, daß zu den neunundneunzig bereits geschaffenen Orthographien nun noch eine hundertste geschaffen ist. Das Uebel, dem man abhelfen wollte, wird vergrößert.

Commissionen zur Berathung über die deutsche Rechtschreibung sind gewöhnlich nach der Mehrzahl ihrer Mitglieder, wie die Dinge einmal stehen, nicht unbefangen genug. Sie werden gewählt aus Kreisen, die zur orthographischen Reform schon Stellung genommen haben, und da haben sich bei den meisten Mitgliedern gewöhnlich schon gewisse Lieblingsmeinungen angesetzt, die bei einer solchen Gelegenheit geltend gemacht werden. Da findet sich denn bald, daß die Mehrzahl nur in Einem Punkte einig ist, nämlich darin, daß ihnen die Reform der Schreibung, ganz abgesehen von der Praxis, in erster Reihe wichtig erscheint und darüber die Einigung, die anzustreben wäre, vergessen wird. Sie kommen dann auch zu Ergebnissen, über welche die Welt anfangs gewöhnlich erschrickt und dann – zur Tagesordnung übergeht.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 306. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_306.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)