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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


In dieser Beziehung wird hoffentlich das öffentliche Gerichtsverfahren, welches seit Einführung der großen Reichsjustizgesetze auch im Civilprocesse zur Anwendung kommt, wohlthätig wirken. Die Entscheidungen und die Entscheidungsgründe der Gerichte in Haftpflichtsachen werden allmählich mehr und mehr bekannt werden, und es wird sich so nach und nach in Volkskreisen eine deutlichere Kenntniß des Gesetzes und seiner Anwendung herausbilden.

Bisher waren es fast nur Erkenntnisse der Gerichte höherer Instanz, und vornehmlich der höchsten, welche in die Oeffentlichkeit gelangten. Allerdings sind aber auch gerade diese Erkenntnisse ganz besonders wichtig und werden es auch künftig sein, da ja unter Umständen Jeder, der einen Proceß auf Grund des Haftpflichtgesetzes anstrengt, oder gegen den ein solcher angestrengt wird, in die Lage kommen kann, im Wege der Berufung an diese höchste Instanz zu appelliren, da ferner mit Grund anzunehmen ist, daß die unteren und mittleren Gerichte bei ihrer Auslegung des Haftpflichtgesetzes sich nach den in ähnlichen früheren Fällen ergangenen Entscheidungen der obersten Instanz mehr und mehr richten werden. Es dürfte daher wohl in der Aufgabe eines so vielverbreiteten und den Interessen aller Schichten des Volkes gewidmeten Blattes wie die „Gartenlaube“ liegen, zum Bekanntwerden wenigstens einiger besonders wichtiger Erkenntnisse dieser Art auch in weiteren Kreisen beizutragen.

Bis zum 1. October 1879 war die höchste Instanz in allen Haftpflichtprocessen das Reichsoberhandelsgericht; seit dem 1. October 1879 ist es das Reichsgericht. Von jenem ersten liegt eine größere Reihe von Erkenntnissen in Haftpflichtsachen aus einer fast achtjährigen Praxis vor; aber auch dieses letztere, obschon seine Thätigkeit noch nicht einmal so viel Monate alt ist, hat doch schon eine Anzahl solcher Fälle entschieden. Die von Dr. Hans Blum unter Mitwirkung von Dr. Karl Braun bei Duncker und Humblot in Leipzig herausgegebenen „Annalen des Reichsgerichts“ enthalten in ihren ersten drei Heften elf solche Entscheidungen, darunter einige seht interessante und principiell wichtige. Um jedoch chronologisch zu verfahren, beginnen wir mit jenen früheren des Reichsoberhandelsgerichts.

Da stoßen wir denn zuerst auf einen allgemeinen Grundsatz, der sich zwar für den Juristen von selbst versteht, der aber dem nicht juristisch gebildeten Publicum wohl häufig unbekannt oder doch unklar ist. Bei größeren Unglücksfällen, namentlich Massenunfällen, pflegt immer alsbald eine amtliche Erörterung und eventuell eine strafrechtliche Untersuchung einzutreten, um zu ermitteln, ob eine von Amtswegen zu bestrafende Verschuldung vorliege. So geschah es z. B. bei dem jüngsten großen Grubenunglück in dem Kohlenschacht bei Zwickau. Da hieß es nun in öffentlichen Blättern: „die amtliche Erörterung hat keine Verschuldung herausgestellt,“ und sofort wurde daran die Schlußfolgerung geknüpft: „somit erweist sich wieder einmal das Haftpflichtgesetz als unwirksam.“ Diese Folgerung ist eine unberechtigte. Ein Erkenntniß des Reichsoberhandelsgerichts vom 19. October 1874 spricht ausdrücklich aus, daß der Ausfall einer strafrechtlichen Erörterung oder Untersuchung für den Civilrichter, der das Haftpflichtgesetz zu handhaben hat, in keiner Weise ausschlaggebend oder auch nur bestimmend sein kann, daß recht wohl der Strafrichter keine Schuld finden mag, die zu einem strafrechtlichen Verfahren Anlaß böte, wohl aber der Civilrichter eine solche, welche ausreicht, um darauf eine civilrechtliche Haftpflicht und folglich die Verbindlichkeit zur Schadloshaltung eines Verletzten, beziehentlich der Hinterlassen eines Getödteten, zu begründen.

Die Entscheidung des Civilgerichts in Haftpflichtsachen ist eben eine gänzlich und nach allen Seiten hin freie, lediglich von der eigensten Ueberzeugung des Richters, wie sich diese aus seiner Gesammtanschauung des Sachverhaltes herausbildet, abhängige. Diese „freie richterliche Ueberzeugung“ ist seit Einführung der Civilproceßordnung für das deutsche Reich allgemeingültiger Grundsatz unserer Civilrechtspflege geworden; vorher bestand sie nur in Haftpflichtsachen in Folge einer ausdrücklichen diesfallsigen Vorschrift im Haftpflichtgesetze selbst. Nach den früheren allgemeinen processualischen Bestimmungen mußte der Richter gewisse Dinge als bewiesen annehmen, durfte er andere nicht als bewiesen gelten lassen, je nachdem bestimmten, genau vorgeschriebenen Beweisregeln von den Parteien genügt oder nicht genügt worden war. Jetzt steht es ihm frei, eine Beweisaufnahme zu verfügen wenn sie ihm nothwendig scheint, oder sie zu unterlassen, wenn er ihrer zur Gewinnung einer bestimmten Ansicht von dem Rechtsfalle nicht zu bedürfen glaubt. Oder – wie es in den Motiven zur deutschen Civilproceßordnung heißt – „der Richter ist nicht genöthigt, nur das von den Parteien Bewiesene, beziehentlich Behauptete für wahr anzunehmen, sondern er hat sich, ganz unabhängig davon, ein Bild von dem Thatbestande zu machen“.

Dieses völlig freie Ermessen der Gerichte – welches, um das noch zu erwähnen, in dem durch die deutsche Civilproceßordnung auch im Civilverfahren eingeführten mündlichen Verfahren eine wichtige Verstärkung und Unterstützung finden wird – kommt, wie wir wohl kaum zu sagen brauchen, vorzugsweise dem klagenden Theil in Haftpflichtprocessen, also zumeist den durch Unfälle in Fabriken, Bergwerken etc. beschädigten Arbeitern oder ihren Familien, ferner dem bei Eisenbahnkatastrophen betheiligten Publicum zugute. Dem Beschädigten, der eine solche Klage anstellen will, mag es oft schwer fallen, eine bestimmte „Verschuldung“ des Betriebsunternehmers oder seiner Bevollmächtigten und deren ursachlichen Zusammenhang mit der Beschädigung dergestalt nachzuweisen, daß nirgends eine Lücke im Beweise bleibt, doppelt schwer den Hinterlassenen eines solchen, wo nicht einmal der Mann selbst mehr über das Vorgefallene etwas angeben kann. Hier aber tritt nun eben das Gericht mit seinem freien Ermessen ergänzend ein: es verfolgt die vom Kläger gegebene Spur weiter; es sucht, nach seiner eigenen besten Kenntniß, von dem, was zu einem solchen Beweise nothwendig, das noch Fehlende auf, indem es sich seiner discretionären Gewalt bedient, um die ihm nöthig scheinenden Beweismittel herbeizuschaffen, und stellt so nach Möglichkeit eine gewisse Gleichheit zwischen den Parteien her. Denn zu leugnen ist ja nicht, daß mindestens bei Processen nach § 2 des Haftpflichtgesetzes (bei Unglücksfällen in Bergwerken, Steinbrüchen, Fabriken) der Unternehmer, als der Verklagte, von Haus aus in einer günstigeren Lage sich befindet, als der Beschädigte, welcher ihm oder seinen Vertretern eine bestimmte Verschuldung nachweisen soll – ganz abgesehen von den sonstigen Schwierigkeiten, mit denen namentlich der vermögenslose, von seinem Arbeitgeber abhängige Arbeiter bei einem Processe mit diesem oder vollends mit einer denselben vertretenden Unfallversicherungs-Gesellschaft zu kämpfen hat.

Um nun den zugleich so wichtigen und so schwierigen Nachweis einer Schuld zu erleichtern, hat die oberste richterliche Instanz im Uebrigen bereits gewisse Linien gezogen, welche in einer für den Beschädigten sehr günstigen Weise den Begriff des „Verschuldens“ in der einen und der andern Richtung feststellen.

So heißt es in dem schon erwähnten Erkenntniß des Reichsoberhandelsgerichts vom 19. October 1874 wörtlich:

„Unter ‚Verschulden‘ ist vor Allem die Nichtbeobachtung des nach allgemeinen Rechtsprincipien erforderlichen Grades von Aufmerksamkeit zu verstehen. Das Gericht hat dies im civilrechtlichen Sinn nach freier Ueberzeugung zu entscheiden, selbst wenn eine criminelle Freisprechung stattgefunden hat.“ Ferner in einem vom 30. Juni 1875: „Da bei den betreffenden Personen (Beauftragten von Unternehmern) eine besondere Sachkenntniß vorauszusetzen, so gehört bei ihnen zum ‚Verschulden‘ jede Uebertretung der allgemeinen und speciellen, gesetzlichen oder polizeilichen Vorschriften, Instructionen, Reglements, gleichviel ob nach Reichs- oder Landesgesetzen, ob für das ganze Land oder einen einzelnen Bezirk erlassen, vornehmlich der §§ 16, 18, 24, 25, 107, 108, 147 Nr. 2, 148 Nr. 10 der Reichsgewerbeordnung, der Verordnung des Bundesraths über Anlegung von Dampfkesseln vom 29. Mai 1871 und der Ausführungsverordnungen dafür in den Einzelstaaten etc. Als ‚Verschulden‘ stellt es sich ferner dar, wenn diejenige Vorsicht zur Verhütung von Unfällen nicht aufgewendet ist, welche Wissenschaft und Erfahrung dem Angestellten zur Pflicht machen. Bei der Mannigfaltigkeit der hier in Betracht kommenden Fragen wird sich dies im einzelnen Falle wohl nur durch Anhörung von Sachverständigen entscheiden lassen. Der Richter wird dabei von der Voraussetzung ausgehen müssen, daß sich jeder derartige gefährliche Betrieb auf der Höhe der technischen etc. Erfahrung halten, das heißt alle diejenigen Sicherheitsvorkehrungen treffen muß, welche nach der herrschenden Verkehrsanschauung erforderlich sind. Er wird andrerseits die concreten Umstände genauer zu berücksichtigen haben, die Möglichkeit solcher Einrichtungen nach den localen Verhältnissen etc.“

Zu dem „Verschulden“ eines Angestellten rechnet es daher

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 322. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_322.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)