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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)

Martha und Maria.
Novelle von Hieronymus Lorm.
(Fortsetzung.)

Als die Freunde allein waren, sagte Sergey:

„Du fragtest noch nicht nach dem Ereigniß, das mich in Dein Haus geschneit hat; nach unserm Vertrag dürfte es doch nur etwas Außerordentliches sein.“

„Dein Kommen ist mir immer ein Ereigniß,“ erwiderte Nikolai, „Du erfüllst also die Vertragsclausel schon dadurch, daß Du kommst. Uebrigens hast Du ja auch etwas Außerordentliches in der Tasche, wie Du sagst: den Brief der Gräfin.“

„Nun, es kann etwas werden,“ lächelte Sergey, „meine gute Tante will mich verheirathen! Lies!“

„Jedes Wort ist eine Perle,“ rief Nikolai, nachdem er den Brief der Gräfin gelesen hatte. „Du bist natürlich dagegen, und wir fangen gleich wieder zu streiten an.“

„Diesmal nicht, Nikolai. Denn das Ereigniß ist, daß ich mich entschlossen habe, zu heirathen.“

Nikolai sprang auf und umarmte seinen Freund.

„Hurrah! Und wen hast Du gewählt?“

„Ich habe Dir schon im Salon gesagt, daß die Sache zunächst Dein Geheimniß ist. Du mußt für mich wählen.“

„Du bist nicht gescheidt, Sergey Iwanowitsch; ich komme nicht mehr in die Welt, sehe keine Weiber mehr; ja, wenn Du mich vor fünf Jahren gefragt hättest! Die schönsten Mädchen, die ich kannte, sind seitdem alt geworden oder haben ihre Männer.“

„Du hast aber zwei im Hause, die noch ganz Knospe sind.“

„Meine Mädchen!“ sagte Nikolai fast bestürzt und schlug die Hände wie bei einer unangenehmen Ueberraschung zusammen; „welche Fliege hat Dich gestochen? Du bildest Dir wohl ein, die Mitgift läge hier im Kasten? Ich sage Dir, Sergey Iwanowitsch, sie bekommen keinen Kopeken. Mütterliches war niemals vorhanden, und ich, Gott sei's geklagt, bin ein armer Teufel. Daran hast Du wohl noch nicht gedacht?“

„Es ist wahr,“ erwiderte Sergey, „daran habe ich nicht gedacht. Aber – Du kennst mich ja als einen verstockten und eigensinnigen Menschen – ich denke auch jetzt nicht daran und werde niemals daran denken. Ich denke nur daran, um jeden Preis Dein Schwiegersohn zu werden.“

„Hast Du Dich denn schon mit meinen Töchtern verständigt? Welche von Beiden liebt Dich, welche liebst Du?“

„Höre mich an, mein theurer Freund!“ sagte Sergey in einem Tone, der seinen Ernst und seine tiefe Bewegung verrieth. „Ich bin Quietist, und wie ich selbst ein Mann ohne Leidenschaft bin, so weiß ist[1], daß ich auch schwerlich Leidenschaft zu erregen vermag. Ich bin fünfunddreißig Jahre alt, also fast schon ein Alter, bin ein wenig melancholisch und obgleich ich mich stets bemühte, dies vor Anderen zu verbergen, kann es doch ohne mein Wissen zum Vorschein gekommen sein. Ich bin nach alledem, wie Du siehst, weder liebenswerth noch liebenswürdig. Nun finde ich aber die Gründe meiner Tante Varinka ganz richtig, warum sollte ich es nicht versuchen, was sich durch Liebe nicht mehr erreichen läßt, vielleicht durch Freundschaft zu erreichen?“

„Erkläre mir das näher!“

„Du zweifelst wohl nicht, daß meine Freundschaft für Dich und Deine Kinder groß genug ist, um mich wünschen zu lassen, zur Familie zu gehören. Es fragt sich, ob auch die Freundschaft eines Deiner Kinder groß genug ist, um, blos auf dieses Gefühl gestützt, einen Lebensbund schließen zu wollen. Da ich keine von Beiden liebe, so liebe ich Beide; das will sagen: da ich keine Leidenschaft habe, so habe ich auch kein Recht, zwischen Beiden zu wählen. Diejenige aber, die sich für mich entscheiden sollte, wird sich im Freunde nicht getäuscht finden.“

Nikolai dachte lange nach, dann sagte er:

„Laß mich's überschlafen, und vorläufig kein Wort zu den Mädchen!“

Die Freunde begaben sich in den Salon zurück, wo inzwischen der Abendtisch vorbereitet worden war. Wenn bisher die unausgesprochene Betrübniß des Familienvaters einen Schatten über die Stimmung der Seinen geworfen hatte, so belebte jetzt eine in ihren Ursachen gleichfalls unergründete Heiterkeit Nikolai's den ganzen Kreis. Der gute Mann wurde mit jedem Augenblick, in welchem er sich immer deutlicher das Glück ausmalte, welches die Werbung für sein Haus zur Folge haben könnte, lebhafter und gleichsam jünger; er sprach viel, trank mit ausgesprochenem Behagen, pries Sergey wegen der klugen Voraussicht, guten Proviant mitgebracht zu haben, trällerte zuweilen den Anfang eines alten Liedchens, und lange nicht empfundene Fröhlichkeit stieg in den Herzen Matrjona's und Milinka's auf.

Auch sie begannen die unschuldigen Regungen ihres Gemüthes unbefangen hervortreten zu lassen. Matrjona erzählte von dem einzigen Balle, den sie in ihrem Leben mitgemacht, auf einem Gute in der Nachbarschaft, und gab, um den Tisch herumtanzend, eine komische Probe von den Manieren ihrer damaligen Tänzer. Milinka, auch in glücklichen Momenten von einem Zuge schwärmerischen Ernstes nicht verlassen, recitirte deutsche und französische Gedichte und wurde durch zarte und liebevolle Anspielungen ihrer Schwester sogar zum Geständnisse gebracht, daß sie selbst schon Verse zu machen versucht und daß der verwegene Ehrgeiz, einst Schriftstellerin zu werden, sie zuweilen nicht schlafen lasse.

Sergey frischte in sich die Laune auf, um heitere Erinnerungen an seine Reisen und an seine Beziehungen zur großen Gesellschaft mitzutheilen. Man lachte viel und wurde des Fluges der Stunden nicht gewahr, bis Nikolai endlich aufstand und rief: „Kinder! Ihr seht jetzt etwas, was Ihr noch nicht mit Augen gesehen habt, seit Ihr auf der Welt lebt.“

„Was wäre das?“ fragten die Mädchen wie aus einem Munde.

„Die zweite Stunde nach Mitternacht. Da man aber mit den Seltenheiten des Lebens sparsam umgehen soll, so bewahrt Euch den Anblick der noch folgenden Nachtstunden bis zum Morgen für spätere festliche Gelegenheiten auf und geht jetzt schlafen!“

„O, ich habe schon manche späte Nachtstunde gesehen,“ sagte Milinka, „aber freilich im Finstern in wachen Träumen.“

„Dafür hast Du wahr und gewiß auch niemals eine frühe Morgenstunde gesehen,“ entgegnete Matrjona lachend und neckend.

Man trennte sich. Nikolai hatte anfangs die Absicht gehabt, die Mädchen noch an diesem Abend, bevor sie sich zur Ruhe begaben, von der Werbung Sergey's in Kenntniß zu setzen, aber er fürchtete jetzt, ihnen dadurch eine Aufregung zu verursachen, die ihnen noch den Rest der Nacht geraubt hätte. Er schied von Sergey mit den lachenden Worten: „Ich habe sehr wichtig zu schlafen; denn ich muß es ja überschlafen.“

Sehr vergnügt zog sich auch Sergey zurück. Er hatte im Hause der Noth und Sorge glückliche Menschen gesehen. „Das sind auch die besten Menschen,“ sagte er sich, „die so leicht in glückliche Stimmung zu versetzen sind, und sie verdienten ein Glück, das solidere Ursachen hätte, als eine flüchtige Stimmung. Welch instinctives Verständniß, wie es nur die innigste Liebe giebt, müssen diese Mädchen für ihren Vater haben, wenn seine heitere Miene, seine unumwölkte Stirn schon genügt, alle versteckte Jugendlust in ihnen aufjauchzen zu machen! Liebe, liebe Kinder sind es.“

Er war reisemüde; er trachtete in's Bett zu kommen, aber statt zu schlafen, setzte er seine Gedanken fort.

„Beide sind gleich hübsch, ja sie sind schön. Milinka mahnt an die heilige Cäcilie, Matrjona an eine Madonna Murillo's. Milinka würde helfen, ein Leben in tiefster Abgeschiedeheit zu vergeistigen, Matrjona ein Leben im Trouble der Welt unendlich behaglich zu machen. Die Dinge dieses Erdenlebens sind pure Nichtigkeit; ich erweise ihm nicht die Ehre, sein Gutes zu wollen, darum zu kämpfen, ich bin zufrieden, wenn ich zur Abwehr, zum geistigen Widerstande gegen sein Böses genugsam gerüstet bin. Ich habe mein Schicksal in die Hände dieser Mädchen gelegt, vorausgesetzt, daß sie überhaupt Lust haben, darüber zu entscheiden.“

Auch Nikolai schlief nicht. Er überdachte, was er seinen Töchtern sagen wollte. So gewiß es war, daß er zur Ordnung seiner zerrütteten Verhältnisse Sergey's künftige Hülfe in Anspruch nehmen durfte, sobald dieser sein Schwiegersohn war, so unerläßlich war es, daß den Mädchen keine Ahnung aufsteigen dürfe, wie sehr es sich in dieser Angelegenheit um das Glück des

  1. müsste wohl heißen: „so weiß ich,“
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 330. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_330.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)