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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


bei der Gräfin entschuldigen. In Wahrheit aber saß Milinka am Schreibtisch und füllte ihr Tagebuch mit der Aufzeichnung des für sie Merkwürdigen, das sie an diesem Abend erlebt hatte. Seit sie sich in Petersburg befand, hatte sich ihre Neigung zum Vielschreiben noch gesteigert, was einigermaßen das Verdienst Derjenigen war, die ein schriftstellerisches Talent in ihr errathen haben wollten und ihr damit schmeichelten.

Das Gesicht der Gräfin, als sie Matrjona empfing, war Spannung und stumme Frage. Daß die von Léonide in ihr Vertrauen Gezogenen den Inhalt der Unterredung streng verschweigen würden, war so selbstverständlich, daß dafür ein Versprechen weder verlangt noch gegeben wurde. Matrjona glitt daher über den Abend bei der Fürstin mit nichtssagenden Worten hinweg, und um die Neugier der Frau von Tschatscherin von dem Gegenstande abzulenken, sprach sie von den Eindrücken, die sie durch das Leben in Petersburg überhaupt empfangen.

Schon seit einigen Tagen war sie sich einer Wendung ihres Gemüths bewußt geworden. Aus der ursprünglich so lebhaften und unbefangenen Hingebung an die Freuden und das Treiben der großen Gesellschaft war allmählich ein Gefühl der Enttäuschung hervorgegangen. Sie glaubte zuletzt, Luft gespeist und gemalten Wein getrunken zu haben. Gegen eine Empfindung von Leere und Nüchternheit hatte sie sich zu wehren, um in ihrer Seele nicht Raum dafür zu lassen. Sie hatte begonnen, sich nach Thätigkeit zu sehnen, nach dem stillen und regelmäßigen Walten ihres ländlichen Hauses. Was sie an diesem Abend bei Léonide erfahren, brachte ihr völlige Klarheit über die neue Lebensstimmung, die mit der kindlichen Freude am Weltleben, mit der sie ihren Aufenthalt in Petersburg begonnen hatte, in so großem Widerspruch stand.

Die Gräfin war darum auch im höchsten Grade erstaunt, als ihr Matrjona das Bekenntniß dieser Wandlung ablegte; die Gräfin war erstaunt, aber auch erfreut; denn sie dachte an ihren Neffen. Seiner Denkungsweise und seinem Lebensplan konnte nichts besser entsprechen, als die Abwendung von der Welt, und wenn Milinka schon von Anfang an, aber ohne ausgesprochenen Grund und gleichsam nur instinctmäßig, die ländliche Einsamkeit dem hauptstädtischen Getümmel vorzog, so mußte Matrjona's erst durch die Erfahrung herbeigeführte gleiche Weltanschauung für Sergey größern Werth haben, weil auf Erkenntniß und Urtheil beruhend.

Eine leise Anspielung der Gräfin, welche vortheilhafte Wirkung diese Wandlung im Gemüthe Matrjona's auf den Neffen üben werde, brachte das junge Mädchen in äußerste Bestürzung. Matrjona zitterte vor Scham und Entrüstung bei dem Gedanken, daß Sergey, wenn er ihr Gespräch mit seiner Tante erführe, eine ihm bereitete Concession oder etwa gar eine Aufforderung oder auch nur Anregung zur Wiederholung seiner Werbung darin erblicken könnte. Sie beschwor die Gräfin mit inbrünstigen Worten, die ihr eben eingestandene Wandlung vor aller Welt zu verschweigen.

„Beruhigen Sie sich, liebes Kind!“ sagte die alte Frau „ich wünsche lebhaft, daß entweder Sie oder Ihre Schwester sich entschließen mögen, Sergey's Hand anzunehmen, weil er sonst schwerlich zu einer Heirath überhaupt zu bringen wäre, allein ich werde mich persönlich niemals in die Verständigung einmischen, die zwischen den beiden Schwestern und ihm endlich stattfinden und einer Entscheidung vorhergehen muß.“

Die Gräfin zog sich hierauf in ihr Schlafgemach zurück, und Matrjona schloß die Augen nicht zum Schlummer, ohne sich zu sagen: „Niemals! niemals! Er hat um meine Schwester und mich zugleich geworben – das ist so gut, als wäre er ein Freier all der Millionen Mädchen, die auf dieser Erde leben. Ich werde mich niemals entschließen, eine von diesen Millionen, eine 'gleichviel welche' zu sein.“

Im Laufe des folgenden Tages erhielt Frau von Tschatscherin ein Billet Nikitine's. Er theilte ihr mit, daß er sie einige Tage nicht sehen werde, weil er sogleich nach Kronstadt abreisen müsse; er habe nichts dawider, wenn sie dächte, daß die Reise mit der Angelegenheit in Verbindung stände, die ihm, wie sie wisse, über Alles theuer, mit der „brennenden Wunde“, die endlich eine glückliche Heilung finden werde.

Die Gräfin las diese Zeilen kopfschüttelnd. Sie setzte von der jungen Fürstin nicht voraus, daß sie einen Mann wie Nikitine ernst nehmen könnte, und hatte bisher vielmehr vermuthet, die schöne Dame werde durch Widerstreben und Koketterie ihr Geschlecht an dem Frevler zu rächen suchen. Doch nahm sich die Gräfin nicht Zeit, lange darüber nachzudenken; das Wesen ihres Neffen hatte sich auffallend verändert, und dies neue Räthsel nahm ihre Aufmerksamkeit ausschließlich in Anspruch.

Sergey, dessen beständige milde Heiterkeit sonst nur den schärfsten Blicken der lange mit ihm Vertrauten gestattete, den darunter verborgenen Hang zur Melancholie zu gewahren, gab diese jetzt offen kund und, wie die Gräfin klagte, mit einer an ihm ungewohnten Rücksichtslosigkeit gegen seine Umgebung. Dieses Frauenurtheil bedeutete eigentlich nur, daß er nicht unterhaltend, nicht liebenswürdig, nicht Plauderer war, wie sonst.

Das Räthsel löste sich sehr einfach: die Liebe, die zum ersten Male mit ihrer ursprünglichsten Gewalt in ihm erwacht war, rief zugleich die bittersten Selbstvorwürfe wach. Immer hatte er in der tiefsten Heimlichkeit seiner Seele Matrjona bevorzugt, weil er aber in ihrem praktischen Wesen einen Widerspruch mit seiner Denkungsweise zu finden geglaubt, war sie ihm nicht theuer genug geworden, daß er nicht vielleicht lieber noch die Hand der ideal gesinnten Milinka angenommen hätte. Jetzt aber, nachdem er während des Aufenthaltes in Petersburg die ihm sympathischere äußere Erscheinung Matrjona's immer stärker auf sich hatte wirken lassen und endlich erkannt hatte, daß sie mit ihrer Einsicht für das unmittelbare Leben auch die Ehrfurcht vor Ideen und Idealen verband – jetzt erst klagte er sich an, sie durch seine Doppelwerbung verletzt und herabgesetzt zu haben, und hielt sich nicht mehr für würdig, nicht mehr für fähig, um sie allein zu werben.

Er war aber nicht der Mann, lange in Unklarheit auszuhalten und nicht lieber die schwerste Buße, als eine schwankende Unzufriedenheit mit sich selbst zu ertragen. Schon nach wenigen Tagen legte er der Geliebten sein Herz und den ganzen Entwickelungsgang seiner Gefühle für sie, seine Liebe, seine Reue und sein Verzagen offen dar.

„Und damit Sie nicht glauben, theure Matrjona,“ schloß er, „daß neben Ihnen noch irgend etwas Werth für mich hätte, selbst wenn es mir bis zu dem Augenblicke, da ich Sie liebte, der einzige Lebenswerth zu sein schien – ich habe die Lust und Freude nicht übersehen können, womit Sie am Stadtleben hängen, ich bin bereit für Ihren Besitz meine Einsamkeit auf dem Gute aufzugeben, unser Dasein ganz nach Ihrem Geschmack zu gestalten.“

„Dann blieben wir auf dem Lande,“ sagte Matrjona, „denn mein Herz hat sich von der Welt abgewendet.“

„Ist es möglich?“ rief er fast bestürzt; „hat ein Schmerz Sie dahin gebracht? Ist ein unglückliches, ein hoffnungsloses Gefühl in Ihnen erwacht?“

„Nein!“ erwiderte sie, „der Anblick der Welt und ihres Treibens genügte. Und wenn ein Schmerz dabei im Spiele war, so ist er jetzt dahin, da der Mann, der mir ihn zugefügt, ihn in diesem Augenblicke von mir genommen.“

Er wollte sie entzückt umschlingen, aber sie wehrte ihn ab:

„Noch ist nicht Alles gethan. Vergessen Sie nicht, daß auch Milinka gewissermaßen Ihre Braut ist, daß auch sie das Recht hat, die Hand nach Ihnen auszustrecken. Wir müssen erst ihr Herz prüfen, und wenn auch nur ein Schatten von Verstimmung es trübte, weil ihr die Entscheidung erlassen ist – so hätten Sie auch mich verloren.“

Diese Unterredung fand im Salon der Gräfin statt, nachdem die gewohnte Abendgesellschaft ihn verlassen hatte, und zwar an demselben Tage, an welcher Nikitine von Kronstadt zurückgekehrt war. Während die Liebenden sich verständigten, saß in einem Nebensalon Milinka in tiefem Gespräch mit einer ältlichen Frau, einer Mitarbeiterin belletristischer Zeitungen, der Milinka ihre ersten Federversuche zur Beurtheilung vorgelegt hatte. Zu gleicher Zeit aber hatte sich die Gräfin schon in ihr Boudoir zurückgezogen und vor dem Schirm ihren gewohnten Platz genommen, und auch Nikitine saß wieder an ihrer Seite.

„Ich erzähle Ihnen keine Fabel, Gräfin. Léonide wollte in Kronstadt, daß wir ein zur Abfahrt nach Amerika die Anker lichtendes Schiff bestiegen, augenblicklich, ohne Besinnen, mit Aufgebung aller Verhältnisse, sogar des Junggesellen-Diners, zu dem ich schon Einladungen verschickt hatte, kleine Nebensachen, wie des Ministers und meiner Carrière, gar nicht zu gedenken – und dies Alles, um niemals mehr wiederzukehren, um fortan unter der Bewachung eines Oheims, eines alten Negerfürsten oder dergleichen zu leben, mit nichts beschäftigt, als mit ewiger Liebe.“

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