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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


Kalter Schweiß schien ihm auf die Stirn zu treten; denn er trocknete sie mit seinem Taschentuch.

Er fuhr fort:

„Sie verließ mich, wie sie mir sagte, um mich niemals wiederzusehen – und ich verließ sie, wie ich verschwieg, um sie gewiß nicht mehr wiederzusehen. Denn sie ist offenbar verrückt, und auf eine noch schlimmere Art als Fürst Romalow. Ein würdiges Paar! Aber was wollen Sie, Gräfin? Ich bin trotzdem von der Geschichte zerschmettert, unglücklich, elend, trostlos. O die Frauen – ich will ihnen nicht mehr nahe kommen. Wissen Sie, theure Freundin, daß dies gerade die richtige Stimmung wäre, um meine Vorliebe für Ihre Milinka in Erwägung zu ziehen? Die Marotte des Mädchens, sich von der Welt zurückziehen zu wollen, kommt meiner gegenwärtigen Disposition entgegen.“

Die Gräfin lachte.

„Milinka wird heute noch bei mir erscheinen; sie hat mir etwas anzuvertrauen.“

„Benützen Sie die vertrauliche Stunde – ich bitte Sie – um ihr Herz zu erforschen,“ sagte Nikitine, indem er sich erhob; „ich habe mein Unglück noch lange nicht überwunden; ich werde es niemals überwinden, und ich bin jetzt todtschläfrig.“

Er hatte sich kaum entfernt, als Milinka eintrat. Sie war erregt, hochroth, und ohnehin leicht zur Ekstase geneigt, warf sie sich der Gräfin zu Füßen.

„Papa hat heute geschrieben, er will endlich unsere Heimkehr und unsere Entscheidung wegen Sergey Iwanowitsch. Retten Sie mich, theure Gräfin!“

„Ja, es zwingt Sie ja Niemand, meinen Neffen zu heirathen!“

„Das würde ich auch niemals thun, so sehr ich ihn schätze und achte, schon deshalb nicht, weil er sein Leben auf dem Lande verbringen will. Ich aber will Petersburg, will diese herrliche neue Welt mit ihren interessanten Begebenheiten, Charakteren und Stoffen nicht mehr verlassen. Ich habe die Einsamkeit en horreur genommen. Das ist es, wovor Sie mich retten sollen.“

Erstaunt erfuhr die Gräfin zum zweite Male, wie rasch, wenn auch psychologisch erklärlich, die Lebensanschauungen junger Herzen sich ändern. Ehe sie antworten konnte, bat Matrjona mit leisem Pochen, eintreten zu dürfen. Auch Sergey wollte seine Tante noch sehen. Die Gräfin theilte den Neuhinzugekommenen die Aeußerungen Milinka's mit.

„So viel ist gewiß, mein Sohn,“ sagte sie zu Sergey, „Du darfst Dir keine Hoffnungen auf die Hand dieses Mädchens machen; Milinka hat sich entschieden dagegen erklärt.“

Matrjona und Sergey sahen sich in die Augen. Die Gräfin fuhr fort:

„Ich wäre glücklich, Sie für immer bei mir zu behalten, Milinka. Wollen Sie als meine Gesellschafterin, als meine Freundin mit mir weiter leben? Sie sind plötzlich eine Gegnerin der Einsamkeit geworden – wollen Sie mir helfen, auch die meine zu verbannen?“

Milinka küßte ihre Hand, ihr Kleid und sank ihr, Freudenthränen weinend, zu Füßen.

Jetzt hielt es auch Sergey an der Zeit, sein Glück nicht länger zu verschweigen. Der Freudensturm Milinka's ging aus anderen Ursachen nun auch auf die Gräfin über. Sie umarmte und küßte Matrjona und nannte sie ihre zweite Tochter. Nie haben Glücklichere einen Tag mit größerer Freude auf die nächsten Tage beschlossen.

Die Hochzeit Sergey's und Matrjona's fand in Petersburg statt. Towaroff hatte gleich, nachdem Hesekiel Nazarus mit erfrorener Nase und beschädigten Beinen aus Moskau zurückgekehrt war, ihn für immer in sein Haus aufgenommen. Nachdem Towaroff die Lebensentscheidungen seiner Töchter erfahren, übergab er dem ehemaligen Sprachmeister die Verwaltung des fortan einsam bleibenden Herrenhauses, hoch erfreut, den Rest seines Lebens als lustiger Junggeselle in einer der großen Städte verbringen zu können.

Sergey hatte in seiner Häuslichkeit oft Gelegenheit zu sagen:

„Einst fragte ich mich: Martha oder Maria? In der Ehe aber kann nur ein Weib beglücken, das Martha und Maria zugleich ist.“




Blätter und Blüthen.

Beim Ausstopfer. (Mit Abbildung S. 361.) Die Jugend hat ihre Schmerzen und Sorgen so gut, wie die Welt der Erwachsenen, und wenn dem großen Menschen solch ein kindlicher Jammer zumeist höchst komisch vorkommt, er lastet darum doch mit derselben ernsthaften Schwere auf dem kindlichen Gemüth, wie ein großes Leid auf Jenem. Es ist eben alles nur relativ in der Welt, Wahrheit, Tugend, Schönheit – alles, und darunter auch der Begriff Unglück. Was eine souveraine Würdigung der Dinge mit einem Schnadahupfl abthut:

Fritze Stieglitze, der Vogel ist todt,
Er liegt auf dem Rücken und frißt gar kein Brod –

das kann ein Kindergemüth auf's Tiefste erschüttern, mehr selbst, als der Tod eines Familienmitgliedes. Jede Trennung wirkt naturgemäß nun so schmerzhafter, je innerlicher die Bande waren, welche sie zerriß, und es ist nichts so Unnatürliches, daß ein Kind sich innerlich fester an einen kleinen Spielcameraden aus der Thierwelt anschließt, als an einen seinem Innenleben fremd bleibenden Menschen. Man frage ein kleines Mädchen, was es lieber verschenken will, seine Lieblingspuppe oder einen größeren Bruder – selbst diese Lieblingspuppe wird ihr als das Unentbehrlichere erscheinen, eben weil dieselbe mit ihrem ganzen Denken und Fühlen tiefer verwachsen ist, und so offenbart die ungeschminkte Kindesnatur ein Naturgesetz, an welchem der Psychologe nicht achtlos vorbeigehen kann.

Das jugendliche Paar auf unserem Bildchen versank nicht in seinem Kummer. Es gilt eine monumentale That, und so erscheint es denn mit dem theuren verstorbenen Piepmatz beim Ausstopfer, etwa wie weiland eine ägyptische Familie in Trauer bei dem Mumienbesorger, in der Absicht, dem todten Liebling die letzte Ehre einer mit Werg ausgefüllten Unsterblichkeit zu verschaffen. Auf dem halb lächelnden Gesicht des würdigen Künstlers schwebt freilich, wie es scheint, die für den Erfolg des Besuches bedenkliche Frage: „Wer bezahlt's?“ Unserm Mitleid zuliebe wollen wir indeß hoffen, daß er's diesmal nicht so genau nimmt.




Blinden-Erziehungsanstalten in Deutschland. Auf unsere Anfrage in Nr. 14 dieses Jahrganges: „Wo bestehen in Deutschland, speciell im Staate Preußen, Schulen oder Lehranstalten für blinde oder halb erblindete Kinder vermögensloser Eltern?“ erhalten wir von dem Taubstummenlehrer Herrn W. Reuschert in Ratibor eine so erschöpfende Auskunft, daß wir sie unseren Lesern nicht vorenthalten dürfen. Sie lautet:

Blinden-Erziehungsanstalten bestehen in folgenden Orten Deutschlands: 1) Königsberg (provinzialständisch), Ostpreußen; 2) Neu-Torney bei Stettin (provinzialständisch), Pommern; 3) Bromberg (provinzialständisch), Posen; 4) Breslau (Vereinsanstalt), Schlesien; 5) Kraschnitz bei Militsch (deutsches Samariterordensstift), Schlesien; 6) Steglitz bei Berlin (königlich), Brandenburg; 7) Berlin (städtisch); 8) Barby (provinzialständisch), Pr. Sachsen; 9) Schleswig, Schleswig-Holstein; 10) Kiel (provinzialständisch), Schleswig-Holstein; 11) Hannover (provinzialständisch); dazu die Blindenvoranstalt zu Rössing bei Nordstemmen), Pr. Hannover; 12) Soest (provinzialständisch), Provinz Westfalen; 13) Paderborn (provinzialständisch, katholisch), Westfalen; 14) Düren (provinzialständisch), Rheinprovinz; 15) Frankfurt am Main (Privatanstalt), Provinz Hessen-Nassau; 16) Wiesbaden, Provinz Hessen-Nassau; 17) Hamburg; 18) Neukloster bei Wismar (großherzoglich), Mecklenburg-Schwerin; 19) Weimar (großherzoglich); 20) Dresden (königlich), 21) Leipzig (Privatanstalt von Biener), 22) Hubertusburg (königliche Blindenvorschule), 23) Moritzburg bei Dresden (königliche Blindenhülfsanstalt und Vorschule), Königreich Sachsen; 24) München (königlich), 25) Würzburg (Kreisblindenanstalt für Unterfranken und Aschaffenburg), 26) Nürnberg (protestantische Privatanstalt), Baiern; 27) Stuttgart (Protectorat: Königin Olga), 28) Gmünd (Privatanstalt), 29) Lustnau bei Tübingen, Württemberg; 30) Friedberg (großherzogliche Anstalt), Hessen; 31) Ilvesheim bei Friedrichsfelde (großherzoglich), Baden; 32) Illzach bei Mühlhausen im Elsaß (Privatanstalt).

Im Anschluß hieran erlaube ich mir noch mitzutheilen, daß in allen Staats- respective provinzialständischen Anstalten die meisten Zöglinge Freistellen besitzen. Die Freistellen werden vom Landes-Directorat vergeben an solche Zöglinge, deren Eltern unbemittelt sind; ob ein Gleiches in den Privatanstalten der Fall ist, kann ich jedoch nicht angeben.“



Kleiner Briefkasten.

R. Sch. in L. Ihr Einwurf ruft uns die Klage in's Gedächtniß zurück, welche jüngst in der „Allg. Ztg.“ (Nr. 128) über die in der Rechtschreibung der deutschen geographischen Namen herrschende Verwirrung Ludwig Steub angestimmt hat. Dieselbe ist leider nur zu berechtigt, und Niemand hat darunter öfter zu leiden, als die Redactionen von Zeitschriften. Es darf ein Manuscript nur möglichst unleserlich sein und der Corrector es mit lautverwandten Vocalen zu thun haben, wie ö, e und i, so ist ein Unglück fertig und steht eine Semmeringer oder Sömmeringer (Beides ist richtig) statt einer Simmeringer Heide da, die auch noch in eine „Weide“ verwandelt sein kann. Uebrigens dient, wie uns von anderer Seite mitgetheilt wurde, diese Heide bei dem zu den Vororten Wiens gehörigen Dorfe Simmering längst nur als Artillerie-Exercirplatz, während die Wiener Wettrennen auf einer großen Wiese zwischen dem Donaustrom und dem Donaucanale, der Freudenau, abgehalten werden. So dankt man einem leidigen Druckfehler eine schätzbare Belehrung.



Verantwortlicher Redacteur Dr. Ernst Ziel in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 364. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_364.jpg&oldid=- (Version vom 2.10.2020)