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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


Diener, anstatt die Zügel zu fassen, klammert sich an den Sitz fest; die Gräfin ruft um Hülfe, und so geht es geradewegs dem Weiher zu, der so recht hübsch bequem zum Ertrinken unten am Berge liegt.

Das Fräulein hörte in athemloser Erwartung zu. „Schrecklich! War denn keine Hülfe da?“

„Nun ich war da,“ sagte Rüstow trocken. „Und ich kann zur Noth auch einmal den Rettungsengel spielen, wenn das auch nicht gerade meine gewöhnliche Beschäftigung ist. Langes Besinnen galt hier nicht und das Nachlaufen hätte ich bleiben lassen sollen. Zum Glück hielten wir gerade an dem steilen Fußwege, der die gewundene Fahrstraße um die Hälfte abkürzt. Wie ich hinunter gekommen bin, weiß ich nicht – genug, ich war unten, gleichzeitig mit dem Wagen, und brachte ihn dicht vor dem Weiher zum Stehen.“

„Gott sei Dank!“ rief das Fräulein aufathmend.

„Ja, das sagte ich auch, aber erst später, vorläufig war ich wüthend; denn ich stand da mit der ohnmächtigen Gräfin im Arme, und der Diener war vor Schreck und Angst fast ebenso besinnungslos, wie seine Herrin. Ein paar wilde Pferde kann ich zur Noth bändigen, aber mit ohnmächtigen Damen weiß ich nichts anzufangen. Jetzt aber flog auch Hedwig den Fußweg herab, und dann kam Anton und dann der Kutscher, hinkend zwar und mit einer tüchtigen Beule an der Stirn, aber das geschah ihm recht – er hatte durch sein unsinniges Fahren das ganze Unglück verschuldet.“

„Und die Gräfin?“ warf die Zuhörerin ein.

„Nun, die Gräfin war zum Glück unverletzt. Wir brachten sie in das nahegelegene Haus des Feldhüters, wo sie sich denn auch einigermaßen erholte. Von Fortkommen aber war vorläufig keine Rede. Die liebenswürdige Rappen hatten sich neben dem Durchgehen noch das Specialvergnügen gemacht, die Deichsel ihres Wagens zu zerbrechen und den unserigen beim Vorbeijagen so zu beschädigen, daß er nicht von der Stelle konnte. Ich schickte also den Diener nach Ettersberg, um ein anderes Fuhrwerk zu holen, den Anton und den Feldhüter nach der Unglücksstätte, um womöglich den Wagen herab zu schaffen, und den Kutscher zu seinen schwarzen Ungethümen, die er denn auch glücklich nach Hause gebracht hat. Wir drei blieben allein – es war ein recht gemüthliches Zusammensein.“

„Ich will doch nicht hoffen, Erich, daß Sie selbst da grob gewesen sind,“ sagte das Fräulein in vorwurfsvollem Tone.

„Nein, das ging leider nicht,“ versicherte Rüstow mit aufrichtigem Bedauern. „Die Gräfin war noch immer todtenblaß und halb ohnmächtig. Ich hatte auch einen kleinen Denkzettel erhalten, eine bloße Schramme am Arme, aber sie blutete doch, und das arme Kind, die Hedwig, lief angstvoll von Einem zum Anderen und wußte nicht, wem sie zuerst helfen sollte – in solcher Situation kommt die Höflichkeit ganz von selbst. Wir waren denn auch ungeheuer höflich mit einander und ungeheuer besorgt um einander, aber ich hoffte doch, die Sache würde mit einem schönen Danke und einer Empfehlung abgemacht sein, und wartete sehnlich auf den Wagen von Ettersberg. Statt dessen kam Graf Edmund angestürzt. Er hatte nach dem confusen Berichte des Dieners geglaubt, seine Mutter sei verletzt oder halb todt, und da hatte er gar nicht auf das Anspannen gewartet, sondern sich auf das erste beste Pferd geworfen und war hergejagt, als gelte es sein eigenes Leben. Ich hätte dem leichtsinnigen Springinsfeld gar nicht so viel Herz zugetraut. Er stürzte wie ein Verzweifelter in das Haus und in die Arme seiner Mutter, und im ersten Augenblick sah und hörte er überhaupt nichts weiter als sie allein. Das hat mir bei alledem gefallen, sehr gefallen. Er scheint die Mutter leidenschaftlich zu lieben.

Die Stimme des Erzählenden hatte einen weichen Klang angenommen. Unglücklicher Weise ließ sich die Cousine beikommen, ihr Taschentuch hervorzuziehen und an die Augen zu drücken, was den Oberamtsrath sofort in die entgegengesetzte Stimmung warf.

„Ich glaube gar, Sie wollen weinen!“ fuhr er auf. „Die Rührung verbitte ich mir; wir haben genug davon gehabt. Jetzt kam es natürlich“ – nahm er den Faden seiner Erzählung auf – „zu Fragen und Erklärungen, bei denen ich trotz all meines Sträubens als Retter und Held figurirte. Die Gräfin floß über von Dankbarkeit, und urplötzlich fällt mir dieser Edmund um den Hals und behauptet, ich hätte seiner Mutter das Leben gerettet, und er verdanke das Niemandem auf der Welt lieber, als dem Vater seiner Hedwig.“ Hier wurden die Schritte Rüstow's immer größer und sein Antlitz immer grimmiger. „Ja, das sagte er ganz ungenirt: dem Vater seiner Hedwig! Ich will mich losmachen – da faßt mich Hedwig von der anderen Seite und erzählt mir genau dieselbe Geschichte von der Mutter ihres Edmund; jetzt tritt auch noch die Gräfin auf mich zu, bietet mir die Hand und – nun, das Uebrige können Sie sich denken. Wie gesagt, wir waren auf einmal mitten in der allgemeinen Umarmung und Versöhnung und kamen erst wieder zur Besinnung, als der Wagen, der dem Grafen nachgekommen war, draußen vorfuhr. Da es sich nun ergab, daß der unserige vorläufig nicht zu brauchen war, so blieb nichts übrig, als daß wir sämmtlich einstiegen und zunächst nach Ettersberg fuhren. Schließlich ist Hedwig dort geblieben bei der Gräfin, die wirklich recht elend und angegriffen war von dem Schrecken, und ich – ich sitze hier mutterseelenallein in Brunneck ohne irgend einen Menschen.“

„Bitte, ich bin ein Mensch,“ sagte Fräulein Lina etwas pikirt. „Rechnen Sie mich etwa nicht dazu?“

Rüstow brummte irgend etwas Unverständliches; in diesem Augenblicke trat der Diener ein und meldete den Herrn Pfarrer von Brunneck, der mit dem Gutsherrn befreudet war.

„Da habe wir es,“ rief dieser verzweiflungsvoll. „Der Pastor kommt sicher, um zu der Verlobung zu gratuliren. Die Geschichte ist ja schon in der ganzen Umgegend bekannt. Seit heute Morgen darf ich mich nicht aus der Thür wagen, ohne daß alle Welt mich anlächelt und mir Andeutungen über das 'erfreuliche Ereignis' macht. Aber das halte ich nicht aus. Ich muß mich erst fassen; ich muß mich erst daran gewöhnen. Lina, thun Sie mir den Gefallen: empfangen Sie den geistlichen Herrn; denn ich werfe in meiner jetzigen Stimmung alle Gratulationsbesuche zum Fenster hinaus.“

Damit lief der Oberamtsrath zu der einen Thür hinaus, während der Herr Pfarrer durch die andere eintrat und dem Fräulein nun in der That feierlich und salbungsvoll zu dem „erfreulichen Ereigniß“ gratulirte.




Der Tag, an welchem der junge Majoratsherr von Ettersberg seine Mündigkeit erreichte, war herangekommen und wurde mit einer glänzenden Festlichkeit begangen. Die Gräfin hielt gerade diesen Zeitpunkt für geeignet, all die Pracht zu entfalten, deren Ettersberg nur fähig war, und das geschah denn auch im vollsten Maße. Die weiten, im hellsten Lichtglanz strahlenden Räume des Schlosses sahen an diesem Tage eine äußerst zahlreiche Gesellschaft, für welche das Fest neben seinem eigentlichen Anlaß noch ein besonderes Interesse hatte. Das junge Brautpaar, dessen Verlobung vor einigen Wochen in Brunneck im Familienkreise gefeiert worden war, erschien zum ersten Male in einem größeren gesellschaftlichen Cirkel und nahm dessen Glückwünsche entgegen.

Die Verlobung selbst hatte in der Umgegend begreiflicher Weise viel Aufsehen erregt, aber mit jener Thatsache erfuhr man auch zugleich, was sie herbeigeführt hatte, und das erklärte Manches, das sonst unbegreiflich erschienen wäre. Es war erklärlich, daß die Gräfin dem Manne, dessen muthiger Entschlossenheit sie ihr Leben verdankte, die Hand zur Versöhnung bot und ihre aristokratischen Bedenken gegen eine Verbindung fallen ließ, die sie, wie es hieß, im Anfange sehr heftig bekämpft hatte. Es war ebenso begreiflich, daß der Oberamtsrath nach jener Lebensrettung seinen Groll gegen die Ettersberg'sche Familie nicht länger festhielt, um so mehr, als der Proceß um Dornau jetzt zu seinen Gunsten entschieden und seinem Starrsinn damit eine Genugthuung bereitet worden war. Im Ganzen wurde die Wahl des Grafen Edmund mehr beneidet als angefochten, besonders von seinen jüngeren Standesgenossen. Die Erbin von Brunneck und Dornau war keine unangemessene Partie, selbst für einen Grafen Ettersberg. Es wurden oft ähnliche Verbindungen geschlossen, bei denen keine so romantische Neigung vorwaltete, bei denen die reiche Erbin nicht zugleich auch ein schönes und liebenswürdiges Mädchen war. Wie man aber auch die Sache beurtheilen mochte, das Brautpaar selbst bekam natürlich nur Liebenswürdigkeiten und Artigkeiten zu hören.

(Fortsetzung folgt.)
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 384. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_384.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)